- DAZ.online
- DAZ / AZ
- DAZ 20/2014
- Polio lässt sich ...
Infektiologie
Polio lässt sich ausrotten – theoretisch Scheitert die Kampagne „End Polio now“?
Polio-Viren gehören zu den Picornaviridae, also sehr kleinen (pico) Viren mit einem einzelsträngigen RNA-Genom in Plus-Strangorientierung, das heißt das virale RNA-Genom wird in der Wirtszelle direkt als mRNA zur Translation verwendet. Im Gegensatz zu anderen Viren, wie z.B. Influenza-Viren, besitzen Polio-Viren keine Membranhülle und sind somit resistent gegen lipidlösliche Mittel wie Detergenzien. Die Hülle der Polio-Viren besteht stattdessen nur aus einem Capsid, das von den vier Virus-Proteinen VP1, VP2, VP3 und VP4 gebildet wird. Erstaunlicherweise ist dieses Capsid resistent gegen saure Milieus und auch gegen verschiedene Proteasen, so dass oral aufgenommene Polio-Viren unbeschadet eine Magen-Darm-Passage überstehen und sich dann im lymphatischen Gewebe des Darms vermehren können.
Durch Unterschiede in den Capsid-Proteinen lassen sich drei Typen von Polio-Viren serologisch nachweisen: Typ 1, Typ 2 und Typ 3. Der Wildtyp 2 verursacht nur leichte Erkrankungen und gilt mittlerweile als weltweit ausgerottet. Zum letzten Mal wurde dieses Virus 1999 in Indien nachgewiesen. Die beiden anderen Virus-Typen verursachen hingegen schwere Erkrankungen, wobei allerdings die Hoffnung besteht, den ohnehin eher seltenen Typ 3 ebenfalls bald auszurotten: Seit mehr als einem Jahr ist kein Infektionsfall mit diesem Virus-Typ mehr registriert worden. Bleibt also das Typ-1-Poliovirus. Dieses Virus macht derzeit wieder unrühmliche Schlagzeilen.
Der Mensch ist der einzige Wirt für Polio-Viren. Gelänge es also, möglichst jedes Kind zu impfen, könnten sich Polio-Viren nicht mehr weiter vermehren und wären eradiziert. Dieser einfach klingende Ansatz erwies sich jedoch in den vergangenen Jahren als alles andere als einfach. Denn tatsächlich muss jedes Kind erreicht und geimpft werden. Und dazu gehören offensichtlich auch die Kinder, die in den entlegensten Dörfern in oft politisch instabilen Gesellschaften leben. Solange jedoch nicht alle Kinder geimpft sind, kann sich das Virus wieder ausbreiten – zunächst langsam und vielfach völlig unbemerkt, da nur jeder 200. Infizierte tatsächlich auch Krankheitssymptome zeigt, dann jedoch unter Umständen sehr schnell. Denn da die Übertragung überwiegend fäkal-oral stattfindet, begünstigen schlechte hygienische Verhältnisse in Kriegs- und Flüchtlingsgebieten die Ausbreitung der Infektion.
Bisherige Erfolge ...
Seit der Initiierung der Kampagne zur weltweiten Ausrottung der Polio ist die Anzahl der gemeldeten Erkrankungsfälle um 99% von 350.000 im Jahr 1988 auf 406 im Jahr 2013 zurückgegangen. Seit Anfang 2014 gilt auch Indien als poliofrei, das heißt dass dort seit drei Jahren kein Polio-Fall mehr registriert wurde. Indien war das letzte Land in der ansonsten poliofreien WHO-Region Südostasien, so dass jetzt mit dieser WHO-Region vier von den weltweit sechs WHO-Regionen poliofrei sind. Bereits seit 1994 ist der gesamte amerikanische Kontinent und seit 2000 der westpazifische Raum als poliofrei zertifiziert. In der WHO-Region Europa hat es bis 2002 gedauert, bis auch hier die entsprechende Zertifikation möglich war. Mittlerweile leben 80% der Weltbevölkerung in poliofreien Gegenden.
In nur noch drei Ländern gilt die Poliomyelitis nach wie vor als endemisch: Nigeria, Pakistan und Afghanistan. Während die Global Polio Eradication Initiative in Nigeria mit 53 Poliofällen im Jahr 2013 gegenüber 122 Fällen im Jahr 2012 einen Rückgang um 57% verzeichnete und in Afghanistan sogar ein Rückgang um 62% (14 Fälle 2013 versus 37 Fälle 2012) registriert wurde, ist im Nachbarland Pakistan hingegen die Fallzahl um 60% gestiegen (93 Fälle 2013, 58 Fälle 2012).
... und neue Misserfolge
In Pakistan leben Impfhelfer mittlerweile sehr gefährlich: Nachdem ein Arzt unter dem Deckmantel einer Impfkampagne geholfen hatte, das Versteck des Al-Qaida-Gründers Usama Bin Ladin aufzuspüren, erklärte die pakistanische Taliban pauschal alle Polio-Impfhelfer zu Verrätern und verfügte in ihrem Einflussbereich ein Verbot entsprechender Impf-Kampagnen. Etliche Impfhelfer sowie Polizisten, die zu deren Schutz abgestellt waren, wurden getötet. Ein herber Rückschlag für die Durchimpfungsrate in der pakistanischen Bevölkerung!
Dies alles blieb nicht ohne Konsequenzen. Die Anzahl der Polio-Fälle in Pakistan begann weiter zu steigen. Bis zum 30. April 2014 wurden in Pakistan bereits 54 Infektionen mit dem Wildtyp-1-Virus registriert, während im Vergleichszeitraum 2013 nur sechs Fälle aufgetreten waren. Zudem wurden aus fünf weiteren Ländern, in denen im letzten Jahr gar keine Polio-Fälle registriert wurden, bereits insgesamt neun Fälle gemeldet. Ferner konnte man in Israel und dem Gazastreifen in diesem Jahr aus insgesamt 14 Umweltproben Polio-Wildtypviren isolieren, bisher jedoch glücklicherweise ohne Erkrankungsfall.
Auf die steigende Anzahl an Infizierten, die vor allem überwiegend durch reisende Erwachsene aus den Endemiegebieten in die anderen Länder verursacht wurden, hat die WHO schnell reagiert und Warnungen und Empfehlungen ausgesprochen. An die Regierungen in Pakistan, Kamerun und Syrien wurde appelliert, dafür Sorge zu tragen, dass alle Einwohner sowie Besucher, die sich länger als vier Wochen in den Ländern aufgehalten haben und eine internationale Reise planen, eine Impfdosis OPV oder IPV erhalten. Idealerweise sollte die Impfung in den vorangegangenen vier Wochen bis zwölf Monaten erfolgt sein. Notfalls kann der Impfstoff jedoch auch bei der Abreise verabreicht werden. Für die Länder Afghanistan, Äquatorial-Guinea, Äthiopien, Irak, Israel, Somalia und Nigeria gilt eine entsprechende, etwas abgeschwächte Empfehlung, da hier zwar Wildtypviren nachgewiesen, diese bislang aber noch nicht exportiert wurden. In diesen Ländern soll Reisenden zur Impfung geraten werden.
Vorsichtsmaßnahmen in Deutschland
Nachdem im Oktober 2013 in Syrien von Poliomyelitis-Fällen berichtete wurde, hatte das Robert Koch-Institut empfohlen, bei allen nach 2010 geborenen Kindern aus Syrien, die seit dem 15. Oktober 2013 in Deutschland eingetroffen waren, Stuhlproben auf Polio-Viren untersuchen zu lassen. Nachdem die im Zeitraum bis 11. April 2014 bundesweit insgesamt fast 600 untersuchten Stuhlproben von Asylbewerbern/Flüchtlingen aus Syrien negativ waren und zudem die Durchimpfung der syrischen Bevölkerung verbessert werden konnte, hat das RKI diese Empfehlung mittlerweile wieder zurückgenommen. Dies heißen nicht alle gut. So warnt der Bundesverband Polio Selbsthilfe e.V., in dem sich viele Menschen organisieren, die selbst das Schicksal einer Polio-Infektion mit der Konsequenz einer Kinderlähmung durchlitten haben, auf diesen sicheren Nachweis des Virus zu verzichten und so einen Ausbruch einer Epidemie in diesen Risiko-Lebensgemeinschaften in Kauf zu nehmen.
Wer zahlt die Rechnung?
In den Jahren 1988 bis 2012 wurden insgesamt zehn Milliarden US-Dollar in die weltweite Ausrottung der Poliomyelitis gesteckt. Durch die Einsparung der Versorgungskosten Infizierter, die auf insgesamt 40 bis 50 Milliarden US-Dollar geschätzt werden, ist durch die Impfkampagne ein beachtlicher Bonus erzielt worden. Für den Zeitraum 2013 bis 2018 sind für die (endgültige?) Ausrottung der Polio weitere Kosten in Höhe von 5,5 Milliarden US-Dollar veranschlagt. Bisher sind ca. vier Milliarden zugesagt, wobei 60% von verschiedenen Geberländern und 40% von Nicht-Regierungsorganisationen wie der Bill und Melinda Gates-Stiftung und Rotary International kommen. Rotary International hatte bereits 1985 die Aktion „PolioPlus“ ins Leben gerufen, die mittlerweile unter dem Slogan „End Polio Now“ läuft und bis 2013 insgesamt 1,2 Milliarden US-Dollar für die Ausrottung des Virus zur Verfügung gestellt hat.
Fazit
Manche Zweifler mögen an eine finale Eradikation der Poliomyelitis nicht glauben – schließlich wurde schon mehrmals der Termin für das Erreichen des Ziels verschoben und verlängert. Und sie könnten das Argument vorbringen, dass die Milliarden US-Dollar, die bisher für die Kampagne ausgegeben wurden, gut auch anderweitig hätten investiert werden können. Dabei wird allerdings zu leicht übersehen, dass die Versorgung von Poliomyelitis-Patienten schnell um ein Vielfaches teurer werden kann, als die flächendeckende Impfung von Kindern. Es lohnt sich also durchaus, die Kampagne weiterzuführen. Zudem gibt es eine perfekte medizinische Lösung. Probleme bereiten nicht vorhersehbare politische Umstände, wie z.B. der Krieg in Syrien oder fanatisch religiöse Ansichten, wie bei den pakistanischen Taliban, die auch das Endziel 2018 wieder gefährden können.
Quelle
www.polioeradication.org/Dataandmonitoring.aspx.
Nationale Kommission für die Polioeradikation in der Bundesrepublik Deutschland, Polio-Info, Ausgabe Juli 2013, www.rki.de.
PolioFactSheet 2013-2014, www.polioeradication.org.
Poliomyelitis Fact sheet No 114, updated March 2014, www.who.int.
Autoren
Institut für Pharmazeutische Biologie, Biozentrum, Max-von-Laue-Straße 9, 60438 Frankfurt/Main
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.