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Graue: Politik unverdrossen im Tiefschlaf

Vorsitzender des Hamburger Apothekervereins Dr. Jörn Graue zum neuen Apothekengutachten

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gilt als besonders umtriebig. Jetzt will er mit einem neuen Apothekengutachten die Preisbindung verteidigen. Was ihn dabei antreibt, ist allerdings weniger politische ­Gestaltungsfreudigkeit, sondern Angst. Und zwar davor, mit seinem Vor-Ort-Apothekenstärkungsgesetz (VOASG) in Brüssel krachend zu scheitern – so, wie zuvor mit seinem Bonimodell in der eigenen CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Davon geht der Vorstandsvorsitzende des NARZ und Vorsitzende des Ham­burger Apothekervereins, Dr. Jörn Graue, aus.
Foto: DAZ/tmb

Dr. Jörn Graue könnte sich eine Bedarfsplanung für Apotheken vorstellen.

Kippe nämlich die EU-Kommission Spahns VOASG, komme es vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Sachen AM-Festpreise zu einem weiteren Verfahren. Das neue Gutachten, mit dessen Erstellung das IGES-Institut und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung beauftragt worden seien, solle für diesen Fall belastbares Datenmaterial liefern. Graue begrüßt, dass die Politik sich nun endlich in diese Richtung bewegt, bezweifelt aber, dass das geplante Gutachten ausreichen wird.

Die Krux liege darin, so der NARZ-Vorstandschef, dass der EuGH bereits mit seinem ersten Urteil zum DocMorris-Komplex von 2003 deutlich gemacht habe, dass wirtschaftliche Gründe per se nicht für ein Boni- beziehungsweise Versandhandelsverbot (und somit für eine Beschränkung des freien Warenverkehrs sowie der Dienstleistungsfreiheit) ausreichten. Ein derart schwerwiegender Eingriff wäre nach Auffassung der Luxemburger Richter nur zu rechtfertigen, wenn eine Regelung der Verkaufspreise für Arznei­mittel „integraler“ Bestandteil des nationalen Gesundheitswesens sei.

Mit anderen Worten: Bei der Preisbindung muss es sich tatsächlich um eine wesentliche, sprich: tragende Säule des nationalen Gesundheitswesens handeln. „Tatsache ist, dass seit 2003 niemand eine entsprechende Erklärung beim EuGH eingereicht hat und unsere Argumente für die Erforderlichkeit der Arzneimittelpreisverordnung nicht vorgetragen wurden“, stellt Graue in diesem Zusammenhang fest. Darum könne eine wirtschaftliche Argumentation allein nicht zielführend sein. Im Mittelpunkt müsse die Funktion des Versorgungssystems stehen.

Wird es in Zukunft eine Bedarfsplanung geben müssen?

Denn den Kardinalfehler sieht er in einem noch länger zurückliegenden Rechtsstreit und dem daraus resultierenden „Apothekenurteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 1958 zur Niederlassungsbeschränkung. Die Richter hätten damals die Frage verneint, ob für die Arzneimittelversorgung be­ziehungsweise das Apothekenwesen – analog zur ambulanten wie stationären ärztlichen Versorgung – eine (bis dahin existierende) Bedarfsplanung er­forderlich sei. Das Gericht sei zu dem Schluss gekommen, dass die Apotheken zwar einen wichtigen, aber nicht integralen Bestandteil des nationalen Gesundheitswesens darstellten. Daraus habe sich eine Fehlentwicklung ergeben, die sich nach Graues Einschätzung „nur schwer wieder umkehren lässt“. Dennoch liege das nicht völlig außerhalb des Möglichen, meint Graue.

Der NARZ-Vorstandsvorsitzende weiter: Betrachte man die gesetzgeberischen Aktivitäten der letzten Jahre, so sei die Absicht der Bundesregierung zu erkennen, die Zahl der Apotheken schrumpfen zu lassen. Wenn dieser ungeregelte Prozess nicht aus dem Ruder laufen solle „und man eine ausschließliche Allokation der Apotheken in den Ballungszentren verhindern will“, komme man eigentlich nicht darum herum, das Thema „hoheitliche Bedarfsplanung“ wieder auf die Agenda zu setzen. Eine Kassenzulassung oder lageabhängige Strukturhilfen seien mit der grundsätzlichen Niederlassungsfreiheit durchaus vereinbar. So könnte die ­Arzneimittelversorgung reguliert und flächendeckend gewährleistet werden. „Aber hier verharrt die Politik im Tiefschlaf“, konstatiert Graue. |

Jürgen R. Draxler

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