Hilfsmittel

Das ging in die Hose

Wie sich die Versorgung mit Inkontinenzhilfsmitteln seit Ende der Ausschreibungen entwickelt hat

Von Thomas Platz | Inkontinenzhilfsmittel waren früher eine klassische Domäne der Versorger vor Ort, den Apotheken. Mit Beginn der Ausschreibungen im Jahr 2007 wurden die Apotheken allerdings größtenteils aus dem Markt gedrängt. Nach zwölf Jahren Ausschreibungen und zunehmenden Protesten von Versicherten und Leistungserbringern wurde die Praxis der Ausschreibung im November 2019 aus dem SGB V wieder entfernt. Wie sieht die aktuelle Versorgungssituation aus?

Inkontinenz ist aufgrund der Vielzahl an Betroffenen für Kostenträger (aufgrund der Ausgaben), aber auch für verschiedene Leistungserbringer, die im Bereich Homecare aktiv sind, von großer Bedeutung. Man muss davon ausgehen, dass sich die Erkrankung und der daraus ergebende Markt gar nicht genau erfassen lassen, weil die Dunkelziffer wahrscheinlich hoch ist. Viele Betroffene und deren Angehörige kaufen aus Scham oder Unwissenheit über die Möglichkeit der Kostenübernahme Inkontinenzprodukte privat und werden daher bei den Krankenkassen überhaupt nicht gezählt. Dementsprechend hat sich die Angebotsstruktur verändert – mittlerweile werden sogar in Baumärkten Inkontinenzprodukte (neben beispielsweise Rollatoren) angeboten. Je nach Quelle ist von sechs bis zehn Millionen Betroffenen in Deutschland die Rede. In Pflegeheimen kann man von 60 bis 78 Prozent weiblichen Inkontinenzpatienten ausgehen und 45 bis 72 Prozent bei den Männern.

Neben verschiedenen Arten der Inkontinenz wie Belastungsinkontinenz (vor allem bei Frauen), Misch-, Drang- und Überlaufinkontinenz gibt es auch drei unterschiedliche Schweregrade:

  • Urinverlust beim Husten, Niesen, Pressen, Heben, Tragen schwerer Gegenstände
  • Urinverlust beim Gehen oder Aufstehen
  • Urinverlust bereits im Liegen

Voraussetzungen zur Abgabe der Hilfsmittel

Zur Abgabe von Inkontinenzhilfsmitteln ist neben einer Vertragspartnerschaft eine gültige Präqualifizierung nötig. Waren manche Kostenträger da noch sehr lange kulant, so wird jetzt konsequent darauf geachtet, dass der Leistungserbringer für das abzurechnende Produkt tatsächlich präquali­fiziert ist. Im Bereich der saugenden Inkontinenzhilfsmittel ist dies der Präqualifizierungsbereich 15A. Hilfsmittel zur Therapie der Inkontinenz sind im offiziellen Hilfsmittelverzeichnis in der Produktgruppe 15 aufgeführt und werden grob in zwei Gruppen unterteilt:

a) saugende Inkontinenzhilfsmittel: Hierzu zählen Netzhosen, Vorlagen, Windeln und Pants.

b) ableitende Inkontinenzhilfsmittel: Urinbeutel, Dauer-und Einmalkatheter

Übrigens gehören Krankenunterlagen (auch wiederverwendbare) zum Bereich der Pflegehilfsmittel – und damit nicht in die Produktgruppe 15.

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Hohe Aufzahlungen – schlechte Qualität. Durch die Anbieterexklusivität bei den Ausschreibungen sanken die Preise für aufsaugende Inkontinenzprodukte. Gleichzeitig sanken auch Qualität und Stückzahl der gelieferten Hilfsmittel. Im Gegenzug stiegen die wirtschaftlichen Aufzahlungen für die Patienten.

Ein Rückblick

Schon lange existieren gesetzliche Festbeträge (bzw. Höchstbeträge) für saugende Inkontinenzhilfsmittel. Anders als heute kamen diese Festbeträge – man kann es sich kaum vorstellen – auch tatsächlich zur Anwendung. Ab etwa dem Jahr 2005 setzten sich allerdings in Verträgen immer mehr Monatspauschalen durch. Diese betrugen in der Spitze bis zu 50 Euro netto! Im Vergleich zu heute kaum vorstellbare Vertragspreise. Als dann 2007 den Krankenkassen die Möglichkeit eingeräumt wurde, Hilfsmittel auszuschreiben, waren saugende Inkontinenzhilfsmittel ein gern gewähltes Produkt von Ausschreibungen. Vermeintlich einfach auszuschreiben, weil unkompliziert in der Handhabung, standardisier- und leicht austauschbar. Eine weit verbreitete Annahme: Beratung und Erklärungen zum Hilfsmittel seien in der Regel nicht notwendig. Vor allem die sogenannten „Versorger-Kassen“ mit vielen älteren und pflegebedürftigen Versicherten wählten diese Option. Das Versorgungsgebiet teilte man in mehrere Bereiche auf (in sogenannte Lose), und der Anbieter, der in einem Los das niedrigste Gebot auf eine Monatspauschale abgab, durfte exklusiv in diesem Postleitzahlengebiet versorgen. Andere Leistungserbringer waren damit ausgeschlossen und durften nicht versorgen bzw. nur dann, wenn der Ausschreibungsgewinner nicht in der Lage war – was in der Praxis so gut wie nie vorkam.

Durch diese Exklusivität sanken in der Folge bei Ausschreibungen die Preise bis auf einstellige Euro-Beträge. Gleichzeitig sanken damit aber auch die Qualität und die Stückzahl (!) der gelieferten Hilfsmittel. Im Gegenzug stiegen die wirtschaftlichen Aufzahlungen, weil die Versicherten die nunmehr angebotenen Produkte nicht mehr tolerierten. Wer kein Geld für die Aufzahlungen hatte, musste mit der angebotenen (minderwertigen) Ware und Stückzahl irgendwie versuchen auszukommen. Es häuften sich die Beschwerden von Versicherten, Verordnern und Patientenorganisationen. Das ging so weit, dass schließlich auch Politiker hellhörig wurden und die Krankenkassen mahnten, mit dem Instrument der Ausschreibung maßvoll umzugehen.

Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung führte 2016 sogar eine Versichertenbefragung zur Qualität im Bereich der Inkontinenzversorgung durch – ein bis heute einmaliger Vorgang. Kassen wurden daraufhin per Gesetz dazu verpflichtet, in Ausschreibungen auch die Komponente „Qualität“ in die Wertung von Angeboten einfließen zu lassen. Wie man dies allerdings vertragsrechtlich „wasserdicht“ handhaben soll, blieb und bleibt bis heute unklar.

Nachdem die Beschwerden, auch über andere ausgeschriebene Hilfsmittel wie beispielsweise Rollatoren, weiter anhielten bzw. zunahmen, entschloss man sich 2018, die Option der Ausschreibung von Hilfsmitteln letztendlich ab März 2019 komplett aus dem SGB V zu streichen. Noch laufende Ausschreibungen waren bis November 2019 zu beenden.

Nun waren beide Vertragspartner, sowohl die Ausschreibungsgewinner als auch die Kostenträger, in der Situation, dass beide Seiten die Praxis der Ausschreibung eigentlich fortführen wollten. Die Kostenträger, weil sie viel Zeit und Aufwand, teilweise mit juristischen Auseinandersetzungen, in die Vorbereitung und Durchführung der Ausschreibung investiert hatten und nun maximal vom günstigen Preis profitieren wollten. Ferner waren die Patienten ja umgesteuert worden auf die Ausschreibungsgewinner. Diese wiederum hatten für einen längeren Versorgungszeitraum und mit festen Versorgungszahlen geplant und dies auch bei ihren Angeboten mit einfließen lassen. Um an diesem Status quo also festhalten zu können, verhandelten die Kostenträger nach Ablauf der Frist, in der die Ausschreibungen ein für alle mal beendet werden mussten, beitrittsfähige Verträge mit den Ausschreibungsgewinnern. Allerdings wurden dort teilweise so niedrige Preise vereinbart, dass es nicht zu Beitritten anderer Leistungserbringer kommen konnte. Es lässt sich immer noch feststellen, dass aktuell das Preisniveau immer noch unter dem von vor den Ausschreibungen liegt.

Ärgernis Aufzahlungen

Wie in kaum einem anderen Bereich der Hilfsmittel, sind im Bereich der „saugenden Inkontinenz“ Aufzahlungen sehr stark verbreitet. Gerade bei den laufenden Ausschreibungen war es üblich, dass Versicherte eine Aufzahlung leisteten. Patientenverbände sprechen hier von 95 Prozent aller Versicherten und Summen bis zu 100 Euro – jeden Monat! Diese Tatsache setzt das Sachleistungsprinzip natürlich außer Kraft. Je niedriger die Vertragspreise wurden, desto schlechter wurde die angebotene Qualität, und dementsprechend stieg die Bereitschaft bei den Patienten und ihren Angehörigen, Aufzahlungen zu leisten. Wenn Ausschreibungsgewinner mit den Ausschreibungen überhaupt profitabel wirtschaften konnten, dann sicher nicht über den Ausschreibungspreis, sondern über das Nebengeschäft mit den Aufzahlungen der Versicherten. Man muss davon ausgehen, dass zahlreiche Ausschreibungsgewinner die Tatsache schlichtweg ausnutzten, dass sie der alleinige Versorger waren. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass manche während des Bieterverfahrens unwirtschaftlich niedrige Angebotspreise abgaben, um den Zuschlag zu erhalten, und darauf spekulierten, im Nachgang über Aufzahlungen die Gewinne zu erzielen.

Aber wann sind Aufzahlungen denn erlaubt? Sie sind auf jeden Fall nicht erlaubt, wenn die verordneten Produkte im Einkauf teurer sind als der Vertragspreis. Häufig ist es aber in der Realität so, dass der Versicherte dem Verordner sagt, was er gerne hätte. In diesem Fall lohnt sich die Nachfrage beim Verordner.

Ist die Verordnung allgemein gehalten – beispielsweise „Monatsbedarf Hilfsmittel zur saugenden Inkontinenz“ – so muss der Vertragspartner eine Versorgung ohne Aufzahlung anbieten. Erst wenn die angebotenen Produkte nicht gewünscht sind, ist eine Aufzahlung zulässig. Die Höhe ist alleinige Verhandlungssache zwischen Leistungserbringer und Versicherten.

Preiskampf im Hilfsmittelmarkt auf Kosten der Patienten

Foto: Screenshot

Am 12. August 2020 stellte die ARD in der Sendung „Plusminus“ den Fall der 92-jährigen Hilde Pohlmann dar, die Schwierigkeiten hat, einen Anbieter zu finden, der sie mit Inkontinenzhilfsmitteln versorgt. Geben Sie auf DAZ.­online in das Suchfeld den Webcode R8MD4 ein und gelangen Sie direkt zum Video.

Situation heute

Aktuell kann man als Apotheke jedem Vertrag über saugende Inkontinenzhilfsmittel beitreten, vorausgesetzt man ist dafür präqualifiziert. Denn schließlich gibt es nur noch Beitrittsverträge und keine Ausschreibungen mehr. Auch Verträgen, die Kosten­träger beispielsweise mit Orthopädie-Innungen abgeschlossen haben, darf eine Apotheke beitreten. Umgekehrt gilt dies natürlich auch.

Diesbezüglich gibt es mehrere entsprechende Urteile, nachdem Kassen unberechtigterweise Leistungserbringern einzig aufgrund ihrer Berufszugehörigkeit den Beitritt zu Verträgen verweigert haben. Natürlich lässt sich auch als einzelne Apotheke einem Vertrag beitreten, wenn der eigene Verband beispielsweise nicht involviert ist.

Fast alle Kassen haben in ihren Verträgen Monatspauschalen vereinbart. Im Minimum beträgt diese 14 Euro netto. Ist man einem Vertrag mit einer Monatspauschale beigetreten, so muss bei der Abrechnung die vertragsspezifische Hilfsmittelnummer angegeben werden – und nicht die Nummer der abgegebenen Produkte. Teilweise ist in den Verträgen auch auf Aufforderung die Erstellung einer Statistik über die Art und Anzahl der abgegebenen Produkte gefordert. Auch die Höhe der eventuellen Aufzahlung muss angegeben werden.

Ist man dagegen in keinem Vertrag, lohnt sich ein Kostenvoranschlag. Falls es im Umkreis keine anderen Versorger gibt, wird die Kasse in Höhe des Vertragspreises vergüten, anstatt den Patienten auf entfernte Vertragspartner umzusteuern. Das ist vor allem bei Kassen der Fall, die regional sehr stark sind, aber eben auch außerhalb ihres Haupteinzugsgebietes Versicherte versorgen müssen. Sicherlich ist es auch so, dass Versicherte bevorzugt ihre Hilfsmittel in der Apotheke vor Ort beziehen als über einen Versender.

Vorsicht ist geboten bei Patienten, die in Pflegeheimen untergebracht sind: Häufig haben diese Heime eigene Verträge mit Kostenträgern abgeschlossen und sind zur Versorgung mit saugenden Inkontinenz­hilfsmitteln verpflichtet. Eine Doppelvergütung möchten die Kassen dann natürlich nicht zahlen, daher wird in der Regel nur das Heim die ver­einbarte Vergütung erhalten. |

Autor

Thomas Platz hat sowohl für Kostenträger als auch Leistungserbringer und für den Hessischen Apothekerverband im Bereich der Hilfsmittelverträge gearbeitet.

Er schult in Apotheken vor Ort rund um das Thema Hilfsmittel.

Kontakt: (01 63) 6 34 44 27 apothekenschulung@mail.de

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