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Wirtschaft

IGES-Institut liefert Daten... aber keine Empfehlungen

Was steht im Gutachten zum Apothekenmarkt?

Das „Ökonomische Gutachten zum Apothekenmarkt“, das das Bundesgesundheitsministerium beim IGES-Institut in Auftrag gegeben hatte, wurde am 9. September veröffentlicht. Es erschien damit zwei Tage vor der Bundestagsdebatte über das Vor-Ort-Apothekenstärkungsgesetz (VOASG). Die Gutachter haben den Abgeordneten allerdings keine Handlungsempfehlung gegeben. Doch das Gutachten bietet bemerkenswerte Daten zur Erreichbarkeit der Apotheken, einige Denkanstöße, etwas Streitpotenzial, ein abstraktes spieltheoretisches Modell und viele offene Fragen. | Von Thomas Müller-Bohn 

Erfreulicherweise enthält das Gutachten keine ideologisch motivierten Angriffe auf die Apotheken, die manche Apotheker vor der Veröffentlichung befürchtet hatten. Es ist nicht polemisch und ermöglicht eine sachliche Diskussion. Über die Relevanz des spieltheoretischen Modells lässt sich ­streiten.

Sachliche Ist-Analyse

Ein wesentlicher Teil des Gutachtens besteht aus einer „Ist-Analyse des Apothekenmarktes“. Zunächst werden die rechtlichen Rahmenbedingungen dargestellt. Bei der Beschreibung des Wettbewerbs unter den Apotheken irritiert, dass die Autoren „Service-Aspekte, wie zeitnahe Beschaffung von Arzneimitteln und Dienstleistungen“ sowie den Standort erwähnen, aber nicht den Leistungswettbewerb um die Beratungsqualität. Doch trotz der wettbewerblichen und wenig heilberuflichen Orientierung der Gutachter berücksichtigen sie die Versorgungsleistung der Apotheken. Sie verweisen auf die asymmetrische Regulierung für Versand- und Präsenzapotheken. Dabei wird jedoch nicht deutlich, dass in Deutschland nur Präsenzapotheken Arzneimittel versenden dürfen und alle Regularien für Präsenzapotheken damit auch die inländischen Versender treffen. Ansonsten wird sorgfältig zwischen den Regeln für in- und ausländische Versender unterschieden. Die Autoren sehen in der Mehrbesitzbeschränkung vor allem eine Verhinderung von Größenvorteilen, die die Wirtschaftlichkeit belasten könne. Möglicherweise kann dies eine neue Debatte über die Zulassung größerer Filialverbünde auslösen.

Bedeutung des Festzuschlags anerkannt

Bemerkenswert erscheint der Hinweis, die Preise für Fertigarzneimittel würden „historisch bedingt“ weitere Pflichtaufgaben „in großen Teilen“ mitfinanzieren. Für diese Aufgaben gebe es „keine kostendeckenden Zuschläge oder spezifischen Vergütungen“. Die Autoren erkennen dies also an und liefern implizit die Begründung mit, dass die Apotheken für diese Pflichtaufgaben keine andere Finanzierungsquelle haben. Im Honorargutachten von „2hm“ war dieser Zusammenhang so nicht anerkannt worden.

Versender begünstigt – Vor-Ort-Apotheken belastet

Die IGES-Gutachter konstatieren, dass diese Honorierung die Versender begünstigt, weil dort Größenvorteile entstehen und viele Pflichten entfallen. Außerdem kämen Arzneimittel mit höheren Handlungskosten im Versand seltener vor. Befürworter gestaffelter Festzuschläge könnten sich auf diese Passage stützen, das Gutachten geht aber auf diese Idee nicht ein. Die Gutachter erklären übereinstimmend mit der Begründung zum VOASG, aber ohne ausdrücklichen Verweis, dass Rabatte der ausländischen Versender für die Patienten das Sachleistungsprinzip der GKV unterlaufen können und die Steuerungswirkung der Zuzahlung verringern. Die Gutachter verweisen darauf, dass der EuGH sein Urteil zur Preisbindung „wesentlich mit fehlenden Wettbewerbschancen der ausländischen Versandhändler beim Marktzugang begründet“ hat. Doch mit dem E-Rezept würden sich die Möglichkeiten der Versender für den Kundenkontakt zunehmend erweitern. Vom E-Rezept seien grundlegende Veränderungen der Wettbewerbssituation für Apotheken zu erwarten. Dies könnte mit einiger Fantasie als Ermutigung verstanden werden, vor dem Hintergrund des E-Rezepts ein neues EuGH-Verfahren zu forcieren.

In der Beschreibung der Marktentwicklung werden die ungünstigen Tendenzen für die Apotheken transparent gemacht. Die Gesundheitsausgaben in Apotheken sind langfristig gestiegen, aber die für die Honorierung wesentliche Packungszahl stagniert oder sinkt. Seit 2009 sinkt die Apothekenzahl. Die Preise für OTC-Arzneimittel sind seit der Preisfreigabe im Jahr 2004 gesunken, der Versand hatte bei OTC-Arzneimitteln im Jahr 2019 einen Marktanteil von etwa 19 Prozent.

Rx-Boni nur bei der Einfuhr nach Deutschland

Die Gutachter stellen fest, dass die Möglichkeit, direkte Rabatte auf Rx-Arzneimittel zu geben, in Europa nur von ausländischen Apotheken beim Versand nach Deutschland angewendet wird. In den übrigen europäischen Ländern würden im Zusammenhang mit der Abgabe von Rx-Arzneimitteln bisher nur Rabatte für gleichzeitig oder später erworbene OTC-Produkte oder unentgeltliche Zusatzdienstleistungen gewährt. Die Zuzahlungen in Deutschland böten den ausländischen Versendern eine „vergleichsweise unkomplizierte Möglichkeit“, GKV-Versicherten monetäre Rabatte zu gewähren. Die Gutachter führen die naheliegende Konsequenz nicht aus. Doch hier drängt sich die Frage auf, welche europäische Geschäftspraxis die EU-Kommission verletzt sieht, wenn das Geschäftsmodell nur an den Grenzen eines Landes praktiziert wird.

Fragliche Verteilung des Rohertrags auf Sortimentsgruppen

Um die Verteilung des Apothekenrohertrags auf die Sortimentsgruppen zu schätzen, haben die Gutachter die Roherträge für Rx- und verordnete OTC-Arzneimittel anhand der Preisbildungsvorschriften ermittelt. Sie räumen ein, dass dabei die Rabatte des Großhandels an die Apotheken unberücksichtigt bleiben. Die Roherträge für die übrigen Produkte ergeben sich als Differenz zur Handelsspanne gemäß der Jahresstatistik im Handel. Demnach haben Rx-Arzneimittel im Jahr 2018 nur 53 Prozent zum Rohertrag der Apotheken beigetragen, obwohl sie 81 Prozent des Umsatzes ausmachen. Die Autoren folgern, dass der Preiswettbewerb bei OTC-Arzneimitteln spürbare Auswirkungen auf die Ertragssituation der Apotheken hat. Die Gutachter stellen das Ergebnis ihrer Schätzung nicht infrage, aber es erscheint so verwunderlich, dass hierzu weitere Analysen angestellt werden sollten, bevor daraus falsche Schlüsse gezogen werden.

Vergleiche betriebswirtschaftlicher Kennzahlen

Als betriebswirtschaftliche Kennzahlen nennt das Gutachten Daten der ABDA und der Jahresstatistik des Handels und vergleicht diese. Die Gutachter weisen auf einige Schwächen der vom Statistischen Bundesamt erstellten Jahresstatistik hin. Dort würden auch apothekenfremde Einheiten im Besitz von Apothekern erfasst, beispielsweise Reform- oder Sanitätshäuser. Die Kostenstruktur der Apotheken wird auch mit der Kostenstruktur des Versandhandels gemäß dem Statistischen Bundesamt verglichen. Dabei geht es allerdings nicht um Versandapotheken, sondern um den gesamten Versandhandel. Erwartungsgemäß ist der Anteil der Personalkosten bei den Apotheken viel höher.

Betriebsergebnisse in Abhängigkeit vom Umsatz

Die Angaben der Jahresstatistik des Handels zu Betriebsergebnissen von Apotheken sind offenbar problematisch, weil einige Filialen dort als eigenständige Unternehmen erfasst werden und wiederum andere Unternehmen von Apothekern miterfasst werden. Die Gutachter haben versucht, dies durch Korrekturrechnungen auszugleichen, und so eine Schätzung der Vorsteuergewinne von Apothekenunternehmen (also Einzelapotheken oder Verbünden) für das Jahr 2017 erstellt. Allerdings ist diese Schätzung als problematisch zu betrachten. Denn obwohl die Gutachter auf die Diskrepanz der Apothekenzahlen zwischen den Angaben der ABDA und der Jahresstatistik des Handels hinweisen, geht die Betrachtung von 17.340 Apothekenunternehmen aus, obwohl die ABDA 2017 nur 15.236 Haupt- oder Einzelapotheken gezählt hat. Gemäß der IGES-Schätzung für 2017 betrug der Gewinn in Apotheken mit unter einer Million Euro Umsatz durchschnittlich 57.286 Euro. Für Apotheken mit ein bis zwei Millionen Euro Umsatz waren es durchschnittlich 93.574 Euro und bei Umsätzen von zwei bis fünf Millionen Euro durchschnittlich 182.123 Euro. Bei Umsätzen über zehn Millionen Euro betrug der Gewinn durchschnittlich 850.632 Euro. Fast 47 Prozent der Apothekenunternehmen entfielen auf die Klassen mit Umsätzen unter zwei Millionen Euro.

E-Rezept: Erfahrungen aus dem Ausland

Mit Blick auf die geplante Einführung des E-Rezeptes haben die Gutachter nach Erfahrungen aus anderen Ländern gesucht. Doch in keinem Land mit E-Rezepten sei zusätzlich die Preisbindung für in- oder ausländische Rx-Anbieter aufgehoben. In acht europäischen Ländern mit E-Rezept sei der Rx-Versand erlaubt. Gemäß einer Analyse des Markt­forschungsunternehmens IQVIA liege der Marktanteil des Versandhandels in England, Norwegen, Finnland, Dänemark, Portugal und den Niederlanden bei höchstens 2 Prozent, betrage aber in Schweden 7 Prozent und in der Schweiz 12 Prozent. Entscheidend dafür seien vermutlich die geringe Apothekendichte in einigen Regionen Schwedens und in einigen Schweizer Kantonen.

Größte Apothekendichte in Mittelstädten

Weitere Betrachtungen betreffen die räumliche Verteilung der Apotheken in Deutschland. Demnach ist die Zahl der Apotheken in Großstädten am stärksten und in ländlichen Regionen am wenigsten gesunken. Die Apothekendichte ist in Mittelstädten am größten und in Landgemeinden am kleinsten. Zur möglichen weiteren Entwicklung aufgrund des Arzneimittelversandes verweisen die Autoren auf die branchenübergreifende Situation des Versandes, der in ländlichen Regionen eher weniger genutzt wird als in Städten. Offenbar tendieren eher junge Menschen und Bewohner wohlhabender Regionen zum Einkauf im Versand.

Ende Februar 2020 und bezogen auf die Gebietsstrukturen von Ende 2018 gibt es in Deutschland 11.014 Gemeinden, von denen nur 4631 Gemeinden über mindestens eine Apotheke verfügen. Für die Relation zwischen der Einwohnerzahl und der Zahl der Apotheken pro Gemeinde besteht eine sehr enge Korrelation. Die 6383 Gemeinden ohne Apotheke umfassen 30 Prozent der Fläche Deutschlands, aber darin leben nur 7,9 Prozent der Bevölkerung.

Neue Daten zur Erreichbarkeit

Zur Erreichbarkeit der Apotheken bietet das Gutachten eine beeindruckende Analyse mit einer Fundgrube an neuen Daten. Dazu wurde ein Gitternetz mit 3,1 Millionen Zellen im Format von 100 mal 100 Metern ausgewertet. Dabei wurden tatsächliche Wege und reale Fahrzeiten berücksichtigt. Die Analyse bezieht sich auf ganz Deutschland mit Ausnahme von elf Inselgemeinden. Demnach erreichen 98,0 Prozent der Einwohner innerhalb von zehn Minuten mit dem Auto eine Apotheke, zu Fuß aber nur 34,9 Prozent. Bereits diese grobe Betrachtung zeigt, dass die Erreichbarkeit zu Fuß vielerorts kritisch ist. In einer ersten Stellungnahme zum Gutachten wertete Sabine Dittmar, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, die flächendeckende Versorgung als gut, weil 92 Prozent der Bevölkerung in fünf Kilometern eine Apotheke erreichen können (siehe AZ 2020, Nr. 38, S. 8).

Versorgung oft abhängig von nur einer Apotheke

Doch das Gutachten bietet genauere Einblicke. Demnach erreichen 97,4 Prozent der Bewohner großer Großstädte in fünf Minuten mit dem Auto eine Apotheke. In kleinen Kleinstädten erreichen 96,2 Prozent der Einwohner mit dem Auto in zehn Minuten eine Apotheke, in Landgemeinden 90,3 Prozent. Eine andere Zahl ist jedoch mindestens ebenso wichtig. Im Zehn-Minuten-Auto-Radius liegen in kleinen Kleinstädten durchschnittlich 4,8 Apotheken und in Landgemeinden 3,5 Apotheken. Im Fünf-Minuten-Auto-Radius sind es in kleinen Kleinstädten jedoch nur 1,8 Apotheken und in Landgemeinden 1,3 Apotheken. Leider benennen die Autoren nicht die naheliegende Konsequenz: Wenn diese Zahl unter 2,0 liegt, steht nach der Schließung einer Apotheke im Durchschnittsfall in diesem Radius keine andere Apotheke mehr zur Verfügung. Die Versorgung hängt dort also an einer einzigen Apotheke. Die Daten zeigen, dass dies die durchschnittliche Situation in kleinen Kleinstädten und Landgemeinden ist, soweit es um die Erreichbarkeit mit dem Auto innerhalb von fünf Minuten geht.

Begrenzte Erreichbarkeit zu Fuß

Noch viel deutlicher wird dies bei der Erreichbarkeit zu Fuß. In kreisfreien Großstädten erreichen 55,0 Prozent der Einwohner in zehn Minuten eine Apotheke, in städtischen Kreisen nur 30,6 Prozent. In diesem Radius befinden sich in kreisfreien Großstädten durchschnittlich 2,1 Apotheken und in städtischen Kreisen 1,7 Apotheken. Sogar in städtischen Kreisen erreichen nur 62,1 Prozent der Einwohner in 20 Minuten zu Fuß eine Apotheke. Offenbar ist Flächendeckung längst nicht nur ein Problem im ländlichen Raum, sondern auch an den Rändern großer Städte.

In kleinen Kleinstädten erreichen nur 20,4 Prozent der Einwohner in zehn Minuten zu Fuß eine Apotheke, in Landgemeinden nur 13,5 Prozent. In diesem Radius befinden sich im Durchschnitt 1,3 Apotheken in kleinen Kleinstädten und 1,1 Apotheken in Landgemeinden. Demnach hängt die wohnortnahe Arzneimittelversorgung vielerorts an einer einzigen Apotheke. Dies ist die Durchschnittssituation auf dem Land, in kleinen Städten und in den Randbereichen städtischer Kreise. Aus dem Spezialfall ist ein Strukturproblem geworden. Die Apothekendichte ist auf einem Niveau angekommen, das vielerorts die Grenze der gewohnten und gewünschten Versorgung darstellt. Das steht nicht im Gutachten, aber das Gutachten liefert die Daten, die diese Feststellung untermauern.

Rx-OTC-Bündelkäufe im Visier

Die weiteren Teile des Gutachtens enthalten eine „theoretische Analyse des Apothekenmarktes und der Wirkungen unterschiedlicher Regulierungen“ und ein darauf aufbauendes spieltheoretisches Modell. Darin wird die bestehende Situation nach dem EuGH-Urteil mit einem Rx-Boni-Verbot, das auch auf ausländische Versender wirkt, verglichen. Entscheidungsgrundlagen für Verbraucher sind gemäß der theoretischen Analyse Rx-Rabatte, OTC-Preise, die Mühe des Aufsuchens einer Vor-Ort-Apotheke („Wegekosten“), der zusätzliche Service und das Sortiment der Vor-Ort-Apotheken und die Belastung durch das Warten auf Ware von Versendern („Wartekosten“). Mehrfach argumentieren die Gutachter mit dem Effekt möglicher Bündelkäufe. Demnach liegt es für die Verbraucher nahe, Rx- und OTC-Arzneimittel gemeinsam nachzufragen, um Wege zu sparen. Dann könnten Preissenkungen der Vor-Ort-Apotheken für OTC-Arzneimittel ein Instrument sein, um in einen Preiswettbewerb gegenüber den Rx-Boni ausländischer Versender zu treten. Zu den Handlungsmöglichkeiten der Apotheken argumentieren die Gutachter, eine Vor-Ort-Apotheke, deren Wettbewerber ihr Sortiment vergrößern, um Kunden abzuwerben, werde ihr Sortiment eher verkleinern, weil sich die Absatzmöglichkeiten verschlechtern. Dabei ignorieren die Gutachter die Möglichkeit, dass die betroffene Apotheke ihrerseits das Sortiment vergrößert, um konkurrenzfähig zu werden. Plausibler erscheint die weitere These der Gutachter, dass größere Sortimente mit höheren Preisen verbunden sind. Zur Standortwahl von Apotheken erklären die Gutachter, dass in gleichmäßig besiedelten Gebieten weit auseinanderliegende Standorte optimal sind, während bei hoher Bevölkerungsdichte zentrale Standorte bevorzugt werden. Als Gründe für Apothekenschließungen nennen die Gutachter neben unzureichenden Gewinnen auch schwer ermittelbare individuelle Faktoren wie Alter, finanzielle Rücklagen und alternative Arbeitsmöglichkeiten des Inhabers. Damit machen die Gutachter die Komplexität einer solchen Entscheidung deutlich, allerdings ohne dabei den wichtigen Aspekt der Laufzeit des Mietvertrages zu erwähnen.

Wettbewerbsverzerrung durch EuGH-Urteil

Die bestehende Situation nach dem EuGH-Urteil bewerten die Gutachter als „asymmetrische Regulierung“, die den Wettbewerb zulasten der Inlandsapotheken verzerrt. Allerdings könnten die inländischen Apotheken dies teilweise durch Preisanpassungen im OTC-Bereich kompensieren, soweit die Patienten gleichzeitig Rx- und OTC-Arzneimittel benötigen. Eindeutig sei die Wirkung auf die Standortwahl. Da bei Rx-Arzneimitteln im Inland kein Preiswettbewerb stattfindet, würden sich die Anreize erhöhen, Standorte mit hoher Kundendichte in der Nähe anderer Apotheken zu wählen. Ein generelles Rx-Boni-Verbot würde die Rx-Nachfrage bei ausländischen Versendern senken. Sie hätten daraufhin einen Anreiz, Rx-Patienten durch sinkende OTC-Preise anzulocken. Damit würden die Vor-Ort-Apotheken Rx-Umsätze gewinnen und OTC-Umsätze verlieren.

Spieltheoretisches Modell

Auf dieser Grundlage haben die Gutachter ein sehr abstraktes spieltheoretisches Modell gestaltet, bei dem gedanklich drei in gleichen Abständen angesiedelte Vor-Ort-Apotheken und deren Reaktionen auf einen Versender betrachtet werden. Dabei wird allerdings der Versender nicht als Akteur modelliert. Das Modell wird anhand empirischer Werte kalibriert, aber einige Annahmen erscheinen künstlich. Beispielsweise werden eine lineare Beziehung zwischen OTC-Nachfrage und Preisen, ein festes Verhältnis zwischen OTC-Preisen vor Ort und im Versand von 1,3 und ein fester Anteil von Rx-OTC-Bündelkäufen von 25 Prozent angenommen. Für die Kalibrierung des Modells werden die bestehenden Marktanteile des Versandes von 20 Prozent bei OTC-Arzneimitteln und 1,12 Prozent bei Rx-Arzneimitteln benutzt. Außerdem wird eine Untergrenze für den Rx-Marktanteil des Versandes von 1 Prozent angenommen, weil dieser Anteil bereits vor dem EuGH-Urteil erreicht wurde. Demnach setzt das Modell voraus, dass der derzeitige Preiswettbewerb mit ausländischen Versendern nur zu einer Marktanteilsverschiebung um 0,12 Prozentpunkte führt. Mögliche längerfristige Änderungen bleiben unbeachtet, weil das Modell nicht auf Betrachtungen im Zeitverlauf ausgelegt ist. Dies alles dürfte die Aussagekraft des Modells stark beeinträchtigen. Die Autoren selbst erklären, dass das Modell nicht als Prognose zu verstehen ist. Es gehe um „grundlegende Wirkungszusammenhänge“ hinsichtlich Wirkungsrichtung und Größenordnung.

Wirkung auf OTC-Preise?

In dieser Modellwelt wäre es bei einem generellen Rx-Boni-Verbot für Versender – entgegen den vorherigen Betrachtungen der Gutachter – nicht gewinnmaximierend, den Wettbewerb über OTC-Preise zu suchen. Stattdessen erwarten die Gutachter dann steigende OTC-Preise, weil die deutschen Apotheken den Rx-Boni nicht mehr mit sinkenden OTC-Preisen begegnen müssten. Dann würden die Apothekengewinne durch höhere OTC-Preise stiegen, besonders bei den Versendern, weil sie zudem die Boni sparen. Die Gutachter setzen sich allerdings nicht damit auseinander, dass die OTC-Preise in Vor-Ort-Apotheken gemäß ihren eigenen Feststellungen höher als im Versand sind. Dies spricht jedoch gegen die Annahme, dass die deutschen Apotheken OTC-Preise als Wettbewerbsinstrument gegen Rx-Boni der ausländischen Versender nutzen. Damit würden sich die erwarteten OTC-Preiserhöhungen erübrigen. Auch die ABDA widersprach diesen Thesen in einer ersten Stellungnahme zum IGES-Gutachten. ABDA-Präsident Friedemann Schmidt erklärte, es sei „schlichtweg Unsinn“, dass die Preise von OTC-Arzneimitteln infolge des VOASG steigen würden. Das VOASG beziehe sich auf Rx-Arzneimittel, deren Preise in Deutschland ohnehin reguliert seien.

Neue Wettbewerbslandschaft durch E-Rezept

Doch zurück zum Gutachten – die Gutachter erwarten wesentliche Veränderungen durch die Einführung des E-Rezepts. In der Modellwelt würde der Rx-Marktanteil des Versandes auf 1,4 Prozent steigen. Die OTC-Preise würden wegen des intensiveren Wettbewerbs leicht fallen. Die Gewinne der Vor-Ort-Apotheken würden geringfügig sinken, die des Versandes dagegen steigen. Wenn die Versender Rx-Boni gewähren dürfen, würden ihre Rx-Marktanteile und ihre Gewinne noch mehr steigen. Letztlich erwarten die Gutachter von der Einführung des E-Rezepts und dem dadurch vereinfachten Zugang zum Versand stärkere Veränderungen im Apothekenmarkt als von veränderten Preisregeln. Wenn sich in Verbindung mit dem E-Rezept offene digitale Arzneimittelplattformen entwickeln, werde eine „neue Wettbewerbslandschaft“ entstehen.

Falsche Fragen und doch einige Antworten

Das spieltheoretische Modell kann als lebensfremd kritisiert werden, aber solche Modelle sind in der Ökonomie üblich und können durchaus Erkenntnisse liefern. Auch einige recht künstliche Annahmen lassen sich kritisieren, aber als größeres Problem erscheint, was hier modelliert wurde. Interessanter als kurzfristige Veränderungen der Apothekengewinne oder OTC-Preise in einem neuen Marktgleichgewicht wären langfristige Entwicklungen des Rx-Markt­anteils der Versender und die Überlebensfähigkeit der Vor-Ort-Apotheken. Die politisch relevante Frage ist, wie das Apothekensystem langfristig die nötige flächendeckende Versorgung bieten kann. Auf diese Frage ist das gewählte Modell überhaupt nicht ausgerichtet, zumal es keine Entwicklungen in der Zeit beschreibt. Problematisch sind demnach weniger Details des Modells, sondern die Wahl der Fragestellung. Da die Autoren keine Handlungsempfehlungen aus ihrem Gutachten ableiten, bleibt es den Lesern überlassen, welche Konsequenzen sie daraus ziehen. So liefert das Gutachten nicht die erhoffte Klarheit, aber reichlich Material für künftige Diskussionen. |

Autor

Dr. Thomas Müller-Bohn

Apotheker und Dipl.-Kaufmann, auswärtiges Mitglied der ­Redaktion der Deutschen ­Apotheker Zeitung

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