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Pandemie Spezial

Zwischen berechtigten Sorgen und Verschwörungsmythen

Welchen Einfluss die Corona-Krise auf unsere Risikowahrnehmung hat – ein Meinungsbeitrag

Zwei Pandemien halten die Welt gerade in Atem: Die erste hat das SARS-CoV-2-Virus verursacht, mit derzeit über 6,21 Millionen Infektionen in 229 Ländern und mehr als 373.000 Todesfällen (Stand: 1. Juni 2020). Die zweite ist eine Pandemie von Fehlinformationen und alternativen Fakten, die sich teil­weise schneller zu verbreiten scheinen als der Erreger selbst. Dieses auch „Infodemie“ genannte Phänomen hat gravierende gesellschaftliche Auswirkungen, da es eine realistische Einschätzung des vom Coronavirus ausgehenden Risikos und damit die gesamtgesellschaftlichen Be­mühungen zu dessen Eindämmung untergraben kann. Es ist daher wichtig zu verstehen, wie sich Informationen und Fehlinformationen über Gesundheits­risiken in sozialen Netzwerken verbreiten können, und wie da­rüber unsere Risikowahrnehmung geformt, aber ge­gebenenfalls auch in verschiedene Richtungen ­verzerrt und verstärkt wird, bis hin zur Bildung von Verschwörungsmythen. | Von Wolfgang Gaissmaier

 

Die Fotos zeigen eine Demonstration gegen Corona-Beschränkungen Mitte Mai auf dem Cannstatter Wasen in Stuttgart. Aufgerufen hatte die Initiative „Querdenken711“.

 

In den ersten Wochen der Krise haben Befragungen ergeben, dass die Risikowahrnehmung der Menschen kontinuierlich anstieg und relativ hohe Werte erreichte. Das ist wenig überraschend, weil der SARS-CoV-2-Erreger viele Aspekte aufweist, von denen bekannt ist, dass sie die ­Ri­sikowahrnehmung fördern. Es handelt sich um ein neues ­Virus, das nicht direkt beobachtbar ist und über das wir noch verhältnismäßig sehr wenig wissen. Dabei scheint es das Potenzial zu haben, viele Menschen innerhalb eines kurzen Zeitraums zu töten. Auf solche „Schockrisiken“ reagieren Menschen mit Angst, sie wirken bedrohlicher als Risiken, die über einen längeren Zeitraum zu ähnlich vielen oder sogar mehr Todesfällen führen. So fürchten wir uns mehr vor Flugzeugabstürzen als vor Autounfällen, und mehr vor Terroranschlägen als vor Krankenhaus­keimen, obwohl jeweils letztere deutlich mehr Todesfälle verursachen.

In den letzten Wochen beobachten wir jedoch eine langsam, aber stetig sinkende Risikowahrnehmung. Der große Schock ist offenbar vorbei oder aus Sicht vieler ausgeblieben. Und es stimmt ja: Wir haben eine Situation, die auch als Präventionsparadox bezeichnet wird, bei der ein negatives Ereignis aufgrund erfolgreicher Prävention eben gerade nicht eintritt. Übrigens führt das Präventionsparadox auch dazu, dass die Impfbereitschaft in der Bevölkerung gegen Erkrankungen, die aus unserer Wahrnehmung geraten sind, sinkt und sich im extremen Fall sogar in eine ablehnende Haltung umkehren kann.

Deutschland ist in der Corona-Pandemie bislang im internationalen Vergleich äußerst glimpflich davongekommen, unser Gesundheitssystem war zu keinem Zeitpunkt überlastet. Dementsprechend sinkt die Sorge der Menschen vor überbelegten Krankenhäusern, in denen sie kein Atemgerät mehr bekommen können; aber die Sorgen um Wirtschaft und Gesellschaft, für etliche sogar die Sorge um die eigene Existenz, diese Sorgen bleiben unverändert hoch.

Mit sinkender Risikowahrnehmung sinkt auch die Akzeptanz von freiheitseinschränkenden Maßnahmen. Hieran ist zunächst auch nichts unvernünftig, weil die erfolgreichen Maßnahmen der letzten Wochen ja tatsächlich das Ansteckungs­risiko gesenkt haben, sodass die Regierung auch schrittweise die Freiheitseinschränkungen lockert. Die Menschen passen ihre Wahrnehmung demnach im Großen und Ganzen der aktuellen Situation an. Problematisch ist jedoch, dass mit der sinkenden Risikowahrnehmung auch die Bereitschaft sinkt, sich gegebenenfalls gegen das Corona­virus impfen zu lassen. Dabei wäre eine Impfung – so es sie denn geben wird – die beste Möglichkeit, das Ganze in den Griff zu bekommen und wirklich weitgehend zur Normalität zurückzukehren.

Noch problematischer ist, dass derzeit im Schatten wachsender Ungeduld und berechtigter Fragen zur Verhältnismäßigkeit einzelner Maßnahmen (z. B. zu dem unangemessenen Verbot, alleine auf einer Parkbank ein Buch zu lesen) auch zunehmend Stimmen lauter werden, die die Maßnahmen als Ganzes sowie die Gefährlichkeit des Virus infrage stellen. In dieser Atmosphäre gedeihen auch Verschwörungsmythen, die von leicht überdreht bis vollkommen absurd reichen (und die Adelung als -theorien nicht verdient haben). Wie kommt es, dass Menschen anfällig sind für von der Realität völlig entkoppelte Vorstellungen, gerade wenn es um Gesundheit geht?

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Die Psychologie gefühlter Wahrheiten

Die psychologische Forschung hat einige Mechanismen aufgedeckt, die der Entstehung, Aufrechterhaltung und Verbreitung gefühlter Wahrheiten zugrunde liegen, von alternativen Fakten bis hin zu Verschwörungsmythen. Diese liegen in ähnlicher Form auch bei anderen Glaubenssystemen wie Religion oder Esoterik vor, wenn auch die Inhalte jeweils sehr verschieden sind.

Der erste Mechanismus ist die Fehlwahrnehmung von Zufall: Den Zufall akzeptieren wir nicht als Erklärung, wir suchen nach anderen Begründungen. Wenn ich zum Beispiel mein Kind impfen lasse, und bei demselben Kind innerhalb von ein oder zwei Tagen eine seltene Erkrankung diagnostiziert wird, vermute ich in der Impfung den Übeltäter. Und diese Neigung, sehr schnell auf mögliche Zusammenhänge zu schließen, hilft uns dabei, tatsächliche Zusammenhänge zu erkennen. Doch kommt es dadurch häufig zu Fehlalarmen, denn es ist natürlich zu erwarten, dass Impfung und Erkrankung ab und an auch zufällig mehr oder weniger gleichzeitig auftreten; um festzustellen, ob die Erkrankungswahrscheinlichkeit tatsächlich durch die Impfung erhöht ist, muss ich eine große Stichprobe von geimpften und ungeimpften Menschen vergleichen, wodurch bereits viele Mythen entkräftet werden konnten, wie derjenige, dass Impfen Autismus begünstige. Doch habe ich als Individuum diese Daten nicht, sondern nur meine eigene Beobachtung, sodass ich mich dieser Fehlwahrnehmung nur schwer entziehen kann.

Dementsprechend gibt es die Fehlwahrnehmung von Zufall auch bei allen Menschen: Wenn wir beim Roulette fünf Mal rot sehen, haben die meisten von uns das Gefühl, dass jetzt schwarz dran wäre, selbst wenn wir wissen, dass das Unsinn ist. Gleichzeitig sind manche Menschen anfälliger dafür: So sind spielsüchtige Menschen tatsächlich oftmals davon überzeugt, sie hätten die Muster beinahe erkannt und könnten dann die Spielautomaten schlagen und all das ver­lorene Geld zurückgewinnen. Auch bei Menschen mit reli­giösen oder paranormalen Überzeugungen ist die Fehlwahrnehmung des Zufalls ausgeprägter. Sie trägt daher offenbar auch zum Entstehen komplexer Glaubenssysteme bei, die mit irdischen Daten nicht begründbar sind.

Statt Zufall sind Menschen eher dazu geneigt, Akteure am Werk zu sehen, die aktiv handeln, etwas tun, etwas ­erzeugen. Das ist wiederum ein Nebenprodukt eines adaptiven Prozesses: Wenn der Mensch in der Steppe sieht, dass das Gras sich bewegt, dann ist es erst mal sinnvoll, dort ein verstecktes Raubtier zu vermuten. Falls wir uns irren, ist es nicht so tragisch. Glauben wir jedoch, es sei nur der Wind, und dann ist es doch ein Raubtier, kann das unsere letzte Fehlentscheidung gewesen sein. Durch diesen an sich nützlichen Prozess überzeugen uns auch Erklärungen mehr, wenn diese aktiv Handelnde hinter bestimmten Geschehnissen vermuten – ob nun das System, Bill Gates, oder diverse Götter; dagegen lassen wir uns nur ungern mit ­unglücklichen Verkettungen letztlich unbeabsichtigter ­Ereignisse abspeisen, nach dem Motto: Kann das wirklich alles Zufall sein?

Zusätzlich gespeist wird unsere Anfälligkeit für Verschwörungsmythen durch sehr grundlegende psychologische Bedürfnisse. Da ist zum einen das Bedürfnis nach Kontrolle und Struktur: Durch den Glauben an aktiv Handelnde geben Verschwörungsmythen dem Weltgeschehen wieder eine (vermeintlich logische) Struktur, was gerade in so unsicheren Zeiten mit hohem Kontrollverlust auf fruchtbaren Boden fällt. Damit einher gehen klare Feindbilder und Sünden­böcke. Obwohl Menschen sich diesen auch relativ ohnmächtig gegenüber sehen, vermittelt bereits deren Benennung ein Gefühl der Kontrolle, da man dann zumindest zu wissen glaubt, wie die Welt eigentlich funktioniert. Dadurch wird ein weiteres Bedürfnis befriedigt: Der Wunsch, etwas Besonderes zu sein. Wir Menschen sind zwar alle irgendwie einzigartig, aber im Großen und Ganzen doch auch sehr durchschnittlich. Die Anhänger eines Verschwörungsmythos gehören hingegen zu einer kleinen Gruppe von Ein­geweihten, während all die anderen Dummen nur dem gleichgeschalteten Mainstream hinterherlaufen und nicht sehen wollen oder können, was wirklich vor sich geht. Dass gerade auch in Bezug auf Corona innerhalb dieses vermeintlichen Mainstreams – in Wissenschaft, Medien, Politik – sehr vielfältige Meinungen und Sichtweisen vertreten sind, wird dabei geflissentlich ignoriert; „die Anderen“ werden stets als sehr viel gleichförmiger wahrgenommen als die ­eigene Gruppe.

Der Grundstein für die Akzeptanz von alternativen Fakten bis hin zu Verschwörungsmythen ist also bereits in der Psyche des Individuums gelegt. Aber erst durch soziale Prozesse werden diese dann zu einem wahrnehmbaren, die Gesellschaft belastenden Problem.

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Wie soziale Prozesse gefühlte Wahrheiten verbreiten, erhalten und verstärken können

Menschen sind eine soziale Spezies. Wir leben mit und für andere in sozialen Verbünden, was immer schon wichtig für unser Überleben und unsere Gesundheit war und es auch heute noch ist. So ist soziale Isolation beispielsweise ein ungefähr ebenso starker Risikofaktor für unsere Gesundheit wie es das Rauchen ist. Daher kann es uns nicht über­raschen, wie schwer uns die derzeit eingeforderte soziale Distanzierung fällt (selbst wenn sie eigentlich vor allem eine physische Distanzierung ist). Und es kann uns auch nicht überraschen, dass wir sehr viel vermeintliches und echtes Wissen von anderen übernehmen. Es ist ja nützlich, nicht alles selbst lernen zu müssen, sondern z. B. den Eltern erst einmal zu glauben, dass Feuer heiß ist und schmerzhaft sein kann. Genauso übernehmen wir dann auch Wertvorstellungen, kopieren, was in der Gesellschaft vorherrscht. Wir meinen, wir hätten uns selbst überlegt, welche Musik wir gut finden oder welche Mode. Aber sehr viel davon ist einfach nur sozial geprägt, und das reicht bis hin zu tief wurzelnden Überzeugungen und Annahmen über die Welt. So teilen z. B. die meisten Menschen den religiösen Glauben, den sie von ihren Eltern mitbekommen haben, und würden mit derselben Überzeugung an völlig andere Gottheiten glauben, wären sie zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort geboren.

Auf diese Vorbereitetheit (engl. preparedness) des sozialen Lernens fallen dann auch gefühlte Wahrheiten wie alternative Fakten oder Verschwörungsmythen. Diese weisen dabei häufig Merkmale auf, die ihre soziale Verbreitung begünstigen. Zum einen genießt alarmierende Information mehr Aufmerksamkeit als beruhigende, wird besser erinnert und verbreitet sich schneller und nachhaltiger in sozialen Netzwerken, wie wir in experimentellen Studien zeigen konnten. Auch das ergibt wiederum erst einmal Sinn, da Hinweise auf Gefahren relevanter für unser Überleben sind als beruhigende oder neutrale Informationen. In Bezug auf die Corona-Pandemie mag das verwundern, da doch die Verschwörungsmythen oftmals die Gefahren durch das Virus herunterspielen oder gar für erfunden halten. Aber sie weisen auf die noch größere Gefahr hin, dass wir alle durch dahinterstehende Akteure manipuliert und gelenkt werden, gegen unser eigentliches Interesse. Dabei bedienen sie ein weiteres Merkmal, das Aufmerksamkeit und Verbreitung fördert: Sie sind überraschend und damit, wenn sie denn stimmen würden, nützlicher als Information, die nur Altbekanntes liefert. Und so können sich alternative Fakten mit derselben oder teils sogar schnellerer Geschwindigkeit verbreiten als echte.

Doch wie können Überzeugungen, für die es keinerlei Evidenz gibt, überleben? Auch hier finden wir wieder all die Mechanismen, die auch die Aufrechterhaltung anderer Glaubens- und Überzeugungssysteme ermöglichen. Dabei werden widersprüchliche Informationen so umgedeutet, dass sie doch wieder ins Raster passen, dass sie z. B. eigentlich wiederum ein Beweis für übergeordnete Vermutungen über nicht sichtbar agierende Mächte sind. Auch selektive Aufmerksamkeit hilft uns dabei, unsere Überzeugungen vor gegenteiligen Fakten abzuschirmen: Wir richten unsere Aufmerksamkeit schlicht auf diejenigen Informationen, die zu unserer bisherigen Auffassung passen, und schenken diesen Informationen auch mehr Vertrauen. Wenn beispielsweise zwei Menschen mit gegenteiliger Meinung zu einem Thema einen ausgewogenen Artikel lesen, der auf beide Seiten eingeht, dann fühlen sich beide Menschen in ihrer Sichtweise bestärkt und vertreten diese hinterher bisweilen sogar ausgeprägter als vorher; und sie geben gezielt Informationen an andere weiter, die zu ihrer Sicht passen. So kann ein und derselbe Artikel in zwei verschiedenen, ideologisch anders ausgerichteten sozialen Netzwerken jeweils als Bestätigung der eigenen Sicht aufgenommen und diskutiert werden. Dieses Phänomen wird noch durch unsere Neigung verstärkt, uns mit Gleichgesinnten zu umgeben („Homo­philie“). Im Endeffekt verstärken Menschen dann ihre Meinungen gegenseitig in zunehmend polarisierten sozialen Netzwerken, die jeweils unter sich bleiben und sich unter­­einander immer ähnlicher werden, aber immer weniger Überlappungen mit Andersdenkenden aufweisen (sogenannte „Echo­kammern“ oder „Filterblasen“).

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Fazit

Der Glaube an gefühlte Wahrheiten, von alternativen Fakten bis hin zu Verschwörungsmythen, ist kein neues Phänomen. Dennoch rückt er zum einen durch die Beobachtbarkeit in den sozialen Medien immer mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit: Was früher am Stammtisch oder beim Familientreffen an komischen Überzeugungen geäußert wurde, hat heute eine zumindest potenziell ungleich größere Sichtbarkeit in den Weiten des Internets. Zum anderen finden Verschwörungsmythen (und auch Vorstufen davon) gerade in der aktuellen Krise so stark Beachtung, weil sie ein Risiko für die Gemeinschaft darstellen, wohingegen uns andere abseitige Überzeugungen normalerweise nicht betreffen – sei es, dass jemand an Astrologie, Homöopathie oder Wieder­geburt glaubt. Doch bei einem ansteckenden Virus betrifft das Verhalten jedes Einzelnen nicht nur diesen Einzelnen, sondern die Gemeinschaft. Dabei reicht bereits eine kleine, aber lautstarke Minderheit aus, um die Anstrengungen der Mehrheit zu unterminieren, insbesondere wenn es ihr gelingt, die größere Gruppe der Unentschiedenen ein wenig auf ihre Seite zu ziehen, die sich nicht so sicher ist, was und wem sie glauben soll.

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Daher können uns diese Strömungen nicht kaltlassen. Aber was können wir tun? Mit gutem Recht deckt die Meinungsfreiheit auch absurde Überzeugungen sowie Halb- und Unwahrheiten, solange sie nicht strafrechtlich relevant sind (wie z.  B. im Falle von Volksverhetzung oder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, die sich auch in einigen Verschwörungsmythen finden). Es muss daher ums Überzeugen gehen, selbst wenn dafür nicht alle Menschen erreichbar sein werden. Dabei dürfen wir das Ziel nicht aufgeben, uns auch und gerade bei heiklen und emotional aufgeladenen Themen auf die Fakten zu einigen. Das ist sehr viel leichter gesagt als getan, da es uns allen leichter fällt, all das, was nicht ins eigene Weltbild passen, zu ignorieren oder zu beugen, statt unser Weltbild anzupassen oder anders zu begründen. Bei der Vermittlung von Fakten hilft eine transparente Kommunikation wissenschaftlicher Evidenz, die auch die Unsicherheiten mit offenlegt und benennt, was wir alles nicht wissen. Und die deutlich macht, dass Wissenschaft ein Prozess ist, bei dem um die Annäherung an die Wirklichkeit gerungen wird, der keineswegs perfekt ist, aber dennoch der beste Weg zu Erkenntnis, den wir haben.

Gleichzeitig sollte die Politik darlegen, wie und warum und anhand welcher Werturteile sie von diesen Fakten ausgehend zu bestimmten Entscheidungen gelangt. Es ist teilweise der – falsche und m. E. sogar gefährliche – Eindruck entstanden, dass nun plötzlich die Virologie mit ihren Infektionszahlen und Reproduktionsraten Politik machen würde. Aus Fakten, die, so gut wie möglich, die Wirklichkeit beschreiben, lassen sich aber keine wertenden Schlüsse ziehen. Dies erfordert weitere Werturteile (genauer: mindestens eine weitere wertende Annahme), und diese zu liefern und zu begründen gehört zu den vornehmsten Aufgaben der Politik, die ihr die Wissenschaft nicht abnehmen kann. Die Virologie kann in diesem Fall z. B. den zu erwartenden Schaden durch das Coronavirus abschätzen, je nachdem, welche Gegenmaßnahmen (oder das Unterlassen davon) gegeben sind. Diesen Schaden dann aber abzuwägen gegenüber den gesundheit­lichen, psychischen und gesellschaftlichen Schäden durch die Gegenmaßnahmen, das ist Sache der Politik. Und in einer Demokratie damit natürlich Sache von uns allen: Wir sollten danach streben, uns auf Fakten zu einigen, uns dann aber über die daraus folgenden wertebasierten Entscheidungen kontrovers und konstruktiv streiten. Dazu gehört, Andersdenkende, die für Fakten zugänglich sind, nicht auszugrenzen oder öffentlich hinzurichten, gleichzeitig aber klare Kante gegen alternative Fakten und Hetze zu zeigen. Nur ein solcher in der Realität verankerter, konstruktiver Streit kann gewährleisten, dass wir angemessen und verhältnismäßig im Sinne großer Teile der Bevölkerung auf die Corona-Pandemie reagieren: Ohne Leichtsinn und übermäßig viele Corona-Tote, aber auch ohne übertriebene Ängste, die uns Freiheitseinschränkungen und daraus folgende Schäden leichtfertig hinnehmen ließen. |

Autor

Prof. Dr. Wolfgang Gaissmaier erforscht menschliches Entscheiden und Umgang mit Risiko als Professor für Sozialpsychologie und Entscheidungsforschung an der Universität Konstanz (seit 2014). Zuvor war er leitender Wissenschaftler des Harding Zentrums für Risikokompetenz am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Er publiziert in international führenden Fachzeitschriften in Psychologie und Medizin und wurde u. a. mit der Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft für herausragende wissenschaftliche Leistungen ausgezeichnet.

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