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Zehn Jahre zurück: Ein Gastkommentar von G. Schulze
Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich glauben, in einem Entwicklungsland zu leben. Deutsche Apotheken, so hieß es vor Kurzem in der Zeitschrift „Stern“, lägen im internationalen Vergleich etwa zehn Jahre zurück. Gleich zweimal habe ich das gelesen, und zwar von Leuten, die es eigentlich besser wissen müssten oder zumindest richtig erklären könnten.
Zehn Jahre zurück – was soll das heißen? Ist es fachlich gemeint? Berufspolitisch? Ökonomisch? Im hier zur Rede stehenden Kontext wurde das nicht explizit gemacht, sondern lediglich darauf verwiesen, wie anders es anderswo läuft. Anderswo, da gibt es Apothekenketten, Internethandel und Arzneimittel im Supermarkt – laut Stern-Autor Werner Hinzpeter ein Zeichen des Fortschritts und besser als bei uns.
Die Welt ohne Apotheker? Vor allem in den USA, dem Kernland des Fortschritts und des steten Wandels, ließ sich in den vergangenen Jahrzehnten studieren, wie so eine Welt aussieht. Im Zuge des dortigen Einzelhandelssterbens kam den Amerikanern auch die inhabergeführte Apotheke abhanden. Sie wurde ersetzt durch Medikamentenabgabestellen in Supermärkten und Drugstores, konzernförmig organisierte Apothekenketten mit eigenen Produktlinien und einen vitalen Internethandel, darunter viele dubiose Anbieter, die es bei der Abgabe verschreibungspflichtiger Medikamente nicht so genau nehmen.
In dieser Situation gelang – typisch USA – die Neuerfindung des Berufsstands, etwa in Oregon und Florida. Dort erfreut sich das Studium der Pharmazie seit einigen Jahren wachsender Beliebtheit, und in der täglichen Praxis wurde die intensive Kommunikation auf Augenhöhe zwischen allen Heilberufen zum Erfolgsmodell. Im Vergleich zu Deutschland erfüllen die Apotheker andere und teilweise ganz neue Aufgaben. Aus einer schon für überflüssig gehaltenen Sozialfigur entwickelte sich der Apotheker zum nachgefragten Experten. Auch in den USA verursachen die chronischen Krankheitsbilder mit ihren hochkomplexen Arzneimitteltherapien Erklärungsbedarf, und nicht nur die älteren, oft multimorbiden Patienten benötigen pharmazeutischen Sachverstand, sondern auch all jene überforderten Verbraucher, die in einem entgrenzten und hochgradig durchkommerzialisierten Arzneimittelmarkt täglich einem Wirrwarr von Angeboten und Heilsversprechungen ausgesetzt sind.
Wollen wir erst alle Fehler des amerikanischen Systems begehen, bevor wir dann doch wieder auf den Apotheker zurückkommen? Es stimmt zwar, dass sich Patienten in Ländern mit liberaleren Systemen nicht alle gleich massenweise vergiften, wie Stern-Autor Hinzpeter schreibt, aber dass in einer Zeit, in der jedes Prozent Fett, jedes Körnchen Salz, jedes Kohlenhydrat penibel aufgelistet wird und jede Zigarettenschachtel grundstürzende Warnhinweise enthält, ausgerechnet der Handel mit Arzneimitteln liberalisiert werden soll, das verlangt nach Erklärungen.
Wenn ein Journalist gegen die inhabergeführte Apotheke anschreibt, ist das im derzeitigen Mainstream der Massenmedien keine Heldentat. Apotheker gelten eher als konservativ, und obwohl die Apothekenlandschaft genauso kleinteilig ist wie die Kirchturmökonomie, die heute so vielen modernitätssatten Zeitgenossen vorschwebt, bleibt sie suspekt. Das konstruierte Feindbild zeigt eine schicke Stadtapotheke in teurer Lage, in der Produkte verkauft werden, über die jeder vernünftige Mensch nur den Kopf schüttelt. Teurer Urin – so würde es der nur seinem pharmazeutischen Gewissen verpflichtete Apotheker auf den Punkt bringen. Tut er aber nicht. Von da ist es nur ein kleiner Schritt zur Entrüstung über die angebliche Geldgier „der“ Apotheker, verborgen unter einem dünnen Firnis aus vorgeschobener Berufsethik.
Produkte, die nichts weiter verursachen als teuren Urin, aber ansonsten unschädlich sind, gibt es auch in Bioläden und Reformhäusern, die ja ebenfalls als Unternehmen mit explizit ethischem Anspruch auftreten. Erwartet man deshalb von ihren Inhabern, dass sie unwirksame Präparate aus dem Regal nehmen? Nein. Auch den Homöopathen und Alternativmedizinern nimmt man es nicht übel, dass sie Kult und Kommerz miteinander verbinden. Bachblüten? Homöopathische Verdünnung? Schröpfen? Kein Thema, denn da ist ja der kleine David gegen den bösen Goliath der Schulmedizin am Werk.
In der Schmuddelecke des Gesundheitswesens findet sich stets nur der Apotheker wieder. Er verkörpert einen besonders in Deutschland sehr bodenständigen Berufsstand. Er weiß, dass Veränderungen auf ihn zukommen, aber er rennt nicht jeder Mode, jeder politischen Laune, jeder ökonomischen Großwetterlage brav hinterher, und das ist gut so. Dass sich der Beruf in ähnlicher Weise weiter entwickeln muss wie in den USA, wenn auch angepasst an die gewachsene Apothekenlandschaft in Deutschland, steht auf einem anderen Blatt.
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