Interpharm 2012

Priscus-Liste versus Forta-Klassifikation

Wie die Arzneimitteltherapie im Alter sicherer werden kann

Heute schon benötigen die über 65-Jährigen 80% der Medikamente. Ihr Anteil wird steigen, doch die Evidenz für den Einsatz der Medikamente in dieser Altersgruppe ist schlecht. Mit Listen wie der Priscus-Liste und der Forta-Klassifikation will man die Therapie sicherer machen. Prof. Dr. Petra Thürmann, Wuppertal, federführend an der Priscus-Liste beteiligt, und Prof. Dr. Martin Wehling, Mannheim, der die Forta-Klassifikation mit entwickelt hat, diskutierten unter der Moderation von DAZ-Herausgeber Dr. Klaus G. Brauer, welchen Beitrag solche Listen leisten können.
Prof. Dr. Petra Thürmann hat die Priscus-Liste mit entwickelt. Diese umfasst 83 Arzneistoffe, die als inadäquat für alte Menschen eingestuft und nicht verordnet werden sollten. Foto: DAZ/Darren Jacklin

Schon 1991 war von dem amerikanischen Geriater Mark. H. Beers eine Liste von potenziell inadäquaten Arzneimitteln für Ältere erstellt worden. Eine Adaptation dieser Liste auf deutsche Verhältnisse ist die Priscus-Liste, die nach dem sogenannten Delphi-Verfahren entwickelt wurde. Auf Basis einer Literaturrecherche wurden 131 Arzneistoffe identifiziert, die möglicherweise für ältere Menschen problematisch sind. Diese Arzneistoffe wurden dann von Ärzten und Apothekern bewertet. Unter anderem waren daran Fachgesellschaften, die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und die Arzneimittelkommission der deutschen Apotheker beteiligt. 83 dieser Wirkstoffe wurden letztendlich als inadäquat eingestuft und fanden Eingang in die Priscus-Liste 2010, die neben den inadäquaten Arzneistoffen auch Alternativen aufzeigt. Allerdings hat diese Form der Bewertung (Eminenz statt Evidenz) Schwachstellen, manch ein Arzneistoff landete ganz knapp nicht auf der Liste. Für Thürmann bietet die Priscus-Liste daher auch lediglich eine Entscheidungshilfe in Einzelfällen und ist nur der Anfang eines langen Weges für eine bessere Arzneimittelversorgung von Senioren.


Prof. Dr. Martin Wehling ist der Meinung, dass es sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig an Arzneimitteltherapie gibt. Foto: DAZ/Darren Jacklin

Evidenz-basierte Therapie – keine Option im Alter?

Ein großes Problem stellt die Polymedikation im Alter dar. Doch warum erhalten ältere Patienten so viele Medikamente? Für Prof. Dr. Martin Wehle bietet die Leitlinienadhärenz der Ärzte einen plausiblen Erklärungsansatz: Jede Leitlinie empfiehlt etwa 3,5 Arzneimittel, Patienten über 80 Jahre haben im Schnitt drei diagnostizierte Erkrankungen, das mache mindestens drei mal 3,5 Arzneimittel, so dass eine Polymedikation mit etwa zehn Arzneimitteln nicht verwunderlich ist. Allerdings sind die Leitlinien nicht für alte Patienten entwickelt worden. Mit Prof. Dr. Petra Thürmann war er sich einig, dass die Evidenz für die Arzneimitteltherapie bei geriatrischen Patienten sehr schlecht ist, da die Arzneistoffe in der Regel nicht an alten Menschen untersucht worden seien. Zwar gibt es vonseiten der EU Bestrebungen, die Situation zu verbessern, doch nach derzeitigen Vorgaben müssen bei Neuzulassungen nur 100 Patienten über 65 Jahre in klinischen Studien vertreten sein und das auch nur dann, wenn das Arzneimittel möglicherweise im Alter eingesetzt werden könnte. Leitlinien für die Arzneimitteltherapie alter Menschen zu entwickeln, ist nach Ansicht Wehling allerdings kaum möglich, weil die sehr alten Patienten mit ihren Erkrankungen zu verschieden sind, man müsste unendlich viele Studienarme einrichten, um zu einer korrekten Evidenzbildung zu gelangen. Für Wehling ist klar, das Konzept der Evidenz-basierten Therapie eignet sich nicht für die Therapie alter Menschen. Provokativ fragte er: Wer schützt Ärzte und Patienten vor Leitlinien? Da man also nicht nach einer Kochbuchmedizin vorgehen könne, sind andere Strategien gefragt. Ob die 1991 von dem amerikanischen Geriater Mark H. Beers entwickelte Liste von Arzneimitteln, die alte Menschen nicht erhalten sollten, wirklich hilft, ist für Wehling nicht erwiesen. Sie sei zwar ein sehr wichtiges Mittel, doch man habe in der älteren Generation nicht nur potenzielle inadäquate Medikationen (PIMs), sondern auch eine Nichtbehandlung gut im Alter zu behandelnder Erkrankungen. Daraus leitete Wehling ab, dass es sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig an Arzneimitteltherapie gibt. Deshalb hat Wehling eine neuartige Bewertung von Arzneimitteln für das Alter mitentwickelt, die sogenannte FORTA-Klassifikation (Fit for the age). Hier werden die Arzneimittel in die Kategorien A, B, C, D eingeteilt: A = unbedingt geben, B = in der Regel geben, C = nur ausnahmsweise geben, D = unbedingt vermeiden. Damit findet sich in Kategorie D eine Negativliste wieder.

Eine rege Diskussion um die optimale Arzneimitteltherapie im Alter fand unter der Moderation von Dr. Klaus G. Brauer (links) statt. Einig war man sich darin, dass die Arzneimitteltherapie älterer Menschen individualisiert werden muss.
Foto: DAZ/Darren Jacklin

Regeln für sichere Therapie im Alter

Angesprochen auf die Unterschiede zwischen Priscus-Liste und Forta-Klassifikation erläuterte Thürmann, dass man sich mit der Priscus-Liste quasi nur um den Bereich D der Forta-Klassifikation gekümmert habe, einfach, um möglichst Schaden zu verhindern und zunächst einmal Aufmerksamkeit für das Problem zu erregen. Exemplarisch griff Brauer NSAIDs heraus, bei denen vor allem ältere und weniger gebräuchliche Wirkstoffe wie beispielsweise Indometacin oder Meloxicam in der Priscus-Liste zu finden sind, nicht dagegen beispielsweise Diclofenac, das weder in der Negativliste noch in der Austauschliste geführt wird. Dazu erläuterte Thürmann, dass es auch noch eine sogenannte fragliche PIM-Liste mit 48 Wirkstoffen gebe, zu denen die Experten keine eindeutige Entscheidung treffen konnten. Hier sei auch Diclofenac zu finden. Bei der Bewertung der Arzneistoffe spielte die Leitlinienorientierung eine große Rolle, das ist für Wehling das Grundproblem der Priscus-Liste. Im Alter könne man keine Therapie auf Basis von Leitlinien machen, man müsse individualisieren. Es gebe aber einfache Regeln, die eine sichere Therapie im Alter ermöglichen. So komme ein Landarzt bei 80% seiner Diagnosen mit 20 Arzneimitteln aus, deren Probleme er kennen würde. Etwa 25% aller Nebenwirkungen gingen auf die Nichtbeachtung der Nierenfunktion zurück, so dass hier dringender Handlungsbedarf besteht. ZNS-wirksame Substanzen sollten nach Möglichkeit gemieden und die Therapieziele klar gesetzt werden. Prinzipiell gelte: "start low, go slow".

Doch alte Menschen erhalten nicht nur zu viele Arzneimittel, auch die Untertherapie stellt ein Problem dar. Um dieses Problem richtig einzuschätzen, fehlen Thürmann klare Definitionen und Aussagen dazu was beispielsweise eine behandlungsbedürftige Schlafstörung im Alter ist und wie man diese behandelt. In der Behandlung der Altersdepression wollte auch Wehling keine Untertherapie sehen, hier gebe es eine Übertherapie mit C-Substanzen. Für ihn ist die Altersdepression ein Beispiel dafür, dass nicht jede Alterserkrankung auch behandelbar ist.

Wenn man sich aber für eine Medikation entschieden habe, von der man überzeugt ist, so Wehling, müsse man diese konsequent umsetzen und Compliance-stützende Maßnahmen ergreifen. Angesprochen auf die Rolle des Apothekers in der Verbesserung der Therapie, plädierte Thürmann dafür, die Expertisen im Gesundheitssystem, die vorhanden sind, besser zu nutzen. Wehling war es ein Anliegen, auf die Kompetenz der klinischen Pharmazeuten hinzuweisen, denen schon in kurzer Zeit bei Durchsicht einer Polymedikationsliste ganz viele Dinge auffallen würden. Das würde sicher auch im ambulanten Bereich eine Hilfe sein, doch hier müssen noch Wege zur Umsetzung gefunden werden.


du



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DAZ 2012, Nr. 12, S. 80

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