Nach dem EuGH-Urteil

Ein „juristischer Betriebsunfall“

Rechtsanwalt Dr. Heinz-Uwe Dettling zum Arzneimittelpreisurteil des EuGH und seinen Folgen

BERLIN (ks) | Die Erste Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hat im Oktober 2016 entschieden, es sei nicht mit dem freien Warenverkehr vereinbar, wenn sich EU-ausländische Versandapotheken, die nach Deutschland verschreibungspflichtige Arzneimittel versenden, an die Arzneimittelpreisverordnung halten müssen. Das deutsche Festpreissystem sei nicht geeignet, die flächendeckende Versorgung sicherzustellen und könne daher nicht mit dem Gesundheitsschutz gerechtfertigt werden. In einem aktuellen Beitrag in der Zeitschrift „Arzneimittel & Recht“ wirft Rechtsanwalt Dr. Heinz-Uwe Dettling von der Stuttgarter Kanzlei Oppenländer der EU-Kommission falschen Tatsachenvortrag gegenüber dem EuGH vor und spricht von einem „juristischen Betriebsunfall“. DAZ-Redakteurin Kirsten Sucker-Sket fragte nach, was hinter den harten Vorwürfen steckt.
Foto: Oppenländer
Rechtsanwalt Dr. Heinz-Uwe Dettling

DAZ: Herr Dettling, was werfen Sie der EU-Kommission konkret vor?

Dettling: Die EU-Kommission behauptete in ihrer Stellungnahme an den EuGH, in Deutschland zögen sich die Apotheken aus dünn besiedelten Gebieten zurück. Sie erwähnt auch eine Untersuchung des Thünen-Instituts für Ländliche Räume aus dem Jahr 2013 zur Erreichbarkeit öffentlicher Apotheken in Deutschland. Die EU-Kommission erweckt so den Eindruck eines wissenschaftlichen Belegs für eine angeblich fehlende flächendeckende Versorgung mit Arzneimitteln in Deutschland. In Wirklichkeit stellte die Thünen-Studie fest, dass eine öffentliche Apotheke im Durchschnitt innerhalb von vier Minuten PKW-Fahrzeit erreicht wird und nur ca. 0,16 Prozent der Bürger Entfernungen von mehr als 15 km in Kauf nehmen müssen, um die dem Wohnort nächstgelegene öffentliche Apotheke zu erreichen. Das Ergebnis der Studie: Insgesamt zeichnen sich in Deutschland keine nennenswerten Erreichbarkeitsdefizite ab, die einen dringenden Handlungs- oder Interventionsbedarf begründen.

DAZ: Wo liegt der Fehler des EuGH?

Dettling: Die Richter der Ersten Kammer des EuGH scheinen die Thünen-Studie nicht gelesen zu haben. Sie scheinen auch nicht berücksichtigt zu haben, dass in Deutschland ein weiteres Mittel zur Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung, nämlich Niederlassungsbeschränkungen, verfassungsrechtlich nicht zulässig ist. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmten „Apotheken-Urteil“ aus dem Jahre 1958 entschieden. Das wurde von den deutschen Vertretern auch vorgetragen. Während andere EU-Mitgliedstaaten die – weniger liberalen – Gebietsbeschränkungen als Instrument zur Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung einsetzen dürfen und andere Kammern des EuGH selbst Niederlassungsbeschränkungen ausdrücklich für EU-rechtskonform erklärt haben, diskriminiert die Erste Kammer den Mitgliedstaat Deutschland, dem verfassungsrechtlich nur der einheitliche Festpreis als leichtere, aber ebenfalls geeignete Freiheitsbeschränkung zur Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung verbleibt.

DAZ: Sehen Sie sonst noch Fehler?

Dettling: Die Richter der Ersten Kammer haben gleich eine ganze Reihe handwerklicher Fehler gemacht. Sie haben zunächst eine „ungleiche Betroffenheit“ künstlich konstruiert, obwohl sich alle Apotheker aus anderen Mitgliedstaaten der EU genau wie „deutsche“ Apotheker überall in Deutschland zum Betrieb einer Apotheke niederlassen können. Sie haben einen unzulässigen juristischen „Kunstgriff“ benutzt und auf „Apotheken“ statt auf deren Betreiber, also Apotheker bzw. Nicht-Apotheker und Kapitalgesellschaften abzustellen, obwohl Träger des Rechts auf Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 AEUV selbstverständlich nur natürliche oder juristische Personen sein können und keine Unternehmen (Apotheken) „als solche“. Der zweite Kunstgriff bestand darin, dass sie das schlichte Schlechtersein der Versandapotheken im Qualitätswettbewerb als „ungleiche Betroffenheit“ einordneten und daraus einen Anspruch des Schlechteren auf Erfolg im Wettbewerb konstruierten, obwohl das Schlechtersein im Wettbewerb in der eigenen Verantwortung der Versandapotheken liegt und die Idee des Wettbewerbs gerade darin besteht, dass der Bessere und nicht der Schlechtere gewinnen soll. Zu diesem verqueren Wettbewerbsverständnis haben die Richter der Ersten Kammer die groteske Vorstellung von höheren Preisen für das Land und offenkundig weder Selektivverträge noch bedacht, dass der freie Preiswettbewerb zu Versorgungsbehinderungen durch Preisverhandlungen und Preisgenehmigungen führt, was beispielsweise die rasche Anfertigung von lebensnotwendigen Kinderrezepturen nach der Krankenhausentlassung am Freitagnachmittag unmöglich macht. Nähme man die Erste Kammer beim Wort, könnten die Apotheken im Notdienst auch Mondpreise verlangen und nach Belieben die Abgabe eines Arzneimittels verweigern, weil es keine Einigung über den Preis gibt – also auch streiken. Das wäre das Gegenteil der Sicherstellung der ordnungsgemäßen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln.

DAZ: Gibt es die Belege, die der EuGH vermisst, wirklich nicht?

Dettling: Das ist ein weiterer Grund dafür, weshalb das Urteil verunglückt ist. Die Erste Kammer meint, Apotheken „könnten“ doch auf dem Land „höhere Preise“ verlangen, sodass ein freier Preiswettbewerb die „gleichmäßige“ Versorgung mit Arzneimitteln fördere. Sie scheint sich insoweit auf das Gutachten des Gesundheits-Sachverständigenrates von 2014 zu beziehen, aus dem die EU-Kommission ebenfalls vorgetragen hat. Dabei handelt es sich aber um eine schlichte, nicht einmal eine Seite umfassende „Wunschliste“. Der Sachverständigenrat zitiert hier u. a. eine „apothekenindividuelle Vergütung“ mit (Unter- und) Obergrenzen, „Selektivverträge“ zwischen Krankenkassen und Apotheken, eine „Lockerung des Dispensierverbotes für Ärzte“, die „Aufhebung des Fremd- und Mehrbesitzverbotes“ von Apotheken, die „räumliche Integration von Apotheken in andere Einzelhandelsgeschäfte“ sowie den „Einsatz von Apothekenbussen“ zur mobilen Arzneimittelversorgung in ländlichen und strukturschwachen Räumen. Wissenschaftlich untersucht oder gar empirisch untermauert werden diese Vorschläge nicht. Es geht nur um finanzielle Anreize für Versicherte bzw. Patienten, eine preisgünstige Apotheke aufzusuchen. Dies passt nicht zur „Hochpreis“-These der Ersten Kammer des EuGH und zeigt gerade, dass mit dem Preiswettbewerb die flächendeckende Versorgung gefährdet und nicht gefördert wird. Die Erste Kammer misst daher mit zweierlei Maß. Die Gefährdung der Flächendeckung durch Preiswettbewerb ist allgemein bekannt und wird von anderen Kammern des EuGH bei sonstigen Universaldiensten ohne weitere Belege anerkannt, von der Ersten Kammer aber plötzlich nicht. Der Preiswettbewerb kann, wie die vorliegenden Daten und aktuelle Umfragen zeigen, selbst wenn nur geringe Boni gewährt werden, bis zu 25 Prozent des Umsatzes mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln auf Versandapotheken umlenken. Dies gefährdet nach vorliegenden betriebswirtschaftlichen Berechnungen die wirtschaftliche Existenz von über 60 Prozent der öffentlichen Apotheken. Umgekehrt stützt sich die Erste Kammer selbst ausschließlich auf spekulative Wettbewerbs-„Modelle“, die nicht wissenschaftlich untersucht, geschweige denn empirisch erprobt oder gar bewährt sind.

DAZ: Welche Handlungsoptionen gibt es jetzt noch?

Dettling: Theoretisch könnte das Thema erneut vor den EuGH gebracht werden. Wie dort entschieden würde, ist aber nach dem Urteil der Ersten Kammer kaum berechenbar. In der Sache ist das Rx-Versandverbot alternativlos.

DAZ: Sehen Sie keine Bedenken?

Dettling: Nein. Unionsrechtlich ist ein Versandverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel nach der Rechtsprechung des EuGH, nach Art. 85c Abs. 1 des Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel und nach den Schlussanträgen des Generalanwalts in dem EuGH-Verfahren ausdrücklich zulässig.

DAZ: Und verfassungsrechtlich?

Dettling: Auch nationale verfassungsrechtliche Bedenken bestehen nicht, wenn es gewisse gebotene Ausnahmen gibt, etwa für den Versand an Ärzte und für Einzelfälle (z. B. Rezepturen), soweit dies aufgrund einer konkreten besonderen Versorgungssituation bestimmter Patienten gerechtfertigt ist. Unter diesen Bedingungen ist das Rx-Versandverbot als bloße Berufsausübungsregelung aus vernünftigen Gründen des Gemeinwohls zulässig. Es dient der Sicherung der flächendeckenden und gleichmäßigen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln und damit sogar einem überragenden Gemeinwohlbelang. Mit dem Urteil der Ersten Kammer hat sich für den deutschen Gesetzgeber eine neue Situation ergeben, die eine Änderung seiner bisherigen Position zum Rx-Versandhandel notwendig macht. Im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen zu stellen, und die unionsrechtliche Pflicht zur Gewährleistung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus ist Deutschland nicht nur berechtigt, sondern unions- und verfassungsrechtlich sogar verpflichtet, die Gefahren abzuwehren, die sich aus dem Urteil ergeben. Dies gilt umso mehr, als Beispiele aus der Praxis Versorgungsprobleme aufgrund von verlorenen oder durch Versandapotheken schlicht nicht belieferte Rezepte gezeigt haben und der Versand ohnehin nur zusätzlich zum üblichen Apothekenbetrieb erlaubt war.

DAZ: Wie sieht es mit Amtshaftungs­risiken aus?

Dettling: Vor dem dargestellten Hintergrund bestehen auch keine Amtshaftungsrisiken – jedenfalls nicht bei der Bundesrepublik Deutschland, allenfalls bei der EU. Letztendlich haben sich die Versandapotheken aber das Problem selbst eingebrockt.

DAZ: Wie lautet Ihr Fazit?

Dettling: Die Haltung der auf Seiten der EU Handelnden – EU-Kommission, Erste Kammer des EuGH, Generalanwalt – ist unbegreiflich. Sie wird noch unbegreiflicher, wenn man sich näher mit dem Urteil, dem Vortrag der EU-Kommission und mit den Unterlagen beschäftigt, auf die sie sich stützen. Das Urteil der Ersten Kammer fällt völlig aus dem Rahmen. Ein heftiger „juristischer Betriebsunfall“ eben.

DAZ: Wir danken für das Gespräch! |

1 Kommentar

Juristischer Betriebsunfall

von Markus Junker am 04.07.2017 um 11:23 Uhr

Ich kann nicht begreifen, wie ein Gericht ein solches Urteil fällen kann. Die Begründung ist falsch, und ich frage mich wieso es da kein Korrektiv gibt. Ein Korrektiv aus der Justiz selbst, das die Urteilsbegründung hinterfragt und kritisch beleuchtet. Die Macht des offensichtlichen Fehlurteils darf es nicht geben. Wo leben wir denn?

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