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Hilfsmittel

„Halten“ unmöglich

Durchblick im Dschungel der Inkontinenzprodukte

Inkontinenz lässt sich nur in ge­ringem Maße durch Arzneimittel beeinflussen. In den meisten Fällen werden die Betroffenen auf Hilfsmittel angewiesen sein. Eine möglichst an den individuellen Gegebenheiten orientierte Versorgung ist daher wichtig, da sie einen wesentlichen Einfluss auf die soziale Teilhabe der Patienten hat. Die Betroffenen isolieren sich, werden zunehmend immobiler und das Risiko für Pflegebedürftigkeit steigt. Deutlich mehr als die Hälfte alle Pflege­bedürftigen leiden unter Harn- oder Harn- und Stuhl­inkontinenz. In diesen Fällen erfolgt die Versorgung üblicherweise mit aufsaugenden Inkontinenzprodukten. | Von Constanze Schäfer

Ein Superabsorber, meist Natrium-Polyacrylat, macht es möglich, dass große Mengen an Flüssigkeit schnell und effektiv unter Bildung eines Gels aufgesogen werden. Das Gel kann bis zum Tausendfachen seines Eigengewichts an Wasser speichern. Bei Urin ist die Aufnahmekapazität jedoch um den Faktor zehn geringer, das bedeutet, dass nur etwa das Hundertfache des Eigengewichts an Flüssigkeit gebunden werden kann. Die Funktionsweise der Gelbildner beruht auf osmotischen Prozessen (Abb. 1): Die Natrium-Ionen innerhalb des Polyacrylats, das in trockener Form knäuelartig strukturiert ist, verstärken diesen Effekt der Polyacrylsäure. Das Wasser hydratisiert die Natriumionen und das Knäuel entfaltet sich. Es bildet sich ein Hydrogel mit zahlreichen Wasserstoffbrücken, die zur Stabilität und zur festen Bindung des Wassers in der Polymerstruktur beitragen. Je ­höher der Natriumanteil in dem Superabsorber ist, desto größer ist die Saug- und Quell­fähigkeit der Produkte. Ein wichtiger Nebeneffekt: Der typische Uringeruch wird ebenfalls gebunden und die Flüssigkeit wird durch mechanische Belastung nicht wieder freigesetzt. Deshalb fühlt sich auch eine vollgesogene Windel auf ihrer inneren Oberfläche trocken an. Zugleich ermöglicht diese Eigenschaft, dass anstelle einer okklusiv abdichtenden Plastikfolie eine atmungsaktive Schutzschicht für die Außenseite der Produkte verwendet werden kann. All diese Eigenschaften sorgen für einen guten Tragekomfort.

Abb. 1: Funktionsweise eines Superabsorbers am Beispiel des Natrium-Polyacrylats

Drei Typen aufsaugender Inkontinenzprodukte

Abb. 3: Aufbau einer Vorlage

In den Inkontinenz-Einwegprodukten sind diese Superabsorber verarbeitet (Abb. 3). Um eine optimale und schnelle Verteilung der Flüssigkeit über den gesamten mit Cellulose eingekleideten Aufsaugkern zu gewährleisten, befindet sich direkt unter dem Aufnahmevlies eine Verteilerschicht. Dies garantiert eine gleichmäßige Verteilung, sodass über den ganzen Aufsaugkern hinweg die Flüssigkeit gebunden wird. Ansonsten würde sich nur direkt im Umfeld des Harnleiterausgangs das Gel bilden und zu einem späteren Zeitpunkt könnte abfließender Urin nicht erneut so schnell gebunden werden. Die Folge wäre Austritt von Urin aus der Vorlage und die Haut wäre kontinuierlich einem feuchten Klima ausgesetzt.

Je nach Stärke der Inkontinenz stehen unterschiedliche Produkte zur Auswahl (Abb. 2), wobei nicht selten eine Kombination der Produkte wünschenswert ist. So kann eine Windel für nachts, die größere Mengen an Urin binden kann, sinnvoll sein, obgleich tagsüber ein Produkt mit deutlich geringerer Aufnahmekapazität im Normalfall ausreicht (s. Tab. 1).

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Abb. 2: Verschiedene Inkontinenzhilfsmittel im Überblick

Tab. 1: Inkontinenzstärke
Stärke
Harnverlust in ml pro Tag bzw. Vorgabe nach Hilfsmittel­verzeichnis in ml/4 Stunden
Geeignete Produkte
sehr leicht
bis ca. 30 ml/Tag
Einlagen, Vorlagen
leicht
ca. 50 – 300 ml/Tag
Vorlagen
Windeln
Pants
mittel
ca. 400 – 800 ml/Tag oder 100 – 200 ml in 4 Stunden
Windeln (evtl. mit Hüftgürtel)
Pants
stark/schwer
ab ca. 900 ml/Tag oder 200 – 300 ml in 4 Stunden
Windeln
Pants
schwerste
über 300 ml in 4 Stunden
Windeln
Pants

Vorlagen

Inkontinenzvorlagen gibt es mit Klebestreifen ähnlich Monatsbinden, die in Unterhosen eingeklebt werden können. Die Produkte werden für Frauen und Männer in unterschiedlicher Ausgestaltung angeboten. Für leichte Inkontinenz oder nur gelegentlichen Urinverlust in kleinen Mengen sind diese Produkte vollkommen ausreichend. Diese Produkte werden in der Regel nicht von den Kassen finanziert.

Für leichte bis mittelschwere Inkontinenz werden anatomisch geformte Inkontinenzeinlagen und -vorlagen – spezielle Produkte für Frauen und Männer – angeboten, die mit einer Netz- oder Fixierhose für den perfekten Sitz getragen werden. Diese Produkte werden wie auch die nachfolgend vorgestellten im Hilfsmittelverzeichnis berücksichtigt. Dort sind unter 15.25.30 die Mindestanforderungen an die Eigenschaften für alle aufsaugenden Einweg-Inkontinenzpro­dukte beschrieben: „Vorlagen besitzen die Eigenschaften, Urin auf­zusaugen, ihn möglichst hautfern zu speichern und eine rückläufige Befeuchtung der Haut (Rücknässung) durch aufsaugendes Material zu verhindern sowie Gerüche zu absorbieren. Die Produkte verfügen über eine feuchtigkeitsundurchlässige Außenschicht.“

Die Vorlagen schmiegen sich perfekt an, tragen nicht auf und zeichnen sich unter der Kleidung auch nicht ab. Über der Netzhose kann normale Unterwäsche getragen werden. Netzhosen haben teilweise Baumwollanteil, verfügen über verstärkte Bündchen, sind elastisch und waschbar. Es gibt Netzhosen auch als Einwegprodukte.

Inkontinenzwindeln

Hierbei handelt es sich um Vorlagen in Unterhosenform, die seitlich offen sind und mit Klebe- oder Klettverschlüssen angepasst werden. Diese Klebeverschlüsse müssen mehrfach verschließbar sein, um eventuell die Windel nachjustieren zu können. Nur eine eng am Körper anliegende Windel sorgt für eine sichere Aufnahme des Urins. Auch bei Stuhlinkontinenz können diese Produkte eingesetzt werden. Hierbei sollte zum Schutz der Haut ein zeitnaher Wechsel der Windel nach Abgang des Stuhls vorgenommen werden.

Windeln werden überwiegend für die Versorgung pflege­bedürftiger, bettlägeriger Patienten genutzt. Für körperlich aktive Menschen, die eine solche Versorgung benötigen, wird zusätzlich ein Hüftgürtel angeboten, um einen guten Sitz zu gewährleisten. Da das eigenständige Anlegen von Windeln jedoch einer gewissen Übung bedarf, sind für mobile Patienten mit mittelstarker bis starker Inkontinenz Pants meist alltagstauglicher.

Pants

Windel-Pants oder -Slips – auch Pull-on – lassen sich wie herkömmliche Unterhosen anziehen. Sie haben zum Schutz gegen das Auslaufen speziell gearbeitete Ränder und elastische Beinbündchen. Falls zwischendurch eine Toilette zum Beispiel für den Stuhlgang aufgesucht wird, kann die Pants wie gewohnt heruntergelassen und danach wieder raufgezogen werden. Gleichzeitig ermöglicht die Verarbeitung, dass zum Wechseln auch die seitlichen elastischen Nähte aufgerissen werden können. Diese Form der Versorgung ist besonders für mobile Menschen, die ohne Pflegeunterstützung ihren Alltag bewältigen, geeignet. Pants sind unauffällig, ermöglichen einen normalen Tagesablauf und erhalten damit die Teilhabe am sozialen Leben. Pants werden unisex oder aber mit einigen anatomischen Anpassungen für Männer und Frauen sowie in unterschiedlichen Saugstärken angeboten. Im Vergleich zu Windeln sind Pants nicht für Patienten mit Stuhlinkontinenz sondern lediglich bei Stuhlschmieren – Abgang kleinster Stuhlmengen – geeignet. Besonders wichtig für die richtige Auswahl des Produktes ist der Bauch­umfang (s. Tab. 2).

Tab. 2: Größen für Pants
Größen (kann je nach Hersteller variieren, deshalb in Produkt­information nachsehen)
Bauchumfang
S
60 – 90 cm
M
80 – 120 cm
L
120 – 150 cm
XL
130 – 170 cm
XXL
150 – 200 cm

Mehrwegprodukte

Neben den beschriebenen Einwegprodukten gibt es wiederverwendbare, waschbare Lösungen. Allerdings hat sich in den letzten Jahren das Angebot deutlich verringert. So sind im Hilfsmittelverzeichnis inzwischen keine wiederverwendbaren Inkontinenzvorlagen mehr gelistet. Die Produkte müssen durch ein Mehrkammersystem und eine Vliesschicht den Rückfluss des Urins verhindern. Durch eine spezielle Gestaltung der Bündchen soll das Auslaufen verhindert werden. Waschbare Inkontinenzprodukte sind für das 300-malige Waschen bei 95 °C ausgelegt und sind zudem Trockner-geeignet. Die Mehrwegprodukte dürfen jedoch nicht gebügelt werden. Ob die Ökobilanz für Mehrwegprodukte tatsächlich deutlich besser ausfällt im Vergleich zu Einwegprodukten wird im Bereich der Säuglingswindeln immer wieder kontrovers diskutiert. Auch wenn Einweg­windeln beispielsweise nur über Müllverbrennung entsorgt werden können, sollte die notwendige Aufbereitung der Mehrwegprodukte – Waschen bei 95 °C, Trocknen im Wäschetrockner, damit die Produkte sich auf der Haut möglichst weich anfühlen – hinsichtlich des Wasser- und Stromverbrauchs auch nicht unterschätzt werden.

Ableitende Systeme

Insbesondere bettlägerige Patienten werden bei schwerer Inkontinenz mit Dauerkathetern und Bein- bzw. Bettbeuteln versorgt. Dabei werden zweilumige Dauerkatheter aus Silikon gelegt, die durch Auffüllen eines kleinen Ballons über eine Spritze mit Wasser in der Blase positioniert werden. Vor dem Entfernen des Katheters muss das Wasser mit der Spritze wieder abgelassen werden. Dauerkatheter bergen das Risiko häufiger Harnwegsinfekte. Je nach Geschlecht und Körpergröße wird Typ und Größe der Katheter ausgewählt (s. Tab. 3). Deshalb sollte das Für und Wider ihres Einsatzes kritisch abgewogen werden. Die Katheter werden mittels Konnektoren über einen Schlauch mit dem Auffangbeutel verbunden. Dabei gibt es Einwegbeutel und Beutel mit einem Ablassventil, die mehrfach genutzt werden können und zwischendurch in der Toilette entleert werden. Außerdem müssen die Mehrwegbeutel regelmäßig desinfiziert werden, um aufsteigende Harnwegsinfekte zu vermeiden. Das Robert Koch-Institut (RKI) hat dafür Empfehlungen veröffentlicht. Bei Patienten, die noch mobil sind, können die Beutel über einen Beingurt am Unterschenkel befestigt werden. Die Beinbeutel verfügen dafür über Schlitze in den vier Ecken, durch die das Gurtband zur Befestigung gefädelt wird. Bettbeutel hingegen werden mit den vorgesehenen Aufhängelöchern am oberen Beutelrand in ein Bettbeutelgestell eingehängt.

Tab. 3: Katheterauswahl in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht
Geschlecht
weiblich
männlich
Alter
Kind
Erwachsene
Kind
Erwachsene
Kathetertyp
Nelaton-Katheter (abgerundete Spitze)
Tiemann-Katheter (spitz zulaufend, leicht gebogen, lässt sich leichter einführen; alternativ Nelaton-Katheter)
Länge in Zentimeter
12 – 20
18 – 20
12 – 20
40
Durchmesser (in Charrière = Ch)
8 – 10
12 – 14
8 – 10
16 – 18

Tipps zum (Selbst-)Anlegen von Windeln

Die Hersteller der Produkte – Attends Healthcare AB, Paul Hartmann AG, SCA Hygiene Products etc. – bieten auf ihren Homepages (oft unter der jeweiligen Produktbezeichnung) Beschreibungen und Schulungsvideos für das Selbst- und Fremd-Anlegen von Inkontinenzprodukten an.

Bei mobilen Männern kommen neben den aufsaugenden Vorlagen gelegentlich auch Urinalkondome zum Einsatz. Dabei wird das Urinalkondom über den Penis vergleichbar einem Kondom gestreift. Für einen optimalen Halt kann zusätzlich ein Klebestreifen auf der Innenseite am oberen Rand des Kondoms aufgebracht Und das Kondom damit auf der Haut zusätzlich aufgeklebt werden. Urinalkondome stehen aus unterschiedlichen Materialien mit oder ohne Latexzusatz und in verschiedenen Größen zur Verfügung. An der Spitze des Urinalkondoms befindet sich der Konnektor zum Anschließen eines Beinbeutels, der dann wie oben beschrieben mit einem Haltegurt am Unterschenkel befestigt wird. |

Autorin

Apothekerin Dr. Constanze Schäfer MHA, Studium der Pharmazie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, seit 1999 Abteilungsleiterin für den Bereich Aus- und Fortbildung der Apothekerkammer Nordrhein. Freiberufliche Autorin zahlreicher Zeitschriftenartikel und Fachbücher. Im Deutschen Apotheker Verlag sind von ihr die Kitteltaschenbücher „Hilfsmittel und Medizinprodukte“ und „Gifte und Vergiftungen“ erschienen. Sie ist Mitherausgeberin des Buches „Geriatrische Pharmazie“.

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