Arzneimittel und Therapie

Drama um Tramadol

Pharmakologen und Schmerzmediziner streiten über das Opioid

mp | Tramadol ist billig und ein „Dirty Drug“. Ein Pharmakologe und Pharmazeut argumentiert seit Jahren, dass Ärzte es nicht neu verordnen sollten. Eine aktuelle Studie unterstützt seine Haltung, zeigt aber Schwächen. In der klinischen Praxis gilt Tramadol als vergleichsweise sicher. Wie problematisch ist das Opioid wirklich?

„Tramadol ist der Donald Trump unter den Analgetika: gefährlich, irrational, und du wirst es bereuen.“ Diesen Witz erzählte der Pharmakologe und ­Pharmazeut Dr. David Juurlink vor zwei Jahren seinen Studentinnen und Studenten. Der Kanadier praktiziert, forscht und lehrt an der medi­zinischen Fakultät der Universität ­Toronto. Das mittelstark wirksame Opioid Tramadol ist ihm seit langem ein Dorn im Auge. Es gehört zu den am häufigsten verordneten Opioiden weltweit. In Deutschland ist es die Nummer zwei, nur die Kombination Tilidin/Naloxon wird häufiger verschrieben. Gründe für die häufigen Verordnungen könnten sein, dass sowohl Tilidin- als auch Tramadol-Präparate in Deutschland vom Betäubungsmittelgesetz ausgenommen sind. Außerdem ist Tramadol das billigste Opioid. Eine definierte Tagesdosis kostet in Deutschland zwischen 90 und 96 Cent, nur Tilidin kommt mit 1,23 Euro pro Tagesdosis auf einen ähnlichen Preis. Außerdem gilt Tramadol als wirksam und sicher.

Opioid und Antidepressivum

Doch dem widerspricht Juurlink. Seine Kritik untermauert er mit der Pharmakologie des Wirkstoffes. Tramadol ist ein „Dirty Drug“, ein schmutziges Arzneimittel, das an mehreren Stellen im Organismus bindet. Es ist nicht nur µ-Opioid-Rezeptoragonist, sondern auch ein Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI). Strukturell ähnelt es dem antidepressiv wirksamen Venlafaxin (s. Abb. 1). Die Morphin-ähnliche Wirkung des Tramadols entfaltet sich erst nach Demethylierung. Dabei entsteht der Metabolit O-Desmethyltramadol, der den µ-Opioid-Rezeptor mit vielfach höherer Affinität bindet als Tramadol selbst (s. Abb. 2).

Die Demethylierung von Tramadol zu O-Desmethyltramadol ist vom Cytochrom P450 (CYP)-Isoenzym 2D6 abhängig. CYP2D6 unterliegt jedoch starken interindividuellen Schwankungen. Bei langsamen CYP2D6-Metabolisierern (bis zu 10% der deutschen Bevölkerung) fällt die Plasmakonzentration des Opioid-Rezeptor-Agonisten O-Desmethyltramadol zu gering aus, als dass eine klinische Morphin-ähnliche Wirkung zu erwarten wäre. Tramadol entfaltet seine analgetische Wirkung bei diesen Menschen, indem es die Serotonin-Wiederaufnahme hemmt. Demgegenüber kann es bei ultraschnellen CYP2D6-Metabolisierern (rund 4% in Deutschland) zu einer Opioid-Überdosierung kommen. „Pharmakologisch gesehen ist Tramadol ein chaotischer Wirkstoff“, kommentiert David Juurlink. „Jemandem eine bestimmte Dosis Tramadol zu verabreichen ist so, als würde man jemandem Venlafaxin und Morphium in einem unbekannten Verhältnis geben. Warum sollte man so etwas tun?“

Abb. 1: Tramadol ist µ-Opioidrezeptoragonist und Serotonin- bzw. Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. Strukturell ähnelt es stark dem selektiven Serotonin- bzw. Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Venlafaxin.

Serotonerge Nebenwirkungen

Dies ist nicht das Einzige, das der Pharmakologe an Tramadol kritisiert. Auch das Nebenwirkungsprofil sei ungünstig, nicht zuletzt durch die serotonerge Wirkung. Einerseits sind Nebenwirkungen wie Übelkeit, Juckreiz und Kopfschmerzen für viele Patienten belastend. Andererseits kann Tramadol in Kombination mit anderen Serotonin-Wiederaufnahmehemmern ein Serotoninsyndrom auslösen. Es ist kontraindiziert bei Patienten, die MAO-Hemmer (z. B. Tranylcypromin) einnehmen oder in den letzten zwei Wochen eingenommen haben.

Zudem steigt unter Tramadol das Risiko für Krämpfe, insbesondere, wenn Arzneimittel hinzukommen, die die Krampfschwelle herabsetzen. Dies ist z. B. bei Antidepressiva oder Antipsychotika der Fall. Das Opioid ist bei Patienten mit unkontrollierter Epilepsie kontraindiziert.

Darüber hinaus deuten retrospektive Studien darauf hin, dass bei Diabetikern das Hypoglykämie-Risiko unter Tramadol erhöht ist.

Abb. 2: Über CYP2D6 wird Tramadol an seiner Ether-Struktur demethyliert. Der entstan­dene M1-Metabolit O-Desmethyltramadol bindet den µ-Opioid-Rezeptor um ein Vielfaches stärker als Tramadol selbst.

Suchtpotenzial und Mortalität

Tramadol stand lange Zeit im Ruf, seltener abhängig zu machen als andere Opioide. Doch Thiels et al. erklärten 2019 im „British Medical Journal“: Viele Studien, die das Abhängigkeitspotenzial von Opioiden untersuchten, hatten Tramadol nicht berücksichtigt. Sie veröffentlichten eine Kohortenstudie, die auf Daten von 357.884 Krankenversicherten zurückgriff. Mit Tramadol behandelte Patienten forderten häufiger Folgerezepte als unter anderen Opioiden. Hatte der Arzt initial Tramadol verordnet, stieg das Risiko, dass Patienten zusätzlich Opioide konsumierten um 6% (relatives Risiko 1,06). Das Risiko für einen anhaltenden Opioid-Gebrauch stieg um 47% (relatives Risiko 1,47). Tramadol-Kritiker fühlen sich durch die Ergebnisse einer aktuellen Publikation bestätigt: Im Oktober 2021 veröffentlichten die Autoren Xie et al. im Journal „JAMA“ eine retrospektive Kohortenstudie. Darin verglichen sie die Daten von 368.960 Patienten. Zum einen war das Risiko zu sterben unter Tramadol doppelt so hoch wie unter Codein (Hazard Ratio [HR] = 2,31, 95%-Konfidenzintervall [KI]: 2,08 bis 2,56). Zum anderen fiel das Risiko kardiovaskulärer Ereignisse höher aus (HR = 1,15, 95%-KI: 1,05 bis 1,27). Die Autoren räumen aber ein, dass unbekannte Störgrößen das Ergebnis beeinflusst haben könnten. Zudem hat Codein in Deutschland seine ­Bedeutung als Analgetikum weitest­gehend verloren.

Juurlink kommentiert die Studie gegenüber der DAZ-Redaktion: „Es ­handelt sich um eine Observations­studie - das müssen wir berücksichtigen. Ich bin mir unsicher, ob alle Signale, die die Studie offenlegt, kausal mit der Tramadol-Anwendung zusammenhängen.“ Aber vieles ergebe für ihn Sinn. „Ich sage nicht, dass Tramadol niemandem helfen kann“, sagt Juurlink. „Aber aus guten Gründen ist es kein Arzneimittel, dass neu verordnet werden sollte.“

 

Foto: David Juurlink

Ein Tramadol-Generikum wurde „Trump“ benannt. Pharmakologe David Juurlink nutzte das für einen Witz: „Tramadol ist der Donald Trump unter den Analgetika.“

Unbedenklich, sagen Kliniker

Prof. Dr. Winfried Häuser hält die pharmakologischen Bedenken bei Tramadol aus klinischer Sicht für nicht gerechtfertigt. Er ist Oberarzt der Klinik innere Medizin in Saarbrücken und außerordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Er kennt die Diskussion um Tramadol. „Die Daten zeigen, dass sich Tramadol bezüglich Wirksamkeit und schweren Nebenwirkungen nicht von anderen Opioiden unterscheidet. Auch die Erfahrungen aus der Klinik unterstützen die Kritikpunkte nicht.“ Ein Serotonin-Syndrom haben Häuser und seine Kolleginnen und Kollegen im medizinischen Versorgungszentrum für Schmerzmedizin noch nie gesehen. „Was klinisch auffällt: Unter Tramadol klagen Patienten häufiger über Übelkeit als unter vergleichbaren Wirkstoffen. Auch Kopfschmerzen treten häufiger auf.“

Fazit

Pharmazeuten und Mediziner streiten sich über Tramadol. Die pharmakologischen Schwächen mögen aufhorchen lassen. Gegenüber der DAZ-Redaktion bleibt Juurlink beharrlich: „Ich denke, es macht keinen Sinn, eine Tramadol-Therapie zu beginnen, egal gegen welche Art von Schmerz.“

Aber viele Mediziner argumentieren, dass die ­Risiken aus klinischer Sicht keine Bedeutung hätten. Auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erklärt, dass die derzeitige ­Datenlage das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis von Tramadol rechtfertigt.

Vielleicht wird sich der Konflikt mit der Zeit lösen. Denn auch wenn Tramadol das am häufigsten verschriebene Opioid-Monopräparat in Deutschland ist - die 2019 verordneten 62,2 Millionen täglichen Tages­dosen gingen im Vergleich zum Vorjahr um 4,1% zurück. Dabei setzt sich der Opioid-„Bestseller“ Tilidin/Naloxon immer weiter vom Tramadol ab. |

Literatur

Fournier JP et al. Tramadol Use and the Risk of Hospitalization for Hypoglycemia in Patients With Noncancer Pain. JAMA 2015, doi:10.1001/jamainternmed.2014.6512

Juurlink D. “What’s wrong with tramadol?” is something I get asked a lot. Thread vom 21. Oktober 2017, www.twitter.com

Müller C. Opioidabhängigkeit - Wurde Tramadol unterschätzt? DAZ.online 2019, News Artikel vom 24. Mai

Schwabe U, Ludwig WD. Arzneiverordnungs-Report 2020 - Aktuelle Daten, Kosten, Trends und Kommentare

Thiels CA et al. Chronic use of tramadol after acute pain episode. BMJ 2019, doi.org/10.1136/bmj.l1849

Why Tramadol sucks (and also Codeine) with Dr Dave Juurlink. Purple Pen Podcast Folge 45, 11. März 2019, www.purplepenpodcast.com

Xie J et al. Association of Tramadol vs Codeine Prescription Dispensation With Mortality and Other Adverse Clinical Outcomes. JAMA 2021, doi:10.1001/jama.2021.15255

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