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Pharmakovigilanz
Apotheken könnten mehr UAW melden
Im Jahr 2009 gingen beim BfArM insgesamt fast 20.100 Meldungen über unerwünschte Arzneimittelwirkungen ein, davon der weitaus überwiegende Teil (etwa 83%) aus der pharmazeutischen Industrie. Die Pharmaunternehmen sind dazu verpflichtet, jede Mitteilung so ausführlich wie möglich zu dokumentieren, für die Pharmakovigilanz-Verantwortlichen ein routinemäßiger Vorgang. Die Dokumentationspflicht ist aus Hagemanns Sicht ein Grund dafür, warum UAW-Meldungen aus der Industrie meist eine erheblich bessere Qualität haben als diejenigen, die das BfArM direkt von Heilberuflern wie Ärzten und Apothekern erreichen.
Bedenken von Pharmakritikern, dass unliebsame Nebenwirkungen beschönigt oder gar unter den Teppich gekehrt werden könnten, teilt Hagemann nicht. Nach den Arzneimittelskandalen in früheren Jahren ist es aus seiner Sicht vielmehr ebenso im Sinne der Behörden wie auch der Unternehmen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen detailliert zu dokumentieren und damit gegebenenfalls mit Maßnahmen zur Risikoabwehr frühzeitig intervenieren zu können.
Die meisten Meldungen, die das BfArM von der Arzneimittelkommission der deutschen Apotheker (AMK) und von den Apotheken direkt erreichen, befassen sich laut Hagemanns Auskunft mit Qualitätsmängeln von Fertigarzneimitteln. Nur wenige der insgesamt knapp 1500 Meldungen im Jahr 2009 (siehe Grafik) beschrieben unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Zwar ist die Anzahl der Berichte, die in demselben Zeitraum durch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) übermittelt wurde, mit annähernd 1800 nur unwesentlich höher, allerdings ist zu beachten, dass fast alle Industriemeldungen letztlich ebenfalls von Ärzten stammen.
Apotheker in anderen Ländern melden öfter
Im europäischen Vergleich ist der Industrieanteil der UAW-Meldungen in Deutschland einmalig hoch, was Hagemann angesichts der Qualität dieser Meldungen jedoch nicht unbedingt als negativ bewertet. Einen wichtigen Grund für die signifikant höheren Anteile von UAW-Meldungen aus der Apotheker- und Ärzteschaft in anderen europäischen Ländern sieht er in der landespezifischen Meldekultur. In den Niederlanden beispielsweise wird das Pharmakovigilanzsystem hauptsächlich durch die Apotheker gestützt, während in Deutschland ein allgemeines Misstrauen gegenüber Behörden zu einer eher zurückhaltenden Meldebereitschaft der Heilberufe an das BfArM führt, wie Hagemann meint.
Qualität vor Quantität
Hagemanns Wunschvorstellung ist jedoch keineswegs, eine bestimmte Anzahl von UAW-Meldungen zu erreichen. "Tonnen-Ideologie ist nicht das, was wir brauchen", meint der Experte für Arzneimittelsicherheit. Er bemängelt vielmehr vor allem die allgemein geringe Qualität der UAW-Meldungen aus der Apothekerschaft. Dabei kann Hagemann durchaus nachvollziehen, dass die Patienten beobachtete Nebenwirkungen möglicherweise eher an Ärzte als an Apotheker herantragen und dass diese zudem lediglich einen begrenzten Einblick in die Krankengeschichte der Patienten haben.
So viel wie möglich nachfragen
Allerdings, so hofft Hagemann, müsste sich die Qualität der Berichte aus Apotheken trotzdem noch erheblich verbessern lassen. Möglich sei dies vor allem durch gezieltes Erfragen der notwendigen Detailinformationen. Bislang wird offenbar meist nur das dokumentiert, was der Patient von sich aus berichtet hat, und das Bild ist lückenhaft. "Über den Tresen" sollten solche Gespräche aber auf gar keinen Fall geführt werden, sondern in einem abgetrennten Beratungsbereich, der eine gewisse Diskretion gewährleistet. Natürlich hat ein Patient auch das Recht, keine weiteren Auskünfte zu erteilen. Gleichwohl appelliert Hagemann an die Apotheker, die betroffenen Patienten soweit als möglich hierzu zu ermutigen, auch mit dem Hinweis darauf, dass die frühzeitige und nachhaltige Aufklärung der Anwendungsrisiken eines Arzneimittels über die Meldung an die Behörden auch für andere Patienten sehr hilfreich ist. Gegebenenfalls sollten fehlende Informationen auch von den behandelnden Ärzten erfragt werden, wozu der Patient allerdings sein Einverständnis erklären muss.
Vier Minimalkriterien für UAW-Meldungen
Damit die Arzneimittelkommission, das pharmazeutische Unternehmen oder die Behörden einen Verdachtsfall beurteilen können, müssen folgende Minimalkriterien für eine Meldung eingehalten werden:
1. Das Arzneimittel muss genannt werden! Entweder in Form des Wirkstoffs, besser noch in Form des Handelsnamens (einschließlich der Zusätze wie "comp" oder "forte").
2. Die beobachteten Symptome müssen beschrieben werden. Wie äußerte sich die mutmaßliche unerwünschte Arzneimittelwirkung?
3. Der Patient muss identifizierbar sein, wobei eine der folgenden Angaben ausreichend ist: Initialen, Geburtsdatum, Alter, Geschlecht, Patientennummer. So sollen Doppelmeldungen erkannt und vermieden werden. Ein vollständiger Name oder eine Adresse sind nicht notwendig.
4. Die Meldequelle muss verifizierbar sein. Dies ist wichtig, um Kontakt z. B. mit dem Arzt aufnehmen zu können oder um "gefälschte" Berichte identifizieren zu können
Diese vier Minimalkriterien, die die Apotheken eigentlich immer erfüllen können müssten, sind für die Auswertung durch die Behörden jedoch nur als unterste Schwelle zu betrachten. Zusätzlich sollten möglichst die folgenden Faktoren, die für die Fallbeurteilung wichtig sind, aktiv nachgefragt und dokumentiert werden:
Dosierung und Dauer der Arzneimittelanwendung,
Begleitmedikation,
Erkrankungen,
Auffälligkeiten,
Alter und Geschlecht
Welche UAW-Meldungen sind von besonderem Interesse?
Von größter Bedeutung sind Meldungen über schwerwiegende oder unerwartete UAW sowie solche, die mit neuartigen Arzneimitteln in Zusammenhang stehen. Nebenwirkungen wie auftretende Blutungen nach ASS-Gabe oder durch ACE-Hemmer bedingter Husten sind demgegenüber hinlänglich bekannt und weitere Berichte stellen daher laut Hagemann – außer einer möglichen Verschiebung bei ihrer Häufigkeit – nicht unbedingt einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn für das BfArM dar. Besonders hilfreich ist die Unterstützung der Apotheker bei der Detektion von Nebenwirkungen im Selbstmedikationsbereich wie auch im Bereich Arzneimittelmissbrauch oder -abhängigkeit. Zudem könnten die Apotheken erheblich dazu beitragen, die Patientenwahrnehmung hinsichtlich unerwünschter Arzneimittelwirkungen und deren Auswirkungen auf die Lebensqualität durch gezielte Aufklärung zu verbessern.
Übermittlung der Daten an das BfArM
Den kürzlich überarbeiteten Meldebogen der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (www.abda-amk.de), der die Dokumentation zusätzlicher Informationen ermöglicht, begrüßt Hagemann außerordentlich. Er kritisiert allerdings die häufig schlechte Lesbarkeit handschriftlich ausgefüllter Bögen und bittet daher dringend darum, den elektronischen Meldebogen des BfArM (www.bfarm.de) zu verwenden.
Warum nationale UAW-Meldungen wichtig sind
Hagemann hält eine gefestigte Meldekultur aus dem Inland für unabdingbar, um in Deutschland sinnvoll Pharmakovigilanz zu betreiben. Seiner Erfahrung nach reichen hierfür Informationen über Nebenwirkungen im europäischen Ausland, so wie sie vielfach von den Pharmaunternehmen berichtet werden, allein keineswegs aus. Hagemann begründet dies vor allem mit den großen Systemunterschieden sowie der länderspezifischen Verfügbarkeit und Anwendungshäufigkeit von Arzneimitteln. So gibt es in einigen EU-Mitgliedstaaten Arzneimittel, die in Deutschland nicht zugelassen sind, und umgekehrt. Zum Beispiel kennen viele andere Länder einen so breit gefächerten Phytopharmakamarkt wie in Deutschland überhaupt nicht. Gerade deshalb ist die Meldung von UAW-Verdachtsfällen aus Deutschland so besonders bedeutsam. Von einer kompletten Zentralisierung der Pharmakovigilanz auf EU-Ebene, wie sie von manchen Europapolitikern befürwortet wird, hält Hagemann vor diesem Hintergrund nicht viel. Er plädiert vielmehr für den Erhalt der Kompetenz der nationalen Arzneimittelbehörden auf diesem Gebiet. Die ohnehin schon hohe Schwelle, UAW-Verdachtsfälle zu melden, würde vor allem für Heilberufler mit geringen Englischkenntnissen zusätzlich erhöht, wenn sie plötzlich etwa an die zuständige Behörde in London melden müssten.
Neue Entwicklung beim Consumer Reporting
Schon immer konnten sich Patienten direkt an das BfArM wenden, wenn sie über eine unerwünschte Arzneimittelwirkung berichten wollten. Dies geschah in der Regel in schriftlicher Form. Seit April 2009 steht den Patienten oder Verbrauchern hierfür auch eine elektronische Meldemöglichkeit per Internet zur Verfügung. Sie wurde vornehmlich entwickelt, um das Monitoring in Pandemiesituationen zu verbessern. Der elektronische Meldebogen ist für jeden zugänglich und bietet so einen besseren Ansatz für das Consumer Reporting, auch wenn die Meldungen nicht anonym abgesetzt werden können, wie es in einigen anderen EU Ländern möglich ist. Der Grund hierfür liegt in der Notwendigkeit einer Qualitätssicherung des Meldesystems. Es muss möglich sein, den Wahrheitsgehalt einer Meldung zu überprüfen. Nichtsdestotrotz behandelt das BfArM alle Nebenwirkungsberichte streng vertraulich. Um einen mutwilligen Missbrauch des Systems zu verhindern, hat die Behörde bisher auf eine intensive Bewerbung dieses Instrumentes in der Öffentlichkeit verzichtet. Im ersten Jahr sind laut Hagemann erst rund 100 Patientenmeldungen eingegangen, die Anzahl ist aber leicht steigend.
Vorausschauende Pharmakovigilanz mit RMP
Als weitere Neuerung auf dem Gebiet der Pharmakovigilanz in den letzten Jahren führte er den sogenannten Risiko-Management-Plan (RMP) an, der als Bindeglied zwischen der Zulassung eines Arzneimitteln und der Nachmarktbeobachtung, das heißt der Pharmakovigilanz, dienen soll. Aus den für das Zulassungsverfahren durchgeführten klinischen Studien werden nach Begutachtung durch unabhängige Experten mögliche Risiken spezifiziert, die noch nicht hinreichend abgeklärt sind. Diese werden von dem pharmazeutischen Unternehmen wiederum in einem Risiko-Management-Plan erfasst, in dem dargelegt wird, wie und in welchem zeitlichen Rahmen die spezifizierten Risiken in der Folge weiter abgeklärt und überwacht werden sollen. Mögliche Maßnahmen wären zum Beispiel die Durchführung weiterer klinischer Studien mit einer größeren Studienpopulation oder auch die Erstellung von Aufklärungsmaterialien für Heilberufler oder Patienten. Derzeit ist ein Risiko-Management-Plan in der Regel nur für die Zulassung neuer Substanzen erforderlich, er kann allerdings auch zu jedem späteren Zeitpunkt angeordnet werden. Im Moment befinden sich diesbezüglich alle Beteiligten, das heißt sowohl die Behörden als auch die Pharmaunternehmen, noch in einem kontinuierlichen Lernprozess, aber, so konstatierte Hagemann abschließend, bewährt hat sich das neue Instrument zweifellos bereits.
Autorin
Anne Paschke, Lutterothstr. 65a, 20255 Hamburg
Im Auftrag des Landesinstituts für Gesundheit und Arbeit des Landes Nordrhein-Westfalen, Ulenbergstr. 127 – 131, 40225 Düsseldorf, www.liga.nrw.de
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