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Wirtschaft
Kleine und große Datenrevolutionen
Da reibt sich manch einer die Augen: Wurde am Wohnort des Autors, der lebendigen Studentenhochburg Tübingen, unlängst noch der 90.000ste Einwohner begrüßt, so sollen es jetzt nach der jüngsten Erhebung (eben des Zensus 2011, basierend auf einer Befragung von etwa 10 Prozent der Haushalte) nur noch etwa 82.500 Glückliche sein – beachtliche 7500 weniger. Man könnte auch sagen: Das ist die satte Existenzgrundlage für eine Apotheke, mit Bescheidenheit reicht es vielleicht sogar für zwei. Bei einer Studentenstadt mit ihren laufenden Zu- und Fortzügen mag das aber noch am ehesten nachvollziehbar sein.
Doch selbst scheinbar "stabile" Kleinstädte, die unlängst noch 17.000, 18.000 Einwohner auf die Waage zu bringen schienen, sind plötzlich auf 15.000 Bürger "geschrumpft". Das sind durchaus nennenswerte Größenordnungen. Standortbegutachtungen, ob sich eine Apotheke tragen kann, sollten diese neuen Erkenntnisse tunlichst mit einbeziehen.
Noch dramatischer sind die Entwicklungen auf der Mikro-Ebene insbesondere in den Großstädten. So hat Berlin rund 5 Prozent weniger Bewohner als gedacht; in einzelnen Stadtvierteln dürften die Verwerfungen aber noch wesentlich größer sein. Manch Planer beispielsweise für neue Einkaufszentren dürfte jetzt angesichts der aktuellen Zahlen vielleicht etwas umdenken.
Die "Upper class" wächst"
Schauen wir vor die eigene Haustüre: In den Statistiken des Apothekenwesens haben sich ebenfalls weitgehend unbemerkt kleine Revolutionen ereignet. Die überraschendste dürfte die Umsatzverteilung sein. Gingen die offiziellen ABDA-Zahlen für das Jahr 2011 noch von einer überschaubaren Zahl von 1,9 Prozent entsprechend rund 400 Betrieben aus, welche die magische 3-Mio.-Euro-Umsatzschwelle überschreiten konnten und damit landläufig zur "Upper class" zählten (wobei auch solche Großapotheken rote Zahlen schreiben können und bisweilen sogar eine fulminante Pleite aufs Parkett legen ...), sind es in 2012 beachtliche 9,5 Prozent entsprechend fast 2000 Betriebsstätten. Immerhin 1,4 Prozent (absolut rund 300 Betriebsstätten) werden jetzt in der "Luxusklasse" oberhalb 5,0 Mio. Euro geführt. Neu ist überhaupt die Tatsache, die größeren Betriebe jenseits der 3 Mio. Euro jetzt feiner aufzuschlüsseln.
Im Gegenzug reduzierte sich die Zahl der Apotheken unter 1 Mio. Euro von 23,0 auf 16,6 Prozent, auf dem Papier ein absoluter Schwund von rund 1300 Betrieben!
Da staunt der Fachmann, und der Laie wundert sich. Die Parallelen zur Bevölkerungsstatistik und dem Zensus sind frappierend: Offenbar sind bislang historische Werte fortgeschrieben worden, und jetzt hat einmal ein größerer Daten-Kehraus stattgefunden. Real können solche Umwälzungen nicht von einem Jahr aufs andere stattgefunden haben.
… kleine Apotheken werden weniger
Wie auch immer, einige interessante Konsequenzen aus diesen neuen Umsatzverteilungen seien hervorgehoben:
Der statistische Durchschnittsumsatz je Apotheke beträgt nunmehr recht stolze 2,04 Mio. Euro netto, bei einem "Gesamtkuchen" von netto 42,6 Mrd. Euro (etwas aufwärtsrevidiert) und 20.921 Betriebsstätten zum Jahresende 2012. Der Medianwert (der den Umsatzkuchen in zwei gleiche Hälften teilt) dürfte nach den Daten nur unwesentlich höher um 2,1 bis 2,2 Mio. Euro liegen.
Die "Mittelklasse" zwischen 1,0 und 2,0 Mio. Euro (absolut 10.800 Betriebsstätten) stellt etwa 38 Prozent des Umsatzes, die kleineren unter 1 Mio. Euro (absolut etwa 3475 Apotheken) nur noch knapp 7 Prozent.
Rund 30 Prozent des Umsatzes (absolut 12,4 Mrd. Euro!) entfallen hingegen auf die "Upper class" jenseits der 3,0 Millionen-Grenze (= knapp 2000 Betriebsstätten), was die Spaltung des Marktes sehr deutlich illustriert, denn in dieser Klasse ergibt sich, rein rechnerisch aus der Umsatzverteilung heraus, ein Durchschnittsumsatz von stolzen 6,2 Mio. Euro! Dieser atemberaubende Wert ist indes das Ergebnis einer Verzerrung durch Größtapotheken. Die meisten, knapp 1700 Apotheken, bedienen nämlich den Bereich von "nur" 3,0 Mio. Euro bis 5,0 Mio. Euro und setzen hier "nur" etwa 6 Mrd. Euro um, in der "Luxusklasse" jenseits der 5,0 Mio. Euro verbleiben knapp 300 Apotheken – die allerdings nach den Verteilungswerten ebenfalls gut 6 Mrd. Euro umsetzen müssten!
Berufspolitischer Sprengstoff
In solchen Werten schlummert berufspolitischer Sprengstoff, der hier nur angedeutet werden soll. Das Bild des "Apothekers, seines Zeichens Kleinunternehmer in seiner Apotheke", dem durch manche "Privilegien" (wie Festpreise, Fremdbesitzverbot etc.) eine auskömmliche, gutbürgerliche Existenz gesichert werden soll, bei im Gegenzug empfindlich eingeschränkten Freiheiten und zahlreichen Auflagen, hat Risse bekommen. In den obigen Daten, an sich schon zum Nachdenken anregend, spiegeln sich noch gar nicht die Filial-Agglomerationen wieder. Hier finden wir eine beachtliche Ballung von Wirtschaftsmacht in recht wenigen "Apotheken-Dynastien" (die je nach Zahl der Familienmitglieder ja weit über vier Betriebe hinauswachsen können und hinausgewachsen sind), die sich kraft ihrer Marktstellung überdurchschnittlichen Wachstums erfreuen und den ursprünglich einmal berufspolitisch favorisierten "Einzelkämpfern" die Luft abschnüren. Sind das noch die "schutzwürdigen" Betriebe im Sinne des eigenverantwortlichen Freiberuflers, oder sind das nicht vielmehr mittelständische Strukturen, steuerlich bereits als "Großbetrieb" geführt, für welche eigentlich andere Marktordnungen opportun wären? Wir lassen dies hier einmal so stehen und den Leser insoweit ratlos zurück ...
Packungszahlen nach unten korrigiert
Auch die Erfassung von Packungszahlen hat offenkundig so seine Tücken. Ging man letztes Jahr seitens der ABDA für 2011 noch von 761 Millionen Rx-Packungen in deutschen Apotheken aus, sind es ein Jahr später (für 2012) nur noch 722 Millionen, obgleich die Zahl der Packungen in etwa konstant geblieben sein soll. Hierzu wurden die zum Vergleich herangezogenen Vorjahreswerte ebenfalls entsprechend korrigiert: Heuer wird für 2011 nur noch von 720 Millionen Einheiten ausgegangen. Mit anderen Worten: Immerhin rund 40 Millionen Packungen verlieren sich in den Tiefen der Statistik, entsprechend einem effektiven Apotheken-Rohertrag von gut 300 Mio. Euro.
Das erstaunt auf den ersten Blick, bei genauerem Hinschauen entdeckt man allerdings schnell, dass es eine Reihe von Gründen dafür gibt. Nicht zuletzt unterscheiden sich sogar die Angaben der bekannten, renommierten Marktforschungsinstitutionen (das sind in erster Linie IMS Health, Insight Health sowie The Nielsen Company) seit Jahren stets um einige Prozent voneinander. Gründe gibt es etliche: So sind Rx-Fertigarzneimittel von den Gesamtpackungen inklusive Rezeptursubstanzen zu unterscheiden, und wir haben weiterhin das Problem der Erfassung von privat verordneten Packungen, von denen nur ein erstaunlich geringer Teil in der Abrechnung der privaten Krankenkassen landet – weil vieles unterhalb der Selbstbehaltsgrenze der PKV je nach Versicherungsvertrag liegt. Bei der Apotheken-Notdienstvergütung hat uns dieses Thema ja bereits eingeholt ... Krankenhausversorgende Apotheken und Klinikware sind noch so ein spezielles Kapitel. Und nicht zuletzt entscheidet die Erfassungssystematik: Auf Basis Apothekenverkäufe mittels zahlreicher "Panel-Apotheken", auf Basis von Großhandelsdaten, mittels Daten der Rechenzentren (nur GKV) sowie Abverkaufsdaten der Industrie.
Die Tücken der Statistik
All das illustriert: Trotz EDV, penibler Erfassung und Auswertung sowie "Datenschnüffelei" allerorten haben die Statistiken nach wie vor ihre Tücken. Der kluge Unternehmer schaut daher weniger auf die Statistik als auf seine eigene Kasse. Und für zukünftige Honorarverhandlungen mag es sinnvoller sein, über prozentuale Verbesserungen zu verhandeln, und nicht über absolute Gesamtsummen, deren Datenbasis strittig ist – wie man sieht, nicht ganz unbegründet.
Die Zahlen – Daten – Fakten der ABDA finden sich unter www.abda.de
Autor
Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de
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