Hilfsprojekte

Versicherungslos in Deutschland

Wie werden Menschen ohne Krankenversicherung versorgt?

Von Clara Leonhardt | Im Grundgesetz heißt es: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ In Deutschland ist es verpflichtend, eine Krankenversicherung abzuschließen. Dennoch sind viele Menschen im Krankheitsfall nicht oder nicht ausreichend abgesichert. Sogenannte Medinetze vermitteln deutschlandweit als „Notlösungen“ medizinische Behandlungen. Durch öffentliche Gelder finanzierte Projekte bilden bisher noch die Ausnahme.
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Wie viele Menschen in Deutschland ohne Krankenversicherung leben, ist schwer zu bestimmen. Alle vier Jahre ermittelt das statistische Bundesamt die Zahl versicherungsloser Menschen mit deutschem Pass oder gültigem Aufenthaltsstatus – 2019 lag diese bei 61.000 [1].

Im Jahr 2018 befanden sich zusätzlich 102.000 Menschen im Notlagentarif der privaten Krankenkassen, bei dem der Leistungskatalog der Versicherten deutlich reduziert ist [2]. Auch für Asylbewerberinnen und -bewerber sind die Leistungen in den ersten Monaten des Asylverfahrens stark eingeschränkt. Als große Gruppe von Menschen ohne Versicherung zählen Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus (sogenannte Menschen ohne Papiere oder undokumentierte Menschen). 2015 ergaben wissenschaftliche Untersuchungen, dass zwischen 180.000 und 520.000 Menschen in Deutschland keinen legalen Aufenthaltsstatus hatten. Die anhaltende Migration und der Bevölkerungs­zuwachs seit 2015 lässt vermuten, dass diese Zahl eher ­gestiegen ist. Zudem ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen [3].

Ursachen für die Versorgungslücke

Neben aufenthaltsrechtlichen Gründen können Wohnungslosigkeit, Beitragsschulden, unzureichende Reiseversicherungen und die erschwerte Rückkehr von ehemals Privatversicherten in die gesetzliche Krankenkasse (GKV) Faktoren für einen fehlenden Versicherungsschutz sein. Zum Beispiel ist es für Menschen, die über 55 Jahre alt sind oder sich in der Insolvenz befinden, nur unter bestimmte Bedingungen möglich der GKV beizutreten [4]. Für EU-Bürgerinnen und -Bürger sollte durch die Europäische Gesundheitskarte (EHIC) eigentlich in allen Ländern der EU-Mitgliedstaaten eine medizinische Versorgung gesichert sein. Während in Deutschland allerdings alle GKV-Karten die EHIC beinhalten, muss diese in einigen EU-Ländern extra beantragt werden [5]. Dies ist vielen Menschen nicht bewusst und geht mit bürokratischen Hürden einher. Zudem haben nicht alle EU-Bürgerinnen und -Bürger eine Krankenversicherung in ihrem Heimatland und somit auch keine EHIC.

Abschiebung als Preis medizinischer Behandlung

Für Menschen ohne Papiere ist die Situation zusätzlich problematisch. Rechtlich fallen sie unter das Asylbewerberleistungsgesetz und können wie Menschen im Asylverfahren beim Sozialamt Hilfen beantragen. Der Leistungskatalog ist dabei deutlich geringer als der der GKV. Die Auslegung des Katalogs ist von den Bundesländern abhängig und ob ein Antrag gewährt wird, entscheiden die Sozialämter. Menschen ohne Papiere haben dadurch theoretisch einen Zugang zu einer eingeschränkten medizinischen Versorgung. Doch die Betroffenen können diesen in der Regel faktisch nicht in Anspruch nehmen. Sozialämter sind als öffentliche Stellen dazu verpflichtet, Menschen ohne Aufenthaltsstatus der Ausländerbehörde zu melden. Aus Angst abgeschoben zu werden, vermeiden undokumentierte Menschen, sich an die deutschen Sozialsysteme zu wenden.

Teure gesellschaftliche Konsequenzen

Der Gesundheitsreport der Hilfsorganisation „Ärzte der Welt“ von 2019 zeigt, welche Auswirkungen ein unzureichender Zugang zur Gesundheitsversorgung haben kann. Es kann zur Verschlimmerung und Chronifizierung von bestehenden Erkrankungen führen, die bei einer sofortigen medizinischen Behandlung vermieden werden könnten. Zudem führen unbehandelte Krankheitsbilder häufiger zu akut lebensbedrohlichen Notfällen. Neben der Belastung für Einzelpersonen führt das Nichtbehandeln zu gesellschaftlichen Problemen. Krankenhäuser bleiben auf Kosten sitzen und Notfälle oder chronifizierte Krankheiten sind häufig teurer als die direkte Behandlung der Ursache. Zudem haben kranke Menschen weniger Ressourcen, sich im Arbeitsmarkt einzubringen. Auch die Impfempfehlungen des Robert Koch-Instituts können unter Nichtversicherten nur unzureichend umgesetzt werden. Während der Corona-Pandemie zeigt sich zudem, dass das Nichtbehandeln und -erkennen von Krankheiten nicht nur das Problem Einzelner ist, sondern das der gesamten Gesellschaft.

Medinetze vermitteln Behandlungen

Aus dieser Notlage heraus haben sich hierzulande in 39 Städten Vereine zur Unterstützung von Menschen ohne Krankenversicherung gebildet [6]. Die ehrenamtlich organisierten, sogenannten Medinetze und Medibüros vermitteln medizinische Behandlungen anonym und kostenlos.

Während die Ärztinnen und Ärzte ihre Hilfe meist unentgeltlich anbieten, werden Laboruntersuchungen, Arzneimittel oder Krankenhausaufenthalte über Spendengelder finanziert. Eine Mitarbeiterin des Medinetz Leipzig erklärt: „Zwar schaffen wir es so, Menschen zu versorgen, die sonst keine medizinischen Behandlungen bekommen würden. Doch die Versorgung ist stark von schwankenden Spendengeldern und der Zeit von uns Freiwilligen abhängig. Bei kostenintensiven Fällen müssen wir oft komplizierte Einzelfalllösungen finden.“ Sie fährt fort: „Durch unsere Arbeit verhindern wir nur die schlimmsten Auswirkungen eines nicht funktionierenden Systems. Es kann nicht sein, dass die medizinische Versorgung von so vielen Menschen auf ehrenamtlichen Schultern ruht. Wir sehen ganz klar den Staat in der Verantwortung!“

Außerdem, so die Ehrenamtlichen, sei es eine massive ethische Belastung, darüber entscheiden zu müssen, ob eine medizinische Behandlung das Budget des Vereins übersteigt und abgewiesen werden muss. Ein Mitglied des Medinetz Dresden berichtet von einem Fall, der sie noch länger beschäftigte: „Uns hatte ein 56 Jahre alter Mann ohne Aufenthaltsstatus auf unserem Notfall-Telefon kontaktiert. Dieser klagte über plötzliche Sensibilitätsstörungen und Lähmungen der linken Körperhälfte. Wir haben ihn direkt in die Notaufnahme geschickt. Aufgrund eines Hirninfarkts hatte er drei Tage später einen Kreislaufstillstand. Elf Tage später verstarb er auf der Intensivstation. Es stellte sich heraus, dass er von seinem bestehenden Bluthochdruck schon seit Jahren wusste, aber keine Möglichkeit gesehen hat, diesen behandeln zu lassen.“ Es zeigt sich häufig, dass eine kontinuierliche Behandlung von chronischen Krankheiten schwer umsetzbar ist. Die Behandlung von psychischen Erkrankungen oder Krankheiten, die einen längeren stationären Aufenthalt bedürfen, ist in den wenigsten Fällen realisierbar. Ein großes Problem bildet zusätzlich die Behandlung schwangerer Patientinnen, da die Begleitung teuer und über einen längeren Zeitraum erfolgen muss. Die Medinetze und -büros betonen, dass es nicht verboten ist, Menschen ohne Aufenthaltsstatus zu behandeln. Medizinische Hilfeleistung stellt keine Beihilfe zum illegalen Aufenthalt dar [7].

Insellösungen: Anonyme Krankenscheine

Seit Kurzem gibt es neben den ehrenamtlichen Initiativen einige durch öffentliche Gelder finanzierte Vereine. Als Beispiel ist das durch das Land Thüringen geförderte Modellprojekt des Anonymen Krankenscheins Thüringen (AKST) zu nennen, dass sich seit 2017 bewährt. Die Finanzierung der Behandlungen erfolgt über sogenannte „Anonyme Behandlungsscheine“. So können alle für eine Behandlung nötigen Medikamenten und Laboruntersuchungen, sowie die behandelnden Ärztinnen und Ärzte vergütet werden. Aufgrund der gesicherten Anonymität können bedürftige Menschen, unabhängig von Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltsstatus Hilfe in Anspruch nehmen. Auch Apotheken sind dabei in das System eingebunden. Medikamente werden auf einem speziellen Rezept auf den Klarnamen der Patientinnen und Patienten verschrieben, welches diese in den Apotheken vorlegen. Die Apotheke schickt den Durchdruck des Rezepts, auf welchem der Name der Betroffenen geschwärzt wird zur Abrechnung an den AKST. So können Medikamente auf die wahre Identität der Personen verschrieben werden, die Abrechnung erfolgt dann allerdings pseudonymisiert. Während Betroffene dadurch nicht in Vorkasse gehen müssen, haben Apotheken so eine Kostenübernahmegarantie.

Rezeptformular für Arznei-, Hilfs- und Heilmittel für Patienten ohne Papiere im Rahmen des Modellprojekts Anonymer Krankenschein Thüringen (AKST). Das zweite Blatt dient zur Abrechnung der Apotheke mit dem AKST - mit anonymisierten Patientendaten.

Integration in die Regelversorgung

Neben der reinen Finanzierung von Behandlungen bietet der AKST auch das sogenannte Clearing an. Dabei wird gemeinsam mit Patientinnen und Patienten versucht, eine Integration in das Regelsystem der deutschen Krankenversicherungen zu erreichen. Zudem wird geprüft, ob ein anderer Kostenträger (z. B. EHIC, EU- oder Reiseversicherung, Sozialamt) für die Behandlung zuständig ist. Vergleichbare Clearingstellen wurden in verschiedenen Bundesländern wie Berlin oder Rheinland-Pfalz etabliert. In Sachsen gibt es seit diesem Jahr eine Initiative der sächsischen Medinetze und ­-büros, welche einen durch das Land geförderten Sächsischen Anonymen Behandlungsschein (SABS) mit Clearingangebot fordern. In ihrem Konzept legen sie besonders Wert darauf, neben den Großstädten auch strukturschwache ­Regionen versorgen und beraten zu können.

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Menschen ohne Krankenversicherung sind in der Offizin nur schwer zu erkennen. In Thüringen läuft aktuell ein Modellprojekt mit anonymen Krankenscheinen, in dem auch die Apotheken integriert sind.

Annemarie Saß ist die Sozialarbeiterin des durch die Stadt Leipzig geförderten Vereins CABL e. V. (Clearingstelle und Anonymer Behandlungsschein Leipzig). Sie erklärt: „Häufig sind die sprachlichen oder bürokratischen Hürden für die Betroffenen zu hoch, um festzustellen, ob es für ihre Behandlung einen Kostenträger gibt. Daher ist es wichtig, neben der Vermittlung an Ärztinnen und Ärzte auch eine unabhängige Beratung zum Versicherungsstand anzubieten.“

Da solche durch öffentliche Gelder finanzierten Projekte bisher noch die Ausnahme bilden, steht die medizinische Versorgung von unversicherten Menschen weiterhin auf wackligen Beinen. Annemarie Saß des CABL e. V. erklärt, was sie sich für die Zukunft wünschen würde. Zwar erleichtern die Gelder der Stadt die Behandlung von Versicherungslosen sehr, doch ihr wäre es lieber, wenn ihr Job gar nicht nötig wäre. „Ein erster Schritt wäre, dass auch für die Sozialämter die Übermittlungspflicht an die Ausländerbehörde aufgehoben werden würde. So könnten undokumentierte Personen auf dem üblichen Weg medizinische Behandlungen beantragen, ohne eine Abschiebung zu befürchten. Dass ebenfalls viele Deutsche und EU-Bürgerinnen und -Bürger nicht versichert sind, darf nicht vergessen werden. Flächendeckende niederschwellige und unabhängige Beratungsangebote und der erleichterte Eintritt in die GKV würden die Situation deutlich verbessern. Das größere Ziel wäre ein barriere- und diskriminierungsfreier Zugang zum Gesundheitssystem, indem alle Menschen die gleichen Leistungen unabhängig ihrer Herkunft oder ihres finanziellen Hintergrunds erhalten.“

In der öffentlichen Apotheke ist es schwer zu erkennen, ob ein Mensch keine Krankenversicherung besitzt. Sollte man dies in einem längeren Beratungsgespräch feststellen, kann man die Menschen an die Medinetze und -büros verweisen. Zudem können Apotheken aktiv die Vereine in ihrer Stadt kontaktieren und erfragen, ob sie unterstützt werden können. Wenn ein durch öffentliche Gelder gefördertes Projekt wie in Thüringen existiert, ist es hilfreich, über den Apotheken-Abrechnungsschein informiert zu sein.

Ein Mitglied des Medinetz Leipzig erklärt zudem: „Viele wissen gar nicht, dass es Menschen in Deutschland ohne Krankenversicherung gibt. Insbesondere Teile des Gesundheitssystems, wie Apotheken, sollten darüber Bescheid wissen. Apothekerkammern könnten beispielsweise öffentlich die Problematik ansprechen und so zu einer weiteren Sensibilisierung beitragen. Nur wenn viele Menschen sich dieser Probleme bewusst sind, kann ein politischer Prozess entstehen, der die Behandlung von unversicherten Menschen aus dem Ehrenamt hebt.“ |

Literatur

[1] Statistisches Bundesamt. Weniger Menschen ohne Krankenversicherungsschutz. Pressemitteilung Nr. 365 vom 15. September 2020, www.destatis.de

[2] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke. – Drucksache 19/11882, dip21.bundestag.de, abgerufen am 9. November 2020

[3] Vogel D. Kurzdossier: Umfang und Entwicklung der Zahl der Papierlosen in Deutschland. Universität Bremen. Fachbereich 12. Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung. AbIB - Arbeitspapier 2/2016, http://docplayer.org/49503644-Kurzdossier-umfang-und-entwicklung-der-zahl-der-papierlosen-in-deutschland.html, abgerufen am 9.11.2020

[4] Verbraucherzentrale. So wechseln Sie von der privaten in die gesetzliche Krankenversicherung, https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/gesundheit-pflege/krankenversicherung/so-wechseln-sie-von-der-privaten-in-die-gesetzliche-krankenversicherung-41289, abgerufen am 9.11.2020

[5] GKV-Spitzenverband. Deutsche Verbindungsstelle Krankenversicherung - Ausland. Informationen zur Europäischen Krankenversicherungskarte (EHIC) und zur Provisorischen Ersatzbescheinigung (PEB), https://www.dvka.de/de/leistungserbringer/informationsportal_ehic_peb/informationsportal_rahmenseite.html?country=Spanien, abgerufen am 9.11.2020

[6] https://medibueros.org/

[7] Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM). Muss ein ­illegaler Migrant gemeldet werden? https://www.igfm.de/illegal-in-deutschland/, abgerufen am 9.11.2020

Autorin

Clara Leonhardt, Apothekerin, Studium an der Universität Leipzig und Mitglied im Medinetz Leipzig

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