Arzneimittel und Therapie

Nocebo-Effekt bremst Statine aus

Wie sich eine Statin-Therapie auch bei Muskelsymptomen fortführen lässt

Statine werden häufig in der Dosis reduziert oder abgesetzt. Häufigster Grund: So genannte Statin-assoziierte Muskelsymptome (SAMS) – die aber viel öfter auf virale Infekte, körperliche Aktivität und Arzneimittelinteraktionen zurückgehen. Dies sollte man in der Beratung von Patienten mit „Statin-Intoleranz“ im Blick behalten. Wenn die Behandlung durch Änderung des Präparats oder der Dosis optimiert wurde, können neun von zehn SAMS-­Patienten dauerhaft mit einem Statin behandelt werden.

In Deutschland erhalten etwa 4,6 Millionen Menschen Statine. Die Senkung des LDL-Cholesterol-Spiegels durch die HMG-CoA-Reduktasehemmer ist ein wichtiger Baustein der Primär- und Sekundärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen. Sowohl die Risikoreduktion als auch die Sicherheit der Statin-Therapie sind aus Sicht der Präventivmedizin unumstritten [1]. Für die Adhärenz in der Langzeittherapie spielt eine große Rolle, dass Patienten insbesondere bei hohen Statin-Dosierungen häufiger über Myalgien und verwandte Nebenwirkungen klagen. Solche Statin-assoziierten Muskelsymptome beginnen typischerweise vier bis sechs Wochen nach Therapiebeginn. Patienten berichten von proximalen, symmetrischen Schmerzen, Verspannungen, Steifheit oder Krämpfen, die von Muskelschwäche begleitet sein können. Meist sind große Muskelgruppen wie Oberschenkel-, Schultergürtel- und Oberarmmuskulatur betroffen. Häufig treten Statin-­assoziierte Muskelsymptome nach einer Dosiserhöhung eines Statins oder nach dem Verschreiben eines interagierenden Arzneimittels auf (s. Kasten „Cave Interaktionen“). Mitunter manifestieren sie sich auch erst nach mehrjähriger Behandlung.

Cave Interaktionen!

Eine Vielzahl von Arzneistoffen oder auch Nahrungsmitteln kann möglicherweise mit CYP3A4-­verstoffwechselten Statinen interagieren und das Risiko von Myopathie und Rhabdomyolyse erhöhen [1]:

Antiinfektiva

  • Clarithromycin
  • Erythromycin
  • HIV-Protease-Inhibitoren
  • Itraconazol
  • Ketoconazol
  • Posaconazol
  • Telithromycin

Calcium-Antagonisten

  • Amlodipin
  • Diltiazem
  • Verapamil

sonstige

  • Amiodaron
  • Ciclosporin
  • Danazol
  • Gemfibrozil
  • Grapefruitsaft
  • Nefazodon
  • Ranolazin

Indes ist ein sehr großer Anteil der Muskelbeschwerden gar nicht spezifisch Statin-assoziiert. Körperlich Aktive berichten unter Statin-Therapie häufiger von Myalgien, die aber kaum von Muskelkater zu unterscheiden sind. Muskelbeschwerden treten außerdem bei vielen anderen Erkrankungen auf, etwa bei viralen Infekten, Rheuma, Schilddrüsenerkrankungen, Elektrolytstörungen und Störungen im Calcium- und Vitamin-D-Stoffwechsel. Dass Patienten mit Muskelbeschwerden unter Statin-Therapie vorschnell als „Statin-intolerant“ kategorisiert werden, beklagte Dr. med. Anja Vogt, Leiterin der Stoffwechselambulanz und Lipoprotein-Apherese der LMU München, bei einer Fortbildungsveranstaltung für Innere Medizin [2]. Statin-assoziierte Muskelsymptome verlangten eine sorgfältige Anamnese und Differenzialdiagnose, die die typische Präsentationsform und die klare zeitliche Assoziation der Beschwerden mit Statin-Einnahme oder -Unterbrechung sowie einer erneuten Exposition einschließe, betonte die Internistin.

Foto: Jo Panuwat D/AdobeStock

Symptome einer Statin-assoziierten Myopathie sind heterogen. Berichtet werden symmetrische Schmerzen, Verspannungen, Steifheit oder Krämpfe, die von Muskelschwäche begleitet sein können. Körperlich Aktive scheinen besonders betroffen zu sein. Die Symptome sind kaum von einem Muskelkater zu unterscheiden, sie halten länger an und machen ein weiteres Training unmöglich.

Myalgie ist noch keine Statin-Intoleranz

Wie häufig Muskelprobleme unter Statin-Therapie tatsächlich auftreten bzw. ob sie dieser Therapie überhaupt zuzuordnen sind, darüber gehen die Angaben weit auseinander. In einer Analyse von Daten aller deutschen Krankenkassen wurde nur bei 1,9% von über 530.000 Statin-Empfängern eine Statin-assoziierte Myopathie beobachtet [3]. Bei Patienten mit Einmalverordnung war die Rate nur 1,3%, bei jenen mit einer Exposition über 365 Tage und einem Statin-Wechsel erreichte sie 5%. Hingegen geht ein Konsensuspapier der European Atherosclerosis Society (EAS) von einer Gesamtprävalenz Statin-assoziierter Muskelsym­ptome zwischen sieben und 29% aus [4]. Basis waren hier nicht verblindete Beobachtungsstudien. Hier kommt nach Überzeugung von Vogt ein massiver Nocebo-Effekt zum Tragen: eine auf Fehlinformationen beruhende negative Erwartungshaltung bei Einnahme von Medikamenten. Als Hinweis, dass eine Muskelzellschädigung vorliegt, wie auch zur Abgrenzung leichter von schweren Formen von Statin-assoziierten Muskelsymptomen, wird oft die Serum-Creatinkinase (CK) herangezogen, die aus geschädigten Muskelzellen freigesetzt wird. Sie ist aber für Myositis weder spezifisch noch sehr sensitiv. Bei der Mehrheit der Statin-assoziierten Muskelsymptomen steigt die Creatinkinase gar nicht an [5].

Hiervon abzugrenzen sind muskuläre Symptome mit einer signifikanten und klinisch bedenklichen CK-Erhöhung über dem Zehnfachen des upper limit of normal (ULN). Sie treten nach Angaben der American Heart Association mit einer Inzidenz von 1:1000 bis 1:10.000 pro Jahr auf (also bei 0,1 bis 0,01% der Statin-Nutzer). Noch eine Zehnerpotenz niedriger wird die Inzidenz der Rhabdomyolyse geschätzt. Hierbei entwickeln sich schwerste Muskelschädigungen mit massiver Freisetzung von Myoglobin (CK > 40 × ULN), es kann zu akutem Nierenversagen mit Todesfolge kommen [6]. Aus diesen Gründen nahm Bayer Ende 2001 sein Cerivastatin weltweit vom Markt.

Dosisabhängige Nebenwirkungen

Eine deutsche Übersichtsarbeit zu Statin-assoziierten Muskelsymptomen aus dem Jahr 2015 hebt hervor, dass unter den vielen klinischen und konstitutionellen Risikofaktoren für diese Muskelsymptome die Dosis und Plasmakonzentration eines Statins an vorderer Stelle stehen (s. Kasten „Risikofaktoren für eine Statin-assoziierte Myopathie“).

Risikofaktoren für Statin-assoziierte Myopathie

  • hohe Statin-Dosis
  • fortgeschrittenes Alter (> 80 Jahre)
  • Geschlecht (Frauen > Männer)
  • niedriges Körpervolumen und Gebrechlichkeit
  • Einschränkung der Nieren- bzw. Leberfunktion
  • Begleiterkrankungen wie akute Infektionen, Hypo­thyreose, Diabetes mellitus, Vitamin-D-Mangel
  • organtransplantierter Patient
  • Arzneimittelinteraktionen als Folge von Ko-/Multimedikation
  • genetische Faktoren

Bei Standarddosen, z. B. täglich 20 bis 40 mg Simvastatin, träten ausgeprägte Symptome bei einem von 10.000 Behandelten pro Jahr auf. Das Nebenwirkungsrisiko steige mit höheren Statin-Dosierungen exponenziell an, während die LDL-Cholesterol-Werte nur noch wenig sinken, je Dosisverdopplung nur um ca. weitere 6% [5]. Für Dr. Anja Vogt haben weniger potente Cholesterol-Senker wie Simvastatin gar keine Berechtigung mehr: „Es sollten hoch potente Substanzen wie Atorvastatin oder Rosuvastatin eingesetzt werden, unter denen meist mit einer geringeren Dosis eine bessere Senkung der LDL-Cholesterol-Werte zu erreichen ist. Zusätzlich zur höheren Effektivität ist auch die Verträglichkeit meist besser.“ Die Cho­lesterol-senkende Potenz der in Deutschland verfügbaren Substanzen steigt – bei identischem Wirkmechanismus – in der Reihenfolge Fluva­statin, Lovastatin, Simvastatin, Atorvastatin, Rosuvastatin um den Faktor zwei bis drei. Nach Analysen einer britischen Datenbank betreiben Patienten die Statin-Therapie ernsthafter unter einem hochwirksamen Statin: Die Adhärenz lag im ersten Jahr bei 84,1% und im sechsten Jahr noch bei 72,3%. Bei einer mit niedriger Intensität betriebenen Therapie lag die Adhärenz nur bei 57,4% im ersten und bei 48,4% im sechsten Jahr. Als adhärent galten Patienten, die an wenigstens 80% der Tage ihr Medikament eingenommen hatten [7].

Folgen der Non-Compliance

Die American Heart Association stellte 2019 fest, dass sich die Inzidenz von Muskelproblemen ohne Erhöhung der Creatinkinase in randomisierten klinischen Studien praktisch nicht zwischen Statin-behandelten Patienten und Kontrollgruppen unterscheidet. Trotzdem setze jeder zehnte Patient seine Statin-Therapie wegen Myalgien ohne erhöhte Serum-Creatinkinase ab [6]. In einer Studie mit 674.000 Statin-Nutzern hatten jene, die die Therapie abgebrochen hatten, nach zehn Jahren ein um 18% höheres Sterberisiko. Als wesentlicher Auslöser der Noncompliance wurde dabei die negative Berichterstattung über Nebenwirkungen der Statine ausgemacht [8]. Neben Muskelproblemen werden weitere Sorgen medial diskutiert, wie kognitiver Abbau, Katarakt, Schlaganfall, Neuerkrankungen an Typ-2-Diabetes. Letztere sind laut der American Heart Association (AHA) in Studien pro Jahr nur bei 0,2% der Patienten zu beobachten, Leberschäden bei etwa 0,001%. „Die negative Darstellung der Statine führt zu einer negativen Erwartungshaltung und damit zu negativen Effekten“, sagt Vogt. „Bei diesen Patienten wird dann häufig die Diagnose Statin-Unverträglichkeit gestellt.“

Tab.: Statine, äquivalente Dosierungen und Interaktionsübersicht [Rose O, Friedland K. Angewandte Pharmakotherapie. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH 2019]
% LDL-Reduktion (ca.)
Atorvastatin
Fluvastatin
Lovastatin
Pravastatin
Rosuvastatin
Simvastatin
10 – 20
20 mg
10 mg
10 mg
5 mg
20 – 30
5 mg
40 mg
20 mg
20 mg
10 mg
30 – 40
10 mg
80 mg
40 mg
40 -(80 mg)*
5 mg
20 mg
40 – 45
20 mg
80 mg
10 mg
40 -(80 mg)**
46 – 50
40 mg
20 mg
50 – 55
80 mg
40 mg
56 – 60
80 mg
CYP-450-Metabolisierung
CYP3A4
CYP2C9
CYP3A4
CYP2C9, CYP2C19 (gering)
CYP3A4
Nahrungseinfluss
↓ 9 – 13%
↓ 15% – ↑ 25%
↑ 50%
↓ 30%
↓ 20%
kein Einfluss

*Präparate mit 80 mg Pravastatin sind in Deutschland nicht zugelassen; **80-mg-Dosierung wegen erhöhtem Rhabdomyolyse-Risiko nicht empfohlen; - keine Angabe

Strategie bei Unverträglichkeit

Auf Basis eines Expertenkonsensus sollte bei Muskelbeschwerden unter Statin-Therapie die Creatinkinase-Aktivität bestimmt werden. Bei Werten im Normalbereich kann ein Absetzen des Statins erwogen werden, um zu klären, ob die Muskelschmerzen tatsächlich mit der Therapie zusammenhängen. Liegt die Creatinkinase-Aktivität über dem Fünffachen des oberen Normwertes (> 5 × ULN), sollte das Statin zunächst abgesetzt werden. Normalisieren sich die Creatinkinase-Aktivität und die Beschwerden nach Absetzen des Statins wieder, kann bei milden Verläufen ein zweiter Behandlungsversuch (rechallenge) mit dem gleichen Statin in niedrigerer Dosis oder mit einem anderen Statin erfolgen. Bei mittelgradigen und schweren Statin-assoziierten Muskelsymptomen sollten Patienten einen Lipidologen konsultieren [9].

Wird der LDL-Cholesterol-Zielwert mit der höchsten tolerierten Statin-Dosierung nicht erreicht, sollte eine Kombinationstherapie, in erster Linie mit Ezetimib, zum Zuge kommen. Ezet­imib hemmt die Aufnahme von endo- und exogenem Cholesterol aus dem Dünndarm und kann auch als Monotherapie gegeben werden. Besonders profitieren nach den Worten von Vogt von Ezetimib Patienten höheren Alters, mit Niereninsuffizienz oder nach Bypassoperation.

Eine weitere Option sind PCSK9-Inhibitoren (Alirocumab, Evolucumab), die den Abbau von LDL-Cholesterol-Rezeptoren einschränken. Zusätzlich zu Statin plus Ezetimib erzielen sie eine LDL-Cholesterol-Senkung von im Mittel 50%. Bei kompletter Statin-­Unverträglichkeit können die PCSK9-Inhibitoren als Monotherapie oder nur mit Ezetimib eingesetzt werden. Seit Herbst 2020 steht als Add-on zu maximal verträglicher Statin-Therapie Bempedoinsäure zur Verfügung. Der Cholesterol-Synthesehemmer kann die LDL-Cholesterol-Werte in Kombination mit Statin und Ezetimib zusätzlich bis zu 23% senken. „Neben der Senkung von LDL-Cholesterol ist die Lebensqualität ein wichtiger Zielparameter“, schloss Vogt. „Wichtig ist, dass weder die Behandelten noch die Behandler aufgeben und die Therapie individuell immer wieder optimieren.“ |

Literatur

[1] Diagnostik und Therapie der Dyslipid­ämien. Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz-und Kreislaufforschung e. V. (2020) ESC/EAS Pocket Guidelines

[2] Dr. med. Anja Vogt, LMU München, Innere Medizin fachübergreifend – Diabetologie grenzenlos. 26. und 27. Februar 2021, veranstaltet vom Berufsverband Deutscher Internisten e. V. (BDI)

[3] Ihle P et al. Statin-associated myopathy. Assessment of frequency based on data of all statutory health insurance funds in Germany. Pharmacology Research & Perspectives 2018;6:e00404

[4] Stroes ES et al. Statin-associated muscle symptoms: impact on statin therapy. European Atherosclerosis Society Consensus Panel Statement on Assessment, Aetiology and Management. European Heart Journal 2015;36(17):1012–1022, https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehv043

[5] Laufs U et al. Behandlungsoptionen bei Statin-assoziierten Muskelbeschwerden. Dtsch Arztebl Int 2015;112:748-755; DOI: 10.3238/arztebl.2015.0748

[6] Newman CB et al. Statin Safety and Associated Adverse Events. Arterioscler Thromb Vasc Biol 2019;39:e38-e81

[7] Meyer R. Cholesterinsenker: Statine in stetem Diskurs. Dtsch Arztebl 2019;116(3):A-80/B-68/C-68, www.aerzteblatt.de/archiv/204529/Cholesterinsenker-Statine-in-stetem-Diskurs

[8] Nielsen SF et al. Negative statin-related news stories decrease statin persistence and increase myocardial infarction and cardiovascular mortality: a nationwide prospective cohort study. European Heart Journal 2016;37(11):908–916

[9] Mancini GBJ et al. Diagnosis, prevention, and management of statin adverse effects and intolerance: proceedings of a Canadian working group consensus conference. Can J Cardiol 2011;27:635-662

Apotheker Ralf Schlenger

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