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Wissen generieren, anstatt herumexperimentieren
Virologe und Verfassungsrechtler kritisieren Corona-Maßnahmen
Der Virologe Hendrik Streeck und der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Ferdinand Kirchhof sehen das äußert kritisch und fordern einen Kurswechsel. Die Corona-Zahlen „auf Null zu drücken“ – wie es auch die aktuelle Bewegung #ZeroCovid forciert – sei ohnehin aussichtslos und medizinisch unmöglich.
Mehr als zwei Millionen COVID-19-Fälle hat das Robert Koch-Institut seit Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland gezählt und mehr als 47.000 Menschen sollen im Zusammenhang mit dem Virus gestorben sein. Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen auf Staat, Gesellschaft und Gesundheitswesen wurden beim virtuellen Landeskongress Gesundheit Baden-Württemberg am 15. Januar 2021 thematisiert. Anfang Februar 2020, als die Veranstaltung noch in den Messehallen in Stuttgart stattfinden konnte, äußerte sich Corona in bundesweit erst 13 Fällen und ein Thema war die Pandemie nicht – obwohl SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach anwesend war, der sich in der Folgezeit als viel gefragter Experte profilierte.
Ein Virus – gekommen, um zu bleiben?
In diesem Jahr waren es der Virologe Hendrik Streeck sowie der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Ferdinand Kirchhof, die sich im Rahmen ihrer Keynote-Vorträge ausführlich mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie befassten. Streeck und Kirchhof waren sich fast ausnahmslos einig: Die aktuellen Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie seien unverhältnismäßig drastisch, beinhalteten unrealistische Zieldefinitionen und böten keine langfristige Perspektive auf ein Leben mit dem Virus.
Streeck betonte direkt zu Anfang seines Statements, dass man gerade den letzten Punkt unbedingt akzeptieren müsse: „Trotz Impfstoff werden wir mit diesem Virus leben müssen. Und wir können sogar damit leben.“ SARS-CoV-2 und seine Mutationen würden sich bei uns als saisonale Erreger von Atemwegserkrankung einreihen und damit endemisch sowie für die meisten Menschen ungefährlich werden. Das Auftreten von Virusvarianten sei auch nichts ungewöhnliches, sondern ein natürlicher Vorgang, mit dem sich die Erreger versuchen effektiver auszubreiten.
Viel kritischer sieht Streeck dagegen die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Versäumt hätte man seit rund einem Jahr, systematisch zu erforschen, wie sich das Infektionsgeschehen in der Bevölkerung verhält. Statt mit dem Lockdown zu experimentieren, solle man Wissen generieren und dieses gezielt einsetzen, um die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kollateralschäden so klein wie möglich zu halten. „Wir müssen dazu übergehen, mit einem Skalpell statt mit dem Hammer zu arbeiten“, so Streeck. Als ein simples Instrument sieht Streeck dabei die Abfrage der jeweiligen beruflichen Tätigkeit der Infizierten an, statt einer Kontaktnachverfolgung. So könnte man eruieren, ob es Berufe oder Branchen mit hohem Ansteckungsrisiko gibt.
Erst den Erfolg definieren und dann messen
Und selbst die Auswirkungen des Lockdowns werden nach Streecks Ansicht nur unzureichend erforscht. Niemand könne die Kollateralschäden genau beziffern. Überprüft werde auch nicht, unter welchen Voraussetzungen Inzidenzzahlen von weniger als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner erreichbar sind. „Im Winter jedenfalls nicht“, verriet der Virologe beiläufig. Die täglich gemeldeten Neuinfektionen seien zudem keine repräsentative Stichprobe, sondern beeinflussbar in Abhängigkeit davon, wie streng oder weniger streng im Zeitraum zuvor getestet wurde. Streecks Meinung nach sollten die politischen Entscheider ihre Corona-Maßnahmen nicht auf Grundlage dieser Zahlen beschließen, sondern vielmehr realistisch definieren, was erreicht werden soll, und daraufhin den Erfolg messen. Er vermisse beispielsweise eine konkrete Angabe, ab welchem Zeitpunkt das Gesundheitssystem als überlastet gelte. Denn es müssten vielmehr die Meldungen und Warnungen hinsichtlich intensivmedizinischer Kapazitäten in Kliniken in die Schutzkonzepte einbezogen werden.
Schließlich räumte Streeck noch mit der in seinen Augen falschen Vorstellung auf, dass man die Pandemie auf null Infektionen herunterdrücken könne, wie es derzeit die #ZeroCovid-Bewegung verfolge. Es sei zu keinem Zeitpunkt möglich, alle zwischenmenschlichen Kontakte absolut zu minimieren. Allein im familiären und medizinischen Bereich sei es selbst bei einem europaweiten Lockdown unvermeidbar und notwendig, dass Infizierte auf Nicht-Infizierte treffen würden.
Was ist das übergeordnete Ziel?
Auch Verfassungsrechtler Ferdinand Kirchhof äußerte sich besorgt über den Aktionismus in der Corona-Krise. Doch zu Beginn seines Keynote-Vortrages zeigte er zunächst Verständnis für die aktuelle politische Situation. Die Pandemie sei etwas völlig Neuartiges für Staat und Gesellschaft und man hätte die Gefahr und Chancen ihrer Bekämpfung sehr schnell erkannt. Damit bestehe seit vergangenem Jahr das Gefühl, alles steuern zu können. Gleichzeitig würde es vonseiten der Bevölkerung eine immense Erwartungshaltung geben. Dadurch seien die Regierungen von Bund und Ländern in einer Situation, die sich jederzeit in Panik umkehren würde, wenn etwas nicht so funktioniere, wie geplant.
Dabei sei auf Grundlage der staatlichen Gewaltenteilung bisher nicht viel falsch gelaufen, erläuterte Kirchhof: Die Exekutive habe die Gefahr erkannt und sorge dafür, dass Infektionsschutzmaßnahmen umgesetzt und eingehalten werden. Die Gerichte prüften die Verhältnismäßigkeit und die Parlamente beschlössen Regelungen, die eine bestmögliche Bewältigung der Pandemie in Aussicht stellen. Exemplarisch erwähnte Kirchhof dabei die neuen Verordnungen zur Arzneimittelversorgung durch die Apotheken.
Die Pandemie ist kein Ausnahmezustand mehr
Doch für Kirchhof stehen diese positiven Aspekte mittlerweile im Schatten des lang anhaltenden Ausnahmezustands, in dem sich die Gesellschaft befindet. Die politischen Entscheider fühlten sich zunehmend hilflos und gedrängt. Man wolle unbedingt und gerade hinsichtlich der in diesem Jahr anstehenden Bundestags- und Landtagswahlen Erfolge zeigen – diese blieben aber gemessen an den täglich berichteten Zahlen bisher aus. Statt einer Kursumkehr halte man an den Dingen fest und verschärfe sie zum Teil noch. Als Beispiel nannte Kirchhof die Corona-Warn-App, die sich bei der Bekämpfung der Pandemie bisher als wenig erfolgreich erwiesen hat. Vielmehr müssten Maßnahmen zielgerichteter sein und nicht auf Grundlage unsicherer Statistiken entschieden werden. Darüber hinaus sollten Corona-Infektionen zuverlässiger und schneller gemeldet werden können. Kirchhof mahnte, die Einschränkungen der Grundrechte nicht als Bagatelle zu verstehen. So dürfe man das Recht auf Mobilität nicht mit der Freizeitgestaltung in Verbindung bringen. Menschen müssten sich beispielsweise auch zu ihrem Arbeitsplatz bewegen dürfen. Auch die Schulpflicht und die Pflicht des Staates zur „Beschulung“ seien Grundrechte, die seit rund einem Jahr nur noch sehr eingeschränkt liefen. Als eine besonders kuriose Regelung sieht Kirchhof das Sprechverbot in mallorquinischen Bussen an. „Das kann man als Staat machen. Aber muss man den Menschen wirklich das Maul verbieten?“ So sein Kommentar.
Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts stellte zur Frage, was überhaupt das übergeordnete Ziel sei: Strebe man eine „Durchseuchung“ der Bevölkerung an, sei der Lockdown kontraproduktiv. Wolle man dagegen bestimmte Risikogruppen vor einer Infektion schützen, müsse man die Maßnahmen wesentlich konkreter an der Lebenswirklichkeit dieser Menschen festmachen. Mit Blick auf die derzeitigen Machtverhältnisse in Deutschland rief Kirchhof nachdrücklich dazu auf, dass vor allem die Parlamente wieder die Entscheidungen in Form von Rechtsnormen treffen sollten und nicht einzelne Exekutivorgane.
Die am vergangenen Dienstag stattgefundenen Bund-Länder-Beratungen über Verschärfungen der Corona-Maßnahmen kommentierte Kirchhof mit einem Zitat aus Mark Twains „Huckleberry Finn“: „Als wir unser Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir unsere Anstrengungen.“
Impfpflicht? Gegen Corona aktuell eher unwahrscheinlich
Auf Nachfrage eines Zuschauers des Landeskongresses Gesundheit äußerten sich Hendrik Streeck und Ferdinand Kirchhof auch zum Thema Corona-Impfpflicht.
Kirchhof stellte klar, dass eine Verpflichtung zur Impfung grundsätzlich mit der Verfassung vereinbar sei. So hätte man Pocken, Polio und Masern deshalb ausrotten können, weil es staatliche Programme gebe und gegeben hätte, die der Bevölkerung gewisse Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit der Immunisierung vorgegeben haben.
Doch Kirchhof betonte, dass es zwingend notwendig sein muss, der Gesellschaft die Vorteile einer Impfung zu kommunizieren. Dies sei bei der Corona-Impfung aktuell nur schwer möglich, daher sieht er eine Impfpflicht aktuell kritisch. Es sei noch unklar, ob die Impfung nur die Geimpften oder auch das Umfeld vor Infektionen schützt. Das bestätigte auch Streeck. Auch für ihn stelle sich die Frage daher aktuell nicht. Die Corona-Impfung diene dazu, das Individuum vor einer schweren Form der COVID-19-Erkrankung zu schützen. Erkenntnisse über eine Herdenimmunität lägen noch nicht vor. Kirchhof gab außerdem an, dass es unklar sei, ob überhaupt für jeden Bürger, der verpflichtet werden soll, Impfstoff bereitstünde. Die aktuell gemeldeten Lieferengpässe würden nämlich dazu führen, dass kein ausreichendes Impfangebot existiere und so die Pflicht gar nicht umgesetzt werden könnte. Dadurch würden finanzielle oder arbeitsrechtliche Sanktionen ins Leere laufen.
Beide Experten – sowohl der Verfassungsrechtler Kirchhof als auch der Virologe Streeck waren sich einig, dass gesellschaftlich einschneidende Pandemien auch in Zukunft möglich und kein unrealistisches Szenario seien. Um den aktuellen Prozess jedoch nicht immer wieder neu zu starten, müsste es vielmehr Stresstests für das Gesundheitssystem geben und eine bessere Stellung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bei der internationalen Koordination. |
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