Pandemie Spezial

Nicht nur Tröpfchen

Die SARS-CoV-2-Übertragung über Aerosole rückt zunehmend in den Fokus

Am 24. Januar 2020 reiste eine vierköpfige Familie aus Wuhan nach Guangzhou. Am nächsten Tag nahm sie das Mittagessen in einem traditionellen chinesischen Restaurant ein. Die vier Personen saßen an einem runden Tisch (Familie A). Im gleichen Raum, aber mehrere Meter entfernt, speisten zwei andere Familien ebenfalls an Rundtischen (Familien B und C). Am Abend bekam eine Person aus Familie A Fieber und hustete stark. Im Krankenhaus wurde eine Infektion mit SARS-CoV-2 diagnostiziert. Innerhalb der nächsten sieben Tage erkrankten alle Mitglieder von Familie A, sowie drei Personen von Familie B und zwei von Familie C an COVID-19. | Von Hermann Feldmeier 

Die Ansteckungen in der Familie A lassen sich durch Tröpfchen erklären, die von dem erkrankten Familienmitglied durch Niesen oder Husten in die Luft gelangten und sich im Halbkreis über den Tisch ausbreiteten. Die Familien B und C saßen allerdings zu weit entfernt, als dass virusbeladene Wassertröpfchen zu ihnen hätten gelangen können – sinken diese doch nach eineinhalb bis zwei Metern zu Boden (deshalb die Abstandsregel). Außerdem hatten die Familienmitglieder von Tisch B und C der infizierten Person an Tisch A den Rücken zugekehrt.

Wichtige Beobachtung ging unter

Wissenschaftler des Guangzhou Center for Disease Control and Prevention, die das Geschehen analysierten, vermuteten deshalb, dass sich die Coronaviren schwebend durch die Luft ausgebreitet und so die Menschen an den Nachbar­tischen infiziert hatten [1]. Allerdings ging die wichtige Beobachtung, dass SARS-CoV-2 in geschlossenen Räumen durch die Luft übertragen werden kann, im Chaos der sich rapide ausbreitenden Epidemie unter.

Tröpfchen, Aerosole, Schmierinfektionen

Wie jeden Dienstag traf sich der Chor des Landkreises Skagit, Bundesstaat Washington, auch am 10. März zur Probe im Gemeindehaus. Obwohl nur die Hälfte der 122 Chormitglieder erwartet wurde, blieb die Bestuhlung des Saals wie sie immer war. Mit der Folge, dass befreundete Sänger gewohnheitsgemäß dicht nebeneinander saßen, zwischen anderen dagegen ein Abstand von zwei Metern und mehr bestand. Die insgesamt zweieinhalbstündige Probe wurde durch eine 15-minütige Pause unterbrochen, in der Kekse und Getränke gereicht wurden. Nach der Pause teilte sich der Chor in mehrere Gruppen auf, die für 40 Minuten in kleineren Räumen probten. Keiner der Sänger wusste, dass sich unter ihnen ein Chormitglied befand, das mit SARS-CoV-2 infiziert war.

In den nächsten sieben Tagen erkrankten weitere sechs Chormitglieder an COVID-19 und mussten hospitalisiert werden. Davon starben zwei. Eine systematische Testung aller Sänger zeigte, dass sich 53 der 61 Teilnehmer während der Probe angesteckt hatten. Infektionsepidemiologen aus Washington, die den Ausbruch untersuchten, kamen zu der Schlussfolgerung, dass die Organisation der Chorprobe die Übertragung des Coronavirus in mehrfacher Weise begünstigt hatte: Die Verteilung von Keksen und Getränken während der Pause hatte vermutlich eine indirekte Übertragung im Sinne einer Schmierinfektion (kontaminierte Hände – Lebensmittel – Hand – Mund – Atemwege) begünstigt. Das enge Zusammensitzen und das Wechseln in die kleineren Räumen hatten eine Übertragung durch Tröpfchen, die von dem infizierten Sänger ausgeniest oder ausgehustet worden waren, ermöglicht. Die Tatsache allerdings, dass sich 87% der Sänger innerhalb von zweieinhalb Stunden infizierten, ließ sich nur durch eine Übertragung über die Atemluft erklären [2]. Beim Singen, so ist mittlerweile bekannt, gelangen Viren in Aerosolen – mikroskopisch kleine Tröpfchen mit einem Durchmesser von weniger als fünf Tausendstel Millimeter – in die Luft.

Tröpfchen oder Aerosole: feine Unterschiede

Der infektionstechnische Unterschied zwischen virushaltigen Tröpfchen und virushaltigen Aerosolen erschließt sich durch ihre physikalischen Merkmale. Tröpfchen entstehen beim Niesen, Husten und Schniefen. Sie haben einen Durchmesser zwischen fünf und 500 Mikrometer. Die größeren Tröpfchen sind an der Grenze der Sichtbarkeit – wie jeder weiß, der einmal auf eine spiegelnde Oberfläche geniest hat –, und das herausgeschleuderte Flüssigkeitsvolumen ist erheblich. Wer die Niesetikette befolgt, spürt die Feuchtigkeit selbst durch einen die Ellenbeuge bedeckenden Hemdärmel.

Tröpfchen sind schwerer als Luft und sinken in kurzer Zeit zu Boden. Oder sie landen auf Oberflächen und Gegenständen, mit denen die Hände in Berührung kommen. Je nach Größe können in einem einzigen Tröpfchen Tausend oder mehr Viren enthalten sein.

Aerosole sind zwischen 0,01 und fünf Mikrometer groß und nur mithilfe von Laserlicht sichtbar. Sie entstehen beim normalen Sprechen. Lautes Reden und Singen aus „vollem Hals“ geht stets mit Aerosolbildung einher. Viruspartikel – ähnlich wie feinste Staubpartikel – schweben in diesem ultrafeinen Aerosolnebel und bleiben an Ort und Stelle, solange sie nicht durch Luftbewegung verwirbelt werden. Ein virushaltiges Aerosol kann also ansteckend sein, wenn die Person, die es produziert, schon lange nicht mehr da ist.

Biophysikalische Experimente haben gezeigt, dass bei jedem Niesen ein sogenanntes „Turbulenzgas“ emittiert wird, ein Kontinuum von sichtbaren Tröpfchen bis zum mikroskopischen Aerosol. Während die Tröpfchen absinken, bleiben die Aerosole in der Luft.

Hohe Virus-RNA-Last in Patientenzimmern

Die Beobachtungen der chinesischen und amerikanischen Epidemiologen wurden in der Zwischenzeit durch experimentelle Studien belegt. In Wuhan filtrierten Wissenschaftler aus dem Modern Virology Research Center in zwei Krankenhäusern die Luft in Behandlungs- und Aufenthaltsräumen, bestimmten die Größe der Aerosole und quantifizierten die in dem mikroskopisch feinen Nebel enthaltende Menge von SARS-CoV-2-RNA [3]. Während die Konzentration von Virus-Erbgut in der Luft der Isolierstationen und in belüfteten Patientenzimmern sehr gering war, war sie in den Toiletten der Patientenzimmer und im Wartebereich (in dem neu ankommende Patienten dicht gedrängt saßen) hoch. Auch in Aufenthaltsräumen von medizinischem Personal war die Virus-RNA-Konzentration in der Luft besorgniserregend, sank aber auf einen nicht nachweisbaren Wert, nachdem adäquate Hygienemaßnahmen durchgeführt worden waren.

Studien in Singapur und in den USA bestätigen die Ergebnisse aus Wuhan. In den Räumen von einzeln liegenden Patienten mit COVID-19 ließ sich Virus-RNA in der Luft nachweisen – auch noch deutlich weiter als zwei Meter vom Bett des Patienten entfernt [4]. Und das, obwohl die Zimmerluft zwölfmal pro Stunde komplett ausgetauscht wurde. Auch hier war die Luft in den Toiletten extrem stark mit Virus-RNA belastet. Die Studie in einem Krankenhaus in Nebraska zeigte zudem, dass auf einer Quarantäne-Station mit milden COVID-19-­Fällen Virus-RNA in der Luft vorhanden war. Insgesamt wurde in zwei Dritteln aller Luftproben SARS-CoV-2-RNA in Aerosolen nachgewiesen [5].

Eine Gruppe von Infektionsmedizinern unter der Leitung von Neeltje von Doremalen vom National Institute of Allergy und Infectious Diseases in Hamilton, Massachusetts, hat die Studien aus Singapur und Nebraska experimentell überprüft. Zu diesem Zweck stellten die Forscher im Labor aus Wasser, das hochgradig mit SARS-CoV-2 „verunreinigt“ war, Aerosol-Nebel mit definierten Tröpfchengrößen her. Noch drei Stunden nach der Freisetzung des Virusnebels ließen sich immer noch Tausende Viruspartikel in einem Liter Luft nachweisen [6].

Problem Sprechen

Bleibt die Frage, ob SARS-CoV-2 durch einfaches Sprechen in die Luft gelangen kann. Das beweist eine kürzlich in den Proceedings of the National Academy of Science veröffentlichte Studie [7]. Wissenschaftler baten Menschen, Sätze mehrfach zu wiederholen. Basierend auf Erfahrungswerten über die Zahl von Viruspartikeln, die von COVID-19-Patienten über die Atemwege ausgeschieden werden, schätzten die Forscher, dass eine einzige Minute lauten Sprechens mindestens 1000 – möglicherweise aber auch mehr als 100.000 – virushaltige Flüssigkeitströpfchen erzeugt.

Selbst die Art des Sprechens hat einen Effekt auf die Viruskonzentration in der Luft [8]. Wissenschaftler des National Institute of Allergy and Infectious Diseases in Bethesda, Maryland, baten Probanden, den Ausdruck „stay healthy“ (bleib gesund!) laut auszusprechen. Ein Sprachgebilde, bei dem die Zungenspitze an den unteren Rand der oberen Schneidezähne stößt und bei korrekter Aussprache des „th“ eine feuchte Aussprache nahezu zwangsläufig ist. Die Ausbreitung des Flüssigkeitsnebels und die Konzentration der Viren wurde mittels Laser gemessen. Die Ergebnisse des gutgemeinten Wunsches zur Gesundheit waren frappierend: Selbst bei leiser Aussprache des „th“ gelangten massenhaft Viren aus dem Mund. Je lauter „stay healthy“ gesprochen wurde, umso mehr Erreger waren in der Luft nachweisbar.

Das letzte Glied in der Beweiskette für eine Übertragung von SARS-CoV-2 durch die Luft fehlt allerdings bislang. Nämlich zu beweisen, dass ein virushaltiger Aerosolnebel bei Einatmen durch eine gesunde Person zu einer Infektion führt. Ein solches Experiment ist unethisch und deshalb nicht durchführbar.

Aerosole bergen Infektionsrisiken

Gleichwohl sind sich Fachleute einig, dass in geschlossenen Räumen die Präsenz von SARS-CoV-2 in mikroskopisch feinen Nebeln ein potenzielles Infektionsrisiko darstellt. Lidia Morawska, eine Aerosolforscherin von der Queensland University of Technology formulierte es in einem Kommentar im Fachjournal „Nature“ so: sie „habe keinen Zweifel daran, dass sich SARS-CoV-2 auch über die Luft verbreitet“. Christian Drosten, der Leiter der Virologischen Abteilung der Charité in Berlin, geht noch einen Schritt weiter. In einem Interview im Deutschlandfunk am 25. Mai hält er die „Rolle, die Aerosole im Infektionsgeschehen von COVID-19 spielen, für genauso groß wie die von Tröpfchen“.

Die Einschätzung des weltweit anerkannten Coronavirus-Forschers reflektiert die zahlreichen Ausbrüche, die durch Teilnahme an Gottesdiensten (zum Beispiel im Februar in Südkorea, im März im Elsass und am 10. Mai in Frankfurt) verursacht wurden. Diese Gottesdienste hatten ähnliche ­infektionstechnische Merkmale wie die desaströse Gesangsprobe in Skagit County.

Die amerikanische National Academy of Sciences (NAS) hat zwischenzeitlich ihre Empfehlung zur Infektionsvermeidung entsprechend angepasst: „Die Präsenz von viraler RNA in Tröpfchen und Aerosolen ist ein deutlicher Hinweis dafür, dass eine Infektion über diesen Weg grundsätzlich möglich ist“, so die NAS in einem offiziellen Statement. Das Robert Koch-Institut hat sich der Trendwende angeschlossen, formuliert seine Empfehlungen aber verklausuliert: „Die bisherigen Untersuchungen weisen darauf hin, dass SARS-CoV-2-­Viren über Aerosole auch in gesellschaftlichem Umgang in besonderen Situationen übertragen werden können“.

Lüften, Abstand halten, Masken tragen!

Die biophysikalischen Merkmale von Aerosolen haben eine hohe praktische Relevanz: Virusnebel sind nur solange stabil, wie sich die Luft nicht bewegt. Jeder Luftzug verwirbelt den Nebel und verdünnt die Konzentration von Virus pro Liter Luft. Außerdem dehydrieren die mikroskopischen ­Nebel bei Luftbewegung – insbesondere, wenn die Luft warm ist – das heißt, sie trocknen im Handumdrehen aus. Das wiederum vermindert die Infektiosität. Innenräume konsequent zu entlüften, reduziert also das Infektionsrisiko. Bei geringen Temperaturdifferenzen zwischen Innen- und Außenluft erfüllt ein Ventilator denselben Zweck. Für die Infektionsvorsorge in der Apotheke bedeutet das, alle Räume (besonders auch die Toiletten) konsequent so zu belüften, dass Innenluft kontinuierlich nach außen transportiert wird. Belüftung als Vorsorgemaßnahme gegen COVID-19 ergänzt die Abstandsregel und das Tragen von Masken, macht diese Empfehlungen aber nicht überflüssig. |

Literatur

[1] Lu J, Gu J, Li K, Xu C, Su W, Lai Z, Zhou D, Yu C, Xu B, Yang Z. COVID-19 Outbreak Associated with Air Conditioning in Restaurant, Guangzhou, China, 2020. Emerg Infect Dis 2020;26(7), Online Vorveröffentlichung 2. April 2020, doi:10.3201/eid2607.200764

[2] Hamner L, Dubbel P, Capron I et al. High SARS-CoV-2 Attack Rate Following Exposure at a Choir Practice – Skagit County, Washington, March 2020. MMWR Morb Mortal Wkly Rep 2020;69(19):606-610

[3] Liu Y, Ning Z, Chen Y et al. Aerodynamic analysis of SARS-CoV-2 in two Wuhan hospitals. Nature 2020, Online Vorveröffentlichung 27. April 2020, doi:10.1038/s41586-020-2271-3

[4] Ong SWX, Tan YK, Chia PY et al. Air, Surface Environmental, and Personal Protective Equipment Contamination by Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 (SARS-CoV-2) From a Symptomatic Patient. JAMA 2020;323(16):1610-1612, doi:10.1001/jama.2020.3227

[5] Santarpia JL, Rivera DN, Herrera V, Morwitzer MJ, Creager H, Santarpia GW, Crown KK, Brett-Major D, Schnaubelt E, Broadhurst MJ, Lawler JV, Reid P St., Lowe JJ. Transmission Potential of SARS-CoV-2 in Viral Shedding Observed at the University of Nebraska Medical Center. medRxiv 2020; doi:10.1101/2020.03.23.20039446

[6] van Doremalen N, Bushmaker T, Morris DH et al. Aerosol and Surface Stability of SARS-CoV-2 as Compared with SARS-CoV-1. NEJM 2020;382(16):1564-1567, doi:10.1056/NEJMc2004973

[7] Stadnytskyi V, Bax CE, Bax A, Anfinrud P. The airborne lifetime of small speech droplets and their potential importance in SARS-CoV-2 transmission. Proceedings of the National Academy of Sciences 2020;202006874, Online Vorveröffentlichung 13. Mai 2020, doi:10.1073/pnas.2006874117

[8] Anfinrud P, Stadnytskyi V, Bax CE, Bax A. Visualizing Speech-Generated Oral Fluid Droplets with Laser Light Scattering. NJM 2020;382(21):2061-2063, doi:10.1056/NEJMc2007800

Autor

Prof. Dr. med. Hermann Feldmeier, Arzt für Mikrobiologie, Infektionsepidemiologie und Tropenmedizin. Außerordentlicher Professor an der Charité Universitätsmedizin Berlin, Mitglied internationaler Fachgremien, die sich mit vernachlässigten Tropenkrankheiten beschäftigen.

Institut für Mikrobiologie und Infektionsimmunologie, Charité Universitätsmedizin Berlin

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