Arzneimittel und Therapie

Neuer Tuberkulose-Impfstoff in Sicht

Positive Studienergebnisse zum Impfstoffkandidaten VPM1002

Seit Jahren wird intensiv an der Entwicklung eines neuen Impfstoffs gegen Tuberkulose gearbeitet, nachdem der bisherige Impfstoff BCG (Bacillus Calmette-Guérin) seit 1998 in Deutschland nicht mehr empfohlen wird. Deutschland gehört zwar zu den Niedriginzidenzländern in puncto Tuberkulose, Experten sehen dennoch einen dringenden Bedarf für einen effektiven und sicheren Tuberkulose-Impfstoff – vor allem vor dem Hintergrund der weltweiten Verbreitung der Tuberkulose. Die ersten Hürden hat der Impfstoffkandidat VPM1002 genommen, der in Studien ebenso wirksam war wie der BCG-Impfstoff. Eine aktuelle Studie in Südafrika hat nun gezeigt, dass VPM1002 bei Neugeborenen im Vergleich zu BCG signifikant weniger Nebenwirkungen verursacht [1, 2].

Die Tuberkulose gehört neben HIV und der Malaria weltweit zu den häufigsten schweren Infektionskrank­heiten. Nach Schätzungen der Welt­gesundheitsorganisation (WHO) erkranken jedes Jahr etwa 10 Millionen Menschen und rund 1,5 Millionen versterben jährlich an einer Tuberkulose [3]. In Deutschland sind die Krankheitszahlen nach einem vorüber­gehenden Anstieg der gemeldeten Krankheitsfälle in den Jahren 2015 und 2016 derzeit wieder rückläufig: Aktuell wird die Zahl der Tuberkulose­fälle hierzulande auf „nur noch“ rund 4500 geschätzt (s. Tab.) [3].

Sehr viel häufiger ist die Tuberkulose in Entwicklungsländern und generell in Ländern mit niedrigem Einkommen. Nach WHO-Schätzungen treten zwei Drittel der weltweiten Fälle in Indien, Indonesien, China, den Philippinen, Pakistan, Nigeria, Bangladesch und Südafrika auf. In diesen Ländern ist eine Inzidenz der Erkrankung von mehreren Hundert Neuerkrank­ungen/100.000 Einwohner pro Jahr wahrscheinlich, in Südafrika und den Philippinen sogar von mehr als 500/100.000 Einwohner. Die WHO geht zudem davon aus, dass etwa ein Viertel der Weltbevölkerung latent mit Tuberkuloseerregern infiziert ist [3].

In Europa ist bei den Infektionszahlen ein Ost-West-Gradient erkennbar, wobei die Inzidenz in Deutschland mit 5 bis 7/100.000 Einwohner in den vergangenen Jahren erfreulich niedrig ist [3].

Tab. 1: Eckdaten zur Tuberkulose in Deutschland für das Jahr 2020 Die Eckdaten basieren auf den Angaben, die im Rahmen der allgemeinen Meldepflicht von den Gesundheitsämtern für das Jahr 2020 bis zum 1. März 2021 an das Robert Koch-Institut (RKI) übermittelt wurden (nach [RKI-Bericht zur Epidemiologie der Tuberkulose in Deutschland für 2020]).
Anzahl
Prozentanteil [%]
Inzidenz
Zahl der Erkrankten pro 100.000 Einwohner
Anzahl Tuberkulose-Erkrankungen 2020
4127
5,0
darunter Todesfälle
108
0,1
demografische Verteilung nach Geschlecht (n = 4118)
männlich
2659
64,6
6,5
weiblich
1459
35,4
3,5
demografische Verteilung nach Alter (n = 4126)
Erwachsene
3963
96,0
5,5
Kinder < 15 Jahren
163
4,0
1,4
Todesfälle nach Geschlecht (n = 108)
männlich
74
68,5
0,2
weiblich
34
31,5
0,1
Todesfälle nach Alter (n = 108)
Erwachsene
107
99,1
0,1
Kinder < 15 Jahren
1
0,9
0,0
Staatsangehörigkeit (n = 3862)
deutsche Staatsangehörige
1309
33,9
1,8
ausländische Staatsangehörige
2553
66,1
24,6
Geburtsland (n = 3949)
in Deutschland geboren
1132
28,7
keine Angabe
im Ausland geboren
2817
71,3
keine Angabe
pulmonale Tuberkulose (n = 2903)
offene Form
2495
85,9
3,0
darunter mikroskopisch positiv
1460
50,3
1,8
geschlossene Form
408
14,1
0,5
Vorgeschichte / Vorerkrankung (n = 2998)
mit Vorerkrankung
298
9,9
0,4
ohne Vorerkrankung (Ersterkrankung)
2700
90,1
3,2

Tuberkuloserisiko auch hierzulande ernst nehmen

Dennoch ist das Risiko, an einer Tuberkulose zu erkranken, auch in unseren Breitengraden nicht zu unterschätzen. Denn es gibt Personen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko. Hierzu gehören Menschen mit engem und/oder längerem Kontakt zu Personen, die an einer ansteckungsfähigen Lungentuberkulose leiden sowie Personen mit unzureichend behandelter früherer Tuberkulose. Risiko­faktoren für die Entwicklung einer Tuberkulose sind ferner eine HIV-Infektion, Rauchen, eine Alkohol- und Drogenabhängigkeit, Unterernährung, ein Diabetes mellitus sowie besondere Lebensumstände wie Obdachlosigkeit, ein früherer Haftaufenthalt und Armut. Es besteht außerdem ein erhöhtes Krankheitsrisiko bei Menschen aus Herkunftsländern, in denen die Tuberkulose noch sehr häufig und die Infektionsprävalenz daher hoch ist [3].

Zu bedenken ist auch, dass bei einer latenten Tuberkuloseinfektion das Risiko des Fortschreitens der Erkrankung in eine manifeste Tuberkulose bei einer HIV-Infektion, aber auch bei anderen Ursachen einer geschwächten Immunabwehr deutlich erhöht ist. Das ist auch der Fall bei einer nachlassenden Immunabwehrkraft im höheren Alter sowie bei einer medikamentösen Therapie mit Wirkstoffen, die das Immunsystem supprimieren wie unter anderem TNF-alpha-Inhibitoren [3].

Tuberkulose-Impfstoff – ein unmet need

Vor diesem Hintergrund wäre die Möglichkeit einer effektiven und sicheren Impfung durchaus wünschenswert, die Verfügbarkeit eines sicheren Impfstoffs ist aus Sicht der Experten medizinisch nicht gesichert (unmet need). Doch während bei der SARS-CoV-2-Pandemie bereits innerhalb eines Jahres nach Auftreten des neuartigen Coronavirus mehrere wirksame Impfstoffe entwickelt und zugelassen wurden, ist die Situation bei der Impfstoffentwicklung gegen eine Tuberkulose aus Sicht des Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose (DZK) eher ernüchternd. So wurde seit Entdeckung der Tuberku­loseerreger im Jahr 1882 mit dem BCG-Impfstoff bislang nur ein einziger Impfstoff zugelassen [4]. Der BCG-Impfstoff basiert auf einem attenuierten Stamm des humanpathogenen Tuberkulose-Erregers, das Mycobacterium bovis, und wurde laut DZK 1921 entwickelt. Der Impfstoff schützt nach Angaben der Organisation vor der Entwicklung schwerer Verläufe der Erkrankung wie etwa der miliaren Tuberkulose oder der Tuberkulose-Meningitis im Kindesalter. Er bietet aber keinen sicheren Schutz gegen die pulmonale Tuberkulose als häufigste Manifestation [4].

Gegen den BCG-Impfstoff spricht außerdem das Nebenwirkungsrisiko. So kommt es oftmals zur Narbenbildung an der Injektionsstelle und es kann auch eine tuberkulöse Osteomyelitis oder auch ein disseminierter Verlauf der Erkrankung ausgelöst werden. Da das Risiko für Nebenwirkungen die Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufes der Tuberkulose in Deutschland übersteigt, wird die BCG-Impfung hierzulande nicht mehr empfohlen.

Suche nach neuen Impfstoffen

Es wird jedoch intensiv an der Entwicklung neuer Impfstoffe gegen Tuberkulose gearbeitet und derzeit sind gleich mehrere Kandidaten in der Pipeline. Sie basieren laut DZK auf viralen Vektoren, Impfstoff-Adjuvanzien und attenuierten Lebend- oder Totimpfstoffen. Allerdings stößt die klassische Impfstoffentwicklung auf Schwierigkeiten, die durch spezielle Eigenschaften der Mykobakterien bedingt sind. „Anders als bei vielen anderen Impfstoffen gibt es kein eindeutig identifizierbares immun­dominantes Antigen, sodass eine effektive Impfung nicht allein auf neutralisierenden Antikörpern basieren kann, sondern eine effiziente T-Zell-Antwort voraussetzt“, heißt es auf der Webseite des Zentralkomitees [4]. Es ist daher insbesondere bei Menschen mit Immunschwäche schwierig, eine adäquate Immunantwort durch die Impfung zu erwirken.

Schützt die BCG-Impfung auch Typ-1-Diabetiker vor COVID-19?

Die BCG-Impfung schützt nicht nur vor einer Tuberkulose, sondern hat auch Off-Target-Effekte auf andere Virus­erkrankungen [5]. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang aktuelle Befunde, wonach wiederholte BCG-Impfungen bei Menschen mit Typ-1-Diabetes einer COVID-19-Infektion sowie weiteren Infektionskrankheiten vorbeugen können [6]. Das zeigt eine randomisierte doppelblinde placebokontrollierte Phase-II/III-Studie mit 144 erwachsenen Probanden mit Diabetes mellitus Typ 1, die bis dato keine COVID-19-Impfung erhalten hatten. Im Beobachtungszeitraum von 15 Monaten kam es bei 12,5% der Probanden in der Placebogruppe zu einer COVID-19-Infektion gegenüber nur 1% bei wiederholter BCG-Impfung. Die Betroffenen in der BCG-Gruppe entwickelten außerdem weniger Symptome der Infektion, es resultierte ein leichterer Krankheitsverlauf und es traten generell weniger Infektionskrankheiten in diesem Kollektiv auf. Der Impfstoff scheint eine breite Schutzwirkung zu besitzen, einschließlich dem Schutz vor neuen SARS-CoV-2-Varianten sowie anderen Infektionserregern, so die Hypothese der Studienautoren.

Solche Off-Target-Effekte des BCG-Impfstoffs wurden zuerst in Afrika festgestellt, wo bei BCG-geimpften Kindern eine geringere Gesamtsterblichkeit resultierte. Außerdem haben Studien in Guinea-Bissau und Uganda bereits gezeigt, dass die neonatale BCG-Impfung auch vor anderen Infektionskrankheiten als Tuberkulose schützen kann [5]. Es gibt ferner Hinweise darauf, dass die BCG-Impfung bei älteren Probanden die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung von Gelbfieber, Malaria und viralen Infektionen der Atemwege reduziert. Zu erklären sind die Effekte möglicherweise durch eine Veränderung der DNA-Methylierungssignatur in zirkulierenden Monozyten als Folge der neonatalen BCG-Impfung [7].

In weiteren Studien soll nun geprüft werden, ob die BCG-Impfung auch das Gesundheitspersonal vor einer COVID-19-Erkrankung schützen kann [5].

Erfolg versprechender neuer Impfstoffkandidat

Aufsehen erregte dabei jüngst die Publikation einer Phase-II-Studie zu einem neuen Impfstoffkandidaten, der von der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Stefan H. E. Kaufmann, Emeritus-Direktor am Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften und am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin, entwickelt wurde [1]. Es handelt sich um VPM1002, eine auf einem abgeschwächten BCG-Impfstamm basierende Vakzine, die genetisch so verändert wurde, dass Immunzellen die Erreger besser erkennen können.

Der rekombinante BCG-Stamm hat in vorangegangenen Phase-I- und Phase-II-Studien bereits gezeigt, dass er bei immunkompetenten Patienten eine dem herkömmlichen BCG-Impfstoff ebenbürtige Immunantwort induziert.

Sicherheit in Phase-II-Studie belegt

In der aktuellen in Südafrika durch­geführten Phase-II-Doppelblindstudie, einer Nicht-Unterlegenheitsstudie, wurden nunmehr 416 HIV-exponierte Säuglinge, die von HIV-positiven Müttern geboren wurden, sowie nicht-exponierte Neugeborene innerhalb der ersten zwölf Lebenstage mit VPM1002 oder BCG geimpft. Die Studie untersuchte sowohl die Sicherheit als auch die Immunogenität der Vakzine. Das Follow-up bestand neben immunologischen Untersuchungen aus dem Screening auf unerwünschte Ereignisse sowie einem Tuberkulin-Hauttest im zwölften Monat nach der Impfung. Das Ergebnis: Die Studie belegt die Sicherheit von VPM1002. So kam es im Vergleich zu BCG zu signifikant weniger impfstoffbedingten schweren Nebenwirkungen und ebenso zu weniger lokalen Reaktionen wie Vernarbungen und Abszessen.

Beim sekundären Endpunkt der erzielten Immunantwort schnitt der neue Kandidat im Vergleich zur BCG-Impfung jedoch etwas schwächer ab: „Neugeborene mit oder ohne HIV-Exposition zeigten bei beiden Impfstoffen eine ähnliche Immunogenität. Ab einem Alter von sechs Wochen fiel die BCG-ausgelöste Immunreaktion jedoch größer aus als bei noch jüngeren Säuglingen“, so Kaufmann [2]. „Wir haben VPM1002 nicht zuletzt entwickelt, um für immungeschwächte Kinder eine höhere Sicherheit mit einer verbesserten Wirksamkeit zu kombinieren“, berichtet der Wissenschaftler [2]. Inwieweit VPM1002 tatsächlich vor einer Tuberkulose-Infektion schützt, wird nunmehr im Rahmen einer größeren klinischen Phase-III-Studie bei Neugeborenen untersucht. Die ersten Ergebnisse dieser Studie sollen in etwa drei Jahren vorliegen. Der Impfstoffkandidat wird außerdem in zwei Phase-III-Studien bei erwachsenen Probanden in Indien geprüft. Diese Studien sollen 2023 respektive 2024 abgeschlossen sein [2]. Neben VPM1002 befinden sich aktuell laut DZK mehrere weitere Kandidaten aus verschiedenen Impfstoffklassen in Entwicklung oder bereits in klinischer Testung [4]. |

 

Literatur

Bannister S et al. Neonatal BCG vaccination is associated with a long-term DNA methylation signature in circulating monocytes, Sci Adv 2022;8:eabn4002

Cotton MF et al. Safety and immunogenicity of VPM1002 versus BCG in South African newborn babies: a randomised, phase 2 non-inferiority double-blind controlled trial, Lancet Infect Dis 2022;22(10):1472-1483

Faustman DL et al. Multiple BCG vaccinations for prevention of COVID-19 and other infectious diseases in Type 1-Diabetes, Cell Rep Med 2022;3(9):100728

Neues aus der Impfstoffentwicklung gegen Tuberkulose. Pressemitteilung des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose (DZK), 22. August 2022, www.dzk-tuberkulose.de/neues-aus-der-impfstoffentwicklung-gegen-tuberkulose/

Tuberkulose Ratgeber. Robert Koch-Institut (RKI), Stand: 3. März 2022, www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Tuberkulose.html

Tuberkulose-Impfstoff besteht Sicherheitstest. Information der Max-Planck-Gesellschaft, 2. August 2022, www.mpg.de/19038856/0801-bich-tuberkulose-impfstoff-kandidat-vpm1002-bei-hiv-und-nicht-hiv-exponierten-neugeborenen-in-studie-sicher-17216463-x

Tuberkulose-Impfstoff stärkt Immunsystem bei Säuglingen. Deutsches Ärzteblatt online 8. August 2022, www.aerzteblatt.de/nachrichten/136426/Tuberkulose-Impfstoff-staerkt-Immunsystem-bei-Saeuglingen?rt=c631a3a05259f71cfe268d1ec45ebf0b

Medizinjournalistin Christine Vetter

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