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Die Angst der Aktionäre
Was die Arzneimittelversender mit den Ausdrucken der E-Rezept-Zugangscodes vorhaben
Beobachter im politischen Berlin gehen davon aus, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit einer angekündigten Rechtsverordnung sehr bald für Klarheit sorgen wird – und nur wenig bis gar nichts reguliert. So soll es möglich sein, mittels Drittanbieter-Apps die Tokens einzulesen und ohne Authentifizierung weiterzuleiten. Selbst ein Foto oder Scan des zweidimensionalen Codes dürfte ausreichen, um Verordnungsdaten umherzuschicken.
Technisches Werk und politischer Wille
Emsig arbeitet die gematik an den elektronischen Rezepten. Seit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Amt ist und den konkreten Fahrplan vorgegeben hat, wann welches digitale Kapitel im Gesundheitswesen als nächstes aufgeschlagen wird, sind Schlagzahl und Produktivität noch mal deutlich angestiegen. Das, was die gematik nach und nach auf die Beine stellt, verkörpert die digitalen Anwendungen und Infrastruktur gewissermaßen so, wie es sich der Gesetzgeber vorstellt – und, wie es die übrigen gematik-Gesellschafter, also Krankenkassen, Kliniken und Heilberufe abnicken.
Einheitlich, sicher und transparent – so könnte man wohlwollend das technische Werk der gematik charakterisieren. Auf ihrer Website im Downloadcenter werden regelmäßig Spezifikationen, Konzepte sowie zulassungsrelevanten Dokumente zum Thema „Telematikinfrastruktur“ veröffentlicht. Daneben publiziert sie auch zahlreiche Dokumenten mit informativem Charakter. Das sind Schemata, Leitfäden oder Verfahrensbeschreibungen, die Anbietern von Hard- und Software sowie Gutachtern Hilfestellungen bei ihrer Produktentwicklung bzw. Bewertung bieten sollen. Überhaupt richtet sich das Angebot eher weniger an die Ärztin in ihrer Praxis oder den Apotheker in seiner Offizin. Mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens beginnen sich nämlich erwartungsgemäß immer mehr IT-Experten, Datenhändler, Vertreter der Tech-Branche für ein System zu interessieren, in dem vorher viel hand- und maschinenschriftlich lief, und wenn digital gedacht wurde, dann meist innerhalb von Sektorengrenzen. Das soll sich nun ändern.
Doch das technische Werk und Wirken der gematik darf nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss stets in Zusammenhang mit den politischen Absichten des Gesetzgebers gebracht werden. Im Hinblick auf die Weiterleitung von E-Rezept-Tokens hält sich dieser nämlich eine entscheidende Hintertür offen. „Sofern nach § 360 Abs. 5 SGB V nicht anders gesetzlich geregelt, ist keine Zulassung durch Drittanbieter vorgesehen“, heißt es auf der gematik-Website. Eine eher unglückliche und kryptische Formulierung: Einerseits geht es nicht um eine Zulassung durch Drittanbieter sondern von Drittanbietern. Andererseits muss vielmehr Absatz 10 im entsprechenden Paragrafen des Sozialgesetzbuchs zitiert werden. Denn dort liest man: „Das Bundesministerium für Gesundheit wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates Schnittstellen in den Diensten nach Absatz 1 sowie in den Komponenten nach Satz 1 und ihre Nutzung durch Drittanbieter zu regeln.“
TI-Komponenten: „allgemeines wirtschaftliches Interesse“
Dabei kommt der gematik eine zentrale Rolle zu. Sie soll die Komponenten der Telematikinfrastruktur (TI), die den Zugriff der Versicherten auf die elektronische ärztliche Verordnung ermöglichen, als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse entwickeln und Drittanbietern zur Verfügung stellen. Damit soll gewährleistet werden, dass Verordnungsdaten aus der gematik-App über Schnittstellen auch in die Apps von Apothekenplattformen oder Versendern gelangen können. Mittels externem Sicherheitsgutachten sollen die jeweiligen Drittanbieter-Apps hinsichtlich der Übermittlung ärztlicher Verordnungen sowie der Zugriffsmöglichkeiten für Versicherte überprüft werden.
So sicher und transparent die Entwicklung der gematik-App für E-Rezepte auch scheint, einen „Highlander“-Status besitzt sie also mitnichten. Im Gegenteil: Sollte das Ministerium erwartungsgemäß Schnittstellen vorsehen und Gutachter weitere E-Rezept-Apps für tauglich halten, muss die gematik in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) alle notwendigen Komponenten zur Verfügung stellen.
Im SGB V ist sogar von einem abgestuften Sicherheitsnachweis die Rede, je nach „Gefährdungspotenzial“ durch die jeweilige Drittanbieter-App. Nachzuweisen sind Verfügbarkeit, Integrität, Authentizität und Vertraulichkeit der Komponenten.
90 Prozent werden die Papierausdrucke nutzen
Es lässt sich auch folgendermaßen formulieren: Die gematik hat die unrühmliche Aufgabe, eine E-Rezept-App mit dem höchsten Sicherheitsstandard zu entwickeln. Heraus kommt ein digitales Produkt, dass in Sachen Convenience und User Experience (um es im passenden Jargon auszudrücken) wahrscheinlich keinen Preis gewinnen wird. So müssen GKV-Versicherten Stand heute ein eher umständliches Authentifizierungsverfahren mittels elektronischer Gesundheitskarte (eGK) sowie eigenem Smartphone durchführen. Voraussetzung ist, dass beide Komponenten mit dem Übertragungsstandard Near Field Communication (NFC) ausgestattet sind. Was sich im privaten Bereich bei den Smartphones noch relativ einfach umsetzen lässt (im Zweifel die Anschaffung eines aktuelles Modell), scheitert im System der gesetzlichen Krankenversicherung an der zeitnahen Auslieferung der NFC-fähigen Karten an die Versicherten. Dieses Problem hat die Große Koalition bereits erkannt und die Krankenkassen mittels Änderungsantrag zum kürzlich verabschiedeten Digitale Versorgung und Pflege-Modernisierungsgesetz (DVPMG) dazu verpflichtet, bis Januar 2022 ein vereinfachtes Verfahren zu entwickeln.
Doch bei der Frage, welche App – ob von der gematik oder von Drittanbietern – am Ende tatsächlich das Rennen machen wird, droht ein anderer Übertragungsweg völlig aus dem Blickfeld zu geraten. Denn es besteht mittlerweile Konsens, dass der Zugangscode für das E-Rezept nicht nur mittels App, sondern auch als Ausdruck zur Verfügung gestellt werden muss, weil nicht alle Patienten ein Smartphone nutzen (wollen). Apotheker Ralf König, der als Mitglied im Health Innovation Hub den Gesundheitsminister berät, hatte bei diversen Veranstaltungen immer wieder auf diesen Weg hingewiesen. Er prognostiziert, dass vor allem in der Anfangsphase nach der bundesweiten Einführung der E-Rezepte ab 2022 neun von zehn Patienten noch den Papierausdruck der E-Rezept-Tokens nutzen werden. Diese Erwartung hat sich offenbar auch bis ins Versandhandelslager durchgesetzt. Vor internationalen Investorenvertretern erklärte DocMorris-Deutschland-Chef Walter Hess am Mittwoch in der vergangenen Woche, dass man anfangs mit weniger als zehn Prozent der E-Rezepte über die gematik-App rechne. Über 90 Prozent der Besteller würden vielmehr einen Papierausdruck des Zugangscodes nutzen.
Digitale Busfahrkarte ist sicherer
Laut König und nach den Vorstellungen von DocMorris könnte der ausgedruckte Zugangscode aber auch mit einem Smartphone fotografiert und an den Versender übermittelt werden, ohne dabei eine zugelassene App zu nutzen. Also eine simple „Teilen“-Funktion mittels herkömmlicher Messenger-Dienste. Dies wäre technisch möglich und rechtlich wohl sicher, weil die ausgedruckten E-Rezept-Tokens im Gegensatz zum klassischen Muster-16-Rezept keinen rechtsgültigen Formularcharakter besitzen. Ein solches Übermitteln wäre auch kein verbotenes Makeln. Damit droht ausgerechnet die Ausweichlösung mit einem Medienbruch zum Einfallstor für ungeregelte Übertragungen zu werden, besonders wenn interessierte Versender dafür passende Apps anbieten.
Schon vor mehr als einem Jahr hatte der Vorsitzende des Apothekerverbands Schleswig-Holstein, Dr. Peter Froese, beklagt, dass das E-Rezept nicht einmal so behandelt werde wie eine Busfahrkarte. Denn eine elektronische Fahrkarte gilt jeweils nur in der App des Verkehrsunternehmens. Die Zugangscodes für E-Rezepte sollen aber auch außerhalb der Gematik-App übermittelt werden können.
Massive Marktoffensive geplant
Der DocMorris-Mutterkonzern, die Schweizer Zur Rose Group, wird die Einführung des E-Rezepts für eine massive Marktoffensive nutzen. Dies wurde den Aktionären beim virtuellen „Capital Market Day“ am Mittwoch in der vergangenen Woche nachdrücklich angekündigt. Es gehe um die Positionierung in einem Markt, der in mehreren europäischen Ländern zusammen mit 146 Milliarden Schweizer Franken (knapp 134 Milliarden Euro) angesetzt wird und in dem der E-Commerce-Anteil bisher minimal und damit sehr steigerungsfähig sei. Das Zur-Rose-Management rechnet damit, dass der Marktanteil des Rx-Versandes in Deutschland innerhalb von drei bis fünf Jahren von aktuell rund einem auf etwa zehn Prozent steigen und langfristig weiteres Potenzial haben wird. Die Zur-Rose-Gruppe sieht sich als Marktführer beim E-Commerce mit Arzneimitteln in Deutschland bestens aufgestellt, um eine Spitzenstellung zu erreichen. Das Unternehmen vergleicht sich mit Google, Netflix, Amazon und Zalando. Damit versucht man den Investoren und auch den potenziellen Anlegern die Angst vor dem Scheitern zu nehmen. Denn klar ist: ein deutsches, zu stark reguliertes E-Rezept würde all die Zuversicht und Hoffnung, die man seit Jahrzehnten hegt, zunichtemachen oder zumindest deutlich ausbremsen.
Gegenüber der DAZ äußert sich nun ein Finanzexperte, der die Aktivitäten der Zur-Rose-Gruppe seit Jahren beobachtet. Auch mit dem deutschen Apothekenmarkt setzt sich der Beobachter auseinander. Er will anonym bleiben – weder seine Herkunft noch sein Unternehmen dürfen genannt werden. Im Gespräch weist er auf massive Gefahren für das deutsche Apothekenwesen hin und sieht große Versäumnisse des Gesetzgebers – vor allem im Ressort von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Auf die Frage, für wie realistisch er die jüngsten Prophezeiungen aus der Zur-Rose-Gruppe hält, antwortet er: „Wie stark Rx-Arzneimittel online bei EU-Versendern nachgefragt werden, hängt stark von den folgenden Kriterien ab: Datensicherheit, Gesundheits- und Arzneimittelberatung, Lieferzeit und -sicherheit, Vertrauen zum pharmazeutischen Personal, Kundenfreundlichkeit und nicht zuletzt die soziale Interaktion.“ Ob Zur Rose wie angekündigt mehrere Milliarden Schweizer Franken bzw. Euro Zusatzumsatz von stationären Apotheken wegnehmen kann, hänge also davon ab, wie DocMorris bei den genannten Kriterien aus Patientensicht punktet. Der Beobachter zeigt sich eher skeptisch.
„Keine klare Linie“
In seinen Augen ist die aktuelle Situation im Hinblick auf den Austausch von Verordnungsdaten ein Widerspruch. Für die Einlösung von E-Rezept-Tokens müssten seiner Ansicht nach viel strengere Sicherheitsstandards gelten: „Anscheinend gibt es seitens des Ministeriums bzw. der beauftragten gematik diesbezüglich keine klare Linie. Es wird so sein, dass jeder, der im Besitz des E-Rezept-Tokens ist, die Einlösung des E-Rezepts veranlassen kann, ohne sich mittels elektronischer Gesundheitskarte identifizieren zu müssen. Gleichzeitig arbeitet die gematik aber streng nach den Datenschutz- und Informationssicherheitsregeln, und sorgt für die technische Voraussetzung, dass nur die jeweiligen Versicherten die Hoheit über die eigenen E-Rezepte haben.“
Vom Ministerium erwartet er daher, dass klargestellt werden muss, „wie der Datenschutz und die Informationssicherheit der deutschen Patienten organisiert und gewährleistet wird“. Diese Rechtsverordnung müsse auch sicherstellen, dass die Tür zum Makeln nicht doch noch geöffnet werden kann.
Für den Finanzmarktbeobachter ergibt sich der Eindruck, „dass der deutsche Gesetzgeber all diese Fragen viel zu wenig beachtet“. Und weiter: „Es scheint mir auch, dass der Gesetzgeber nicht versteht, dass der Versandhandel die Marktstruktur, welche durch das Apothekengesetz im Interesse der öffentlichen Gesundheitsversorgung definiert wird, zerstören wird.“ Die EU-Versender verfügten über unheimlich große Skaleneffekte, die Vor-Ort Apotheken nie haben werden. Der Experte betont, dass die flächendeckende und unmittelbare Arzneimittelversorgung durch die Vor-Ort-Apotheken gewährleistet sei. „Gerade während der Pandemie haben wir gesehen, welche wichtige Funktion die Apotheken für die Volksgesundheit und Gesundheitsvorsorge ausüben. Darüber hinaus wurden während der Pandemie täglich bis zu 450.000 Botendienste durchgeführt, rund 20 Millionen Botendienste wurden im letzten Jahr vergütet.“ Doch gleichzeitig und im Gegensatz zu beispielsweise Frankreich, sei die Politik in Deutschland bereit, diesen Markt für EU-Versandhändler zu öffnen, die mit großen Visionen und Umsatzzielen Investorenkapital an sich reißen wollen. Dieses Ungleichgewicht ließe sich nicht mit einem Rx-Boni-Verbot lösen. „Solange der Gesetzgeber der Meinung ist, dass die bestehende Marktstruktur in Deutschland gesundheitspolitisch im öffentlichen Interesse ist, und die Patienten vor Ort frei und ohne Benachteiligungen die Apotheke wählen können, dann sollte das Ministerium die Einführung vom E-Rezept solange verschieben bis die Grundlagen für eine nicht verzerrte Marktstruktur geschaffen sind“, rät der Beobachter.
Darüber hinaus warnt er vor weiteren Gefahren: „Man sollte auch nicht außer Acht lassen, dass diese börsennotierten Firmen mit ausländischen Investoren letztendlich auch die Hoheit über sensible Gesundheitsdaten auf Servern im Ausland haben, die jederzeit von einem einzigen Investor, auch aus Ländern mit Menschenrechtsverletzungen wie Saudi Arabien oder Russland, abgekauft werden können.“ Es könne seiner Ansicht nach nicht im öffentlichen Interesse sein, dass deutsche Patienten solchen möglichen Szenarien von vornherein ausgeliefert sind. Neben dem Versandgeschäft setzt Zur Rose mit DocMorris bekanntlich auch auf den Aufbau einer Plattform mit stationären Apotheken. Dazu meint der Finanzexperte: „Es scheint mir ziemlich pervers, dass es überhaupt Vor-Ort Apotheken gibt, die sich den Marktplatz-Plattformen von DocMorris oder Shop Apotheke anschließen.“ Er glaube schon, dass die wahren Stakeholder im deutschen Apothekenmarkt in der Lage sind, Marktplatz-Plattformen aufzustellen und einen Mehrwert für Patienten und Vor-Ort Apotheken zu ermöglichen.
„Teilen“ - ein Vorteil nur für die Versender?
Perspektivisch geht er davon aus, dass die EU-Versender sehr aggressiv und auf Kosten ihrer Profitabilität mit Rabatten im OTC-Bereich indirekte Anreize schaffen werden, um im Rx-Bereich Marktanteile zu gewinnen. „Falls das Ministerium mit einer Rechtsverordnung keine Identifikation für die Zustellung des Tokens verlangt, dann ist auch die gematik-E-Rezept-App zum Scheitern verurteilt, und DocMorris wird versuchen durch vollmundige Werbeausgaben die Patienten dazu bringen, die eigene App herunterzuladen“, so sein Fazit.
Den Apothekern und ihrer Standesvertretung rät er, vom Bundesgesundheitsministerium eine zeitliche Verschiebung der E-Rezept-Einführung zu verlangen, sowie auf eine Rechtsverordnung zu bestehen, die den Datenschutz und die Informationssicherheit für E-Rezept-Patienten gewährleistet. Die gematik-App müsse als Standard-App für deutsche Patienten etabliert werden. Außerdem sollten Vor-Ort-Apotheken unbedingt den lokalen Botendienst ausbauen und gemeinsame Marktplatz-Plattformen unterstützen.
Soweit zu den Ausführungen des Finanzmarkt-Experten. Doch auch wenn den Patienten die Wahl für einen möglicherweise ungeschützten Übertragungsweg bleibt, muss das nicht zu einem Vorteil für DocMorris gegenüber den Apotheken werden. Auch wenn dies den Zur-Rose-Aktionären beim virtuellen „Capital Market Day“ in der vergangenen Woche so dargestellt wurde. Denn wenn dazu keine Vorschriften bestehen, könnten die Vor-Ort-Apotheken ebenfalls alle Übermittlungswege nutzen. So könnten die Patienten per Drittanbieter-App oder per „Teilen“ eines Fotos oder Scans des ausgedruckten E-Rezept-Tokens ihre Verordnungen in die Apotheken senden. |
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