Arzneimittel und Therapie

Ein Piks gegen Affenpocken

Was der Impfstoff Imvanex® leisten kann

mab | Weltweit häufen sich die Fälle von Affenpocken. In Großbritannien werden Kontaktpersonen bereits geimpft, auch hierzulande wird eine Empfehlung für bestimmte Kontaktpersonen ab 18 Jahren diskutiert. Um vorzusorgen, hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach einige Tausend Dosen des Pockenimpfstoffs Imvanex® geordert. Doch was unterscheidet den Impfstoff von den Pockenimpfstoffen früherer Generationen?

Der 8. Mai 1980 ist in die Geschichte eingegangen: Zum ersten und bisher einzigen Mal wurde durch eine Impfung eine Infektionskrankheit – die Pocken – von der Weltgesundheitsorganisation WHO weltweit als ausgerottet erklärt. Zuvor hatte die durch Variola-versus-Viren verursachte Krankheit, die sich durch heftiges Fieber, Kopf-, Gliederschmerzen und den typischen beulenartigen Ausschlag äußert, über mehrere tausend Jahre Millionen von Menschenleben gefordert. Möglich ­geworden war die Eliminierung nur durch die von der WHO angeordnete stringente Impfkampagne zwischen 1966 und 1977. Noch heute ziert als Relikt aus dieser Zeit eine runde bis ovale Narbe die Oberarme von Personen der älteren Generation (s. Kasten „Per Impfpistole in die Haut).

Per Impfpistole in die Haut

Um möglichst viele Menschen in kurzer Zeit gegen die Pocken zu impfen, wurde häufig eine Impfpistole eingesetzt, die entweder mit Kanülen oder ohne Kanülen unter Hochdruck eine Impfflüssigkeit in die Haut und ins Sub­kutangewebe appliziert. Durch den Druck entsteht eine kleine Verletzung in der Haut, in der sich die Viren vermehrten. Nach der Entzündung bildet sich dann die charakteristische Narbe. Innerhalb einer Stunde konnten so etwa 1000 Impfungen durchgeführt werden. Aufgrund des Risikos der Übertragung von Infektionskrankheiten, rät die Weltgesundheitsorganisation inzwischen von der Verwendung von Impfpistolen ab.

Die Pockenimpfstoffe wurden in den frühen 1960er-Jahren zunächst mit einer sogenannten Bifurkationsnadel (Nadel mit geteilter Spitze) verabreicht, wodurch nicht nur eine zusätzliche Aktivierung des angeborenen Immunsystems erreicht, sondern gleichzeitig auch die notwendige Dosis des Impfstoffes auf ein Viertel verringert werden konnte. Als Antigen wurden keine Variola-Viren genutzt, sondern die eng verwandten Vaccina-Viren, die Kuhpocken hervorrufen (und die für die Namensgebung des heute noch gebräuchliche Impfstoff-Synonyms „Vakzine“ verantwortlich sind). Bei der Immunisierung wird die Nadel zunächst in den Impfstoff getaucht und anschließend etwa 15 Mal perkutan in die Haut des Oberarms gestochen, sodass diese leicht blutet. Die enthaltenen Viren vermehren sich in der Dermis, sodass nach zwei bis fünf Tagen nach der Impfung rote juckende Beulen entstehen. Innerhalb einiger Tage bilden sich eitergefüllte Blasen aus, die in der zweiten Woche nach der Immunisierung austrocknen. Der entstandene Schorf fällt zwei bis vier Wochen nach der Injektion ab, es entsteht eine kleine Narbe. Da es sich bei den Impfstoffviren um replikations­fähige Viren handelt, musste neben einer strengen Handhygiene die Impfstelle im ersten Monat nach der Immunisierung stets bedeckt gehalten werden, um eine Übertragung auf andere Personen (insbesondere Schwangere und immunsupprimierte Menschen) zu vermeiden. Aufgrund der Replikationsfähigkeit der Viren war die Auto­inokulation – also die Verschleppung der Impfviren von der Injektionsstelle beispielsweise in die Augen und damit verbundenen Entzündungen – eine gefürchtete Folgeerscheinung der Impfung. Selten, aber dennoch zum Teil tödlich, traten Nebenwirkungen wie Myokarditis und Perikarditis auf.

Foto: cristianstorto/AdobeStock

Charakteristische Narben an Oberarmen lassen auf eine Pockenimpfung in der Vergangenheit schließen.

Erste, zweite, dritte Generation

Wurden die Pocken-Impfstoffe der ersten Generation noch aus der Lymphe oder der Haut geimpfter Tiere hergestellt, so erfolgte die Herstellung der Folgegenerationen an Pockenimpfstoffen mithilfe moderner Zellkulturtechniken nach GMP (Good Manufacturing Practice). Während die zweite Generation die gleichen Pockenimpfstämme wie die erste Generation oder klonale Virusvarianten nutzte, die in Gewebezellen hergestellt wurden, beinhalten Impfstoffe der dritten Generation abgeschwächte Impfstämme, die besser verträglich sind und daher auch für Risikogruppen mit Immunstörungen eingesetzt werden können. Trotz der offiziellen Ausrottung der Pocken vor knapp 40 Jahren bevorratet der Bund – sowie etliche weitere Länder – zum Schutz der Zivilbevölkerung vor einem erneutem Pockenausbruch laut einem Bericht des Gesundheitsausschusses des Bundestages weiterhin aktuell etwa 100 Millionen Dosen des zur zweiten Generation gehörigen klassischen Pockenimpfstoffs ACAM 2000® (Sanofi Pasteur Biologics Co).

Affenpocken im Vormarsch

Seitdem ist es lange Zeit ruhig gewesen um die Pocken. Bis zuletzt: In den vergangenen Wochen sind in mehreren Kontinenten Fälle von Affenpocken aufgetreten. Auch in Deutschland sind bisher 80 Fälle bestätigt (Stand: 7. Juni 2022). Die normalerweise in Nagetieren verbreiteten Viren vom Typ Orthopoxvirus simiae sind eng verwandt mit den humanen Pockenviren und rufen ähnliche Symptome hervor; die Krankheitsverläufe sind jedoch wesentlich milder, und Betroffene erholen sich meist innerhalb weniger Wochen. Beim Infektionsgeschehen fällt auf, dass die Erkrankten sich nicht in den Virusgebieten in Afrika aufgehalten hatten. Ursächlich vermutet man aktuell eine Übertragung im Rahmen sexueller Kontakte, bei denen über den engen Hautkontakt virales Material übertragen wird. Das Robert Koch-Institut empfiehlt, sowohl in bestätigten als auch in Verdachtsfällen von Affenpocken eine Isolation über 21 Tage. Körperkontakt zu anderen Personen sollte vermieden werden, Haut und berührte Oberflächen sind regelmäßig zu reinigen und zu desinfizieren.

Suche nach Impfstrategie

Um die Ausbreitung in der Allgemeinbevölkerung besser einzudämmen, hat das Vereinigte Königreich als erste Nation in sogenannten Ringimpfungen bereits mehr als 1000 Dosen Pockenimpfungen an Kontaktpersonen von Patienten mit Affenpocken verabreicht. Hierzulande sieht die Ständige Impfkommission (STIKO) aktuell keine Notwendigkeit für eine Durchimpfung der Gesamtbevölkerung. Laut ­Robert Koch-Institut ist jedoch eine Impfung für bestimmte Kontaktpersonen ab 18 Jahren denkbar. Aufgrund der Nebenwirkungen und der eingeschränkten Anwendung bei immunsupprimierten Patienten kommt die Anwendung des eingelagerten klassischen Pockenimpfstoffs ACAM2000® jedoch nicht infrage. Besser verträglich ist hingegen der in der EU zugelassene Pockenimpfstoff Imvanex®. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat vor wenigen Tagen im „Bericht aus Berlin“ verkündet, dass er innerhalb der ersten beiden Juniwochen mit der Lieferung von etwa 40.000 Dosen Imvanex® für Deutschland rechnet, weitere 200.000 sollen folgen.

Der Impfstoff Imvanex

Imvanex® zählt zu den Impfstoffen der dritten Generation und enthält das in Hühnerembryozellen gezüchtete modifizierte Vaccinia-Virus „Ankara“ (MVA). Zwar zählt der Impfstoff auch zu den Lebendimpfstoffen, die enthaltenen Viren können sich jedoch aufgrund der Modifikation nicht selbstständig replizieren. Neben einer besseren Verträglichkeit ermöglicht das auch die Immunisierung von immungeschwächten Personen, die keine Impfstoffe mit replikationsfähigen ­Viren erhalten dürfen. Ebenso unterbleiben die von klassischen Pockenimpfstoffen bekannten Hautreaktionen, sodass keine Übertragung der Impfviren auf Nichtgeimpfte erfolgen kann. Eine 0,5-ml-Ampulle der hellgelb bis blass-weißlich milchigen ­Suspension enthält mindestens 50.000.000 infektiöse Einheiten MVA Bavarian-Nordisc-Lebendviren, Trometamol zur pH-Wert-Einstellung, NaCl und Wasser für Injektionszwecke. Herstellungsbedingt können Reste von Hühnereiweiß, Gentamicin, Ciprofloxacin oder Benzonase (eine Endonuklease, die Nukleinsäuren bei der Aufreinigung der Impfstoffe entfernt), enthalten sein; sollten Patienten gegen den Wirkstoff oder gegen einen dieser Inhaltsstoffe Unverträglichkeiten aufweisen, darf der Impfstoff nicht angewendet werden . Die Aufbewahrung des Impfstoffs erfolgt lichtgeschützt im Gefrierschrank (zwei Jahre bei – 20 ± 5 °C bzw. fünf Jahre bei – 50 ± 10 °C oder fünf Jahre bei – 80 ± 10 °C), kurzzeitig kann er für bis zu acht Wochen im Kühlschrank (2 bis 8 °C) gelagert werden. Vor der subkutanen Injektion in den Deltamuskel des Oberarms ist der auf Raumtemperatur temperierte Impfstoff mindestens 30 Sekunden lang sanft zu schwenken und auf mögliche Verfärbungen oder vorhandene Partikel zu überprüfen.

Zulassung unter außer­gewöhnlichen Umständen

Aufgrund der Ausrottung der Pockenkrankheit und der damit verbundenen Schwierigkeit, an vollständige Informationen zu gelangen, hat der Impfstoff am 31. Juli 2013 eine Zulassung der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) unter „außergewöhnlichen Umständen“ erhalten. Der Hersteller ist damit verpflichtet, der EMA regelmäßig aus Beobachtungsstudien Daten zum Nutzen-Risiko-Verhältnis des Impfstoffs sowie Daten im Falle eines Krankheitsausbruchs zuzusenden. Diese werden jährlich von der Behörde ausgewertet. Zum Zeitpunkt der Zulassung ging die EMA davon aus, dass der Impfstoff einen ähnlich hohen Schutz gegen Pocken gewährt wie herkömmliche Pocken-Impfstoffe; inwiefern dieser länger als die in Studien untersuchten 24 Monate anhält, konnte aufgrund der geringen Datenlage jedoch nicht gesagt werden.

Die Datenlage

Insgesamt wurde die Vakzine in 20 klinischen Studien an mehr als 5000 Pockenimpfstoff-naiven Patienten (gesunde Patienten sowie Patienten mit Humanem Immundefizienz-Virus (HIV) und atopischer Dermatitis [=beides Patientengruppen, für die klassische Impfstoffe kontraindiziert sind]) untersucht. Im zugelassenen Schema der Grundimmunisierung, das eine zweite Impfdosis frühestens 28 Tage nach der ersten Injektion vorsieht, konnte der Impfstoff an Tag 42 nach Injektion bei den gesunden eine Serokonversationsrate von mehr als 98% erzielen. Bei den Patienten mit HIV und atopischer Dermatitis fielen die Serokonversionsraten geringfügig niedriger aus (96,2% und 97,3%). Neurodermitis-Patienten wiesen im Vergleich zu gesunden Probanden verstärkt lokale (z. B. Erythem: 61,2% vs. 49,3%; Schwellung: 52,2% vs. 40,8%) und systemische Nebenwirkungen (z. B. Kopfschmerzen: 33,1% vs. 24,8%, Myalgie: 31,8% vs. 22,3%) auf. Bei 7% der Probanden mit atopischer Dermatitis kam es während des Studienzeitraums zu einem Schub oder einer Verschlechterung der Hauterkrankung. Zudem kann eine einmalige Dosis ­Imvanex® als Auffrischungsimpfung nach vorausgegangener Imvanex®-Impfung oder Immunisierung mit einem anderen Pocken-Impfstoff appliziert werden (immungeschwächte ­Personen können auch zwei Dosen ­Imvanex® im Abstand von mindestens 28 Tagen erhalten). Im Rahmen zweier Studien mit 534 Probanden aktivierte eine einmalige Auffrischungsdosis mit Imvanex® nach einer lang zurückliegenden klassischen Pockenimpfung bzw. einer mindestens zwei Jahre zurückliegenden Imvanex®-Impfung das Immungedächtnis. So stieg der mittlere geometrische Titer innerhalb von 14 Tagen von 23 auf 1688 in der zuvor mit Imvanex® geimpften Gruppe, in der mit anderen Pockenimpfstoffen immunisierten Gruppe von 39 auf 621.

Wirksam gegen Affenpocken?

Da Imvanex® in Primaten eine ähnliche Immunogenität wie klassische Pockenimpfstoffe gezeigt hat und zudem die Tiere vor schweren Erkrankungen mit Affenpocken bewahrt hat, ist die Vakzine in den USA und Kanada offiziell zur Behandlung der Affenpocken zugelassen. Ob Imvanex® auch Menschen vor Affenpocken schützt, wird aktuell noch untersucht. Frühere Daten aus Afrika deuten jedoch darauf hin, dass Imvanex® bei der Prävention von Affenpocken zu mindestens 85% wirksam ist. Experten gehen davon aus, dass auch eine Immunisierung nach Exposition noch dazu beitragen kann, die Krankheit zu verhindern oder ihren Verlauf abzuschwächen. So empfiehlt die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC (Centers for Disease Control and Prevention), den Impfstoff innerhalb von vier Tagen nach der Exposition zu verabreichen, um den Ausbruch der Krankheit zu verhindern. Wird die Impfung zwischen vier und 14 Tagen nach Exposition verabreicht, kann sie zwar die Krankheitssymptome lindern, aber die Krankheit nicht verhindern. Auch das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung (DZIF) geht in einer kürzlich veröffentlichen Stellungnahme davon aus, dass eine Impfung mit Imvanex® bei nicht-pockengeimpften Geburtsjahrgängen den Schutz vor Infektion und Erkrankung relevant erhöht, und so in bekannten Infektionsclustern Infektionen vermieden und das Ausbruchsgeschehen abgemildert werden könnten. Nach Meinung des DZIF sollte die EMA daher zeitnah eine EU-Zulassung gegen Affenpocken und die STIKO eine diesbezügliche Impfempfehlung prüfen. |
 

Literatur

Affenpocken. Informationen des Auswärtigen Amts, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/reise-gesundheit/affenpocken/2532402

Lauterbach kündigt Affenpocken-Impfstoff an. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/lauterbach-affenpocken-impfstoff-100.html, Abruf am 31. Mai 2022

Ziegler A. Nadelfreie Injektionssysteme. DAZ 2005, Nr. 26, S. 50

Informationen des Robert Koch-Instituts, Stand: 27. Mai 2022

Medication Guide Smallpox (Vaccinia) Vaccine, Live ACAM2000®.www.fda.gov/media/75800/download, Abruf am 2. Juni 2022

Cono J et al. Smallpox Vaccination and Adverse Reactions. www.cdc.gov/mmwr/preview/mmwrhtml/rr5204a1.htm

European public assessment report (EPAR) Imvanex, Stand: April 2022

Informationen des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF), 27. Mai 2022 www.dzif.de/de/gemeinsame-stellungnahme-zum-ausbruch-von-affenpocken-deutschland

Imvanex Fachinfo: Stand Oktober 2021

Monkeypox and Smallpox Vaccine Guidance. Centers for Disease Control and Prevention, www.cdc.gov/poxvirus/monkeypox/clinicians/smallpox-vaccine.html, Stand: Dezember 2019

Smallpox vaccines, Informationen der Weltgesundheitsorganisation WHO, www.who.int/news-room/feature-stories/detail/smallpox-vaccines, Abruf 1. Juni 2022

Vacciniavirus. www.pschyrembel.de/Vacciniavirus/K0NFJ, Stand: März 2021

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