Arzneimittel und Therapie

Besonderheiten der Psychopharmako­therapie bei Krebspatienten

S3-Leitlinie Psychoonkologie enthält Hinweise zu Neben- und Wechselwirkungen

Seit Kurzem liegt die S3-Leitlinie „Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten“ in ihrer aktualisierten und erweiterten Form vor. Bereits ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt die vielschichtigen Bedürfnisse von Tumorpatienten. Für den beratenden Apotheker sind die Ausführungen zur Psychopharmakotherapie und zu den Besonderheiten einzelner Patientengruppen von besonderem Interesse.

Tumorerkrankungen gehen nicht nur mit körperlichen Beschwerden, sondern auch in hohem Ausmaß mit psychischen Belastungen für Patienten und Angehörige einher. Die Konfrontation mit einer unheilbaren Erkrankung und einem möglicherweise baldigen Lebensende kann akute Krisen sowie Ängste und Hilflosigkeit hervorrufen. Durch psychoonkologische Maßnahmen soll die Lebensqualität der Betroffenen erhalten oder erhöht werden. Ein Hilfsmittel hierfür ist die vorliegende Leitlinie mit evidenzbasierten Empfehlungen für die psychoonkologische Diagnostik, Be­ratung und Behandlung. Im Vergleich zur Vorgängerversion finden sich etliche Neuerungen. So etwa im Bereich psychoonkologischer Interventionen (E-Health, Krisenintervention und Interventionen in der Palliativphase), der Psychopharmakotherapie und der Besonderheiten bestimmter Zielgruppen, z. B. junge Erwachsene mit Krebs, geriatrische Krebspatienten und Menschen, die mit einer Krebsdiagnose leben (Cancer Survivors). Das Kapitel zur patientenzentrierten Kommunikation wurde vollständig überarbeitet. An zahlreichen Stellen finden sich Hinweise zu weiteren Leitlinien.

Foto: Mikel Taboada/AdobeStock

Psychische Komorbiditäten behandeln

Neben bestehenden Komorbiditäten und somatischen, durch die Tumor­erkrankung hervorgerufenen Beschwerden, leiden Krebspatienten häufig unter Ängsten, Anpassungs­störungen und Störungen durch psychotrope Substanzen. Zudem begünstigen Schmerzen, belastende körper­liche Symptome, Fatigue sowie eine psychische Erkrankung in der Vorgeschichte das Auftreten einer psychischen Störung bei dieser Patientengruppe. Die aktualisierte S3-Leitlinie enthält daher auch Ausführungen zur Diagnostik psychischer Störungen sowie zu psychoonkologischen Interventionsmöglichkeiten. Hierunter fallen Entspannungsverfahren, Psycho­- und Kunsttherapie sowie der Einsatz von Psychopharmaka, der in ein psychoonkologisches Gesamtbehandlungskonzept eingebettet sein soll. Explizit gehen die Leitlinien­autoren auf die Therapie von Depressionen, Ängsten und Schlafstörungen ein und weisen auf mögliche Inter­aktionen und Nebenwirkungen hin.

Liegt keine depressive Störung im Sinne einer Major Depression vor, sehen die Leitlinienautoren keinen Nutzen einer antidepressiven Therapie. Dasselbe gilt zur Prophylaxe einer Depression. Liegt jedoch eine Depression (nach Definition der nationalen Versorgungsleitlinie „Unipolare Depression“) vor, wird bei akuten schweren depressiven Episoden eine Kombinationsbehandlung mit einer medikamentösen Therapie und Psychotherapie empfohlen, zur Behandlung von akuten mittelgradigen depressiven Episoden eine psychotherapeutische Behandlung oder eine medikamentöse Therapie. Dabei sollten Neben- und Wechselwirkungen der gesamten medikamentösen Therapie sowie die Präferenz der Patienten berücksichtigt werden. Leidet der Patient unter situativen Ängsten, können bei sorgfältiger Indikationsstellung kurzfristig anxiolytisch wirksame Substanzen eingesetzt werden. In der Leitlinie werden hier Antidepressiva mit anxiolytischer Wirkung (z. B. Paroxetin, Venlafaxin, Mirtazapin) genannt. In Einzelfällen können auch Benzodiazepine mit raschem Wirkungseintritt (z. B. Alprazolam, Lorazepam) gegeben werden. Zur Behandlung eines Delirs, bei ausgeprägter Übelkeit und paradoxer Reaktion auf Benzodiazepine können auch Antipsychotika (Haloperidol, gegebenenfalls Risperidon, Olanzapin oder Quetiapin) eingesetzt werden.

Ausführungen zu Schlafstörungen wurden neu in die Leitlinie aufgenommen, da onkologische Patienten häufig unter Schlafstörungen leiden. Diese treten vornehmlich bei Karzinomen der Atemwege (Kopf, Hals, Lunge) und der Reproduktionsorgane auf. Ferner können sich Schlafstörungen als Folge der psychischen Belastungen (z. B. Krankheits-/Rezidivängste) und als Nebenwirkung der Behandlung (z. B. nach Steroiden oder aufgrund einer Polyneuropathie) manifestieren. Können somatische Symptome wie Schmerz, Übelkeit, Dyspnoe oder Hitzewallungen als (Mit-)Verursacher der Schlafstörung identifiziert werden, so empfiehlt sich zunächst eine sym­ptomlindernde Therapie. Führt diese nicht zum gewünschten Erfolg, können Psychopharmaka eingesetzt werden. Die Leitlinienautoren geben allerdings keine eindeutigen Therapieempfehlungen, sondern verweisen auf weitere Leitlinien (S3-Leitlinien „Schlafbezogene Atmungsstörungen“ und „Insomnie bei Erwachsenen“) sowie auf Ergeb­nisse kleinerer Studien.

Unerwünschte Wirkungen und Interaktionen beachten

In einem weiteren Kapitel werden potenzielle Neben- und Wechsel­wirkungen unter einer Psychopharmakotherapie adressiert. So etwa auf eine Erhöhung der QT-Zeit unter einigen Antidepressiva (z. B. Escitalopram) oder auf anticholinerge Nebenwirkungen klassischer trizyklischer Antidepressiva, die die Verträglichkeit von Opioiden beeinträchtigen. Auch das Blutungsrisiko unter Antidepressiva wird thematisiert. So sollen zur Pharmakotherapie von Depressionen bei Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko bevorzugt Antidepressiva eingesetzt werden, die eine geringe Affinität zum Serotonin-Transporter haben (z. B. Bupropion, Mirtazapin, Trazodon, Trimipramin). Des Weiteren gehen die Leitlinienautoren auf Interaktionen zwischen Tamoxifen und selektiven Sero­tonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI) ein. Potente CYP2D6-Inhibitoren verhindern die Umwandlung von Tamoxifen in das biologisch wirksame Endoxifen und reduzieren damit die antitumorale Wirksamkeit. Psychopharmaka mit mittlerer bis starker CYP2D6-inhibitorischer Aktivität wie Paroxetin, Flu­oxetin, Bupropion und Duloxetin sollten daher nicht in Kombination mit Tamoxifen eingesetzt werden. Bei Bedarf können Citalopram, Sertralin, Fluvox­amin und Venlafaxin zur Anwendung kommen.

Patienten mit malignen Tumoren des Zentralnervensystems (ZNS) oder zerebralen Metastasen haben ein deutlich erhöhtes Risiko für epileptische Anfälle, was bei der Verordnung von Psychopharmaka zu beachten ist. Das Krampfrisiko wird insbesondere durch trizyklische Antidepressiva und Maprotilin erhöht. Bupropion ist bei Patienten mit ZNS-Tumoren kontraindiziert. SSRI und andere neuere Antidepressiva besitzen in therapeutischen Dosierungen möglicherweise einen antikonvulsiven Effekt.

Spezielle Patientengruppen im Fokus

Die mit einer Krebserkrankung einhergehenden psychischen Belastungen werden auch von der Tumorentität und speziellen Lebensabschnitten geprägt. So berücksichtigen die Leit­linienautoren die besonderen Bedürfnisse spezieller Patientengruppen und gehen auf Besonderheiten einzelner Tumorerkrankungen ein. Hier zwei Beispiele: Patienten, die an einem Hirntumor (z. B. Glioblastom) erkrankt sind, leiden nicht nur unter der belastenden Therapie (Operation, Strahlentherapie, Chemotherapie) und der in der Regel schlechten Prognose, sondern auch unter Veränderungen der eigenen Identität. Neurologische und neuropsychologische Einschränkungen wirken sich auf Motorik, Sensorik, Sprache, Gedächtnis und Aufmerksamkeit aus. Daraus resultieren Fatigue, Antriebslosigkeit, Erinnerungsschwierigkeiten, Schlafstörungen und Stress. Hinzu kommen die Belastung nach der Diagnose und die Progre­dienzangst. Die Wirksamkeit allgemeiner psychoonkologischer Interventionen ist gut belegt, für Patienten mit Hirntumoren gibt es jedoch kaum spezifische Angebote. Zwei randomisierte klinische Studien zeigen eine Ver­besserung der Lebensqualität durch häusliche psychosoziale Interventionen oder nach einer individualisierten Akupunktur.

Mehr als die Hälfte aller Krebs­erkrankten ist älter als 65 Jahre. Da diese Patientengruppe aber in Studien unterrepräsentiert ist, gibt es wenig konkrete Daten über deren Bedürfnisse während einer Krebsbehandlung. Neben der Tumorerkrankung liegen häufig altersbedingte Komorbiditäten vor, die zu erhöhtem Distress, Depression und Ängsten führen. Auch ist bei älteren Krebspatienten eine er­höhte Suizidalität zu beachten. Zur Erfassung dieser spezifischen Besonder­heiten empfiehlt die Leitlinie ein geriatrisches Assessment und eine sich daran orientierende psycho­onkologische Betreuung. |

Literatur

Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatientinnen und -patienten. S3-Leitlinie unter Federführung der Deutschen Krebsgesellschaft e.V., unter Beteiligung weiterer Fachgesellschaften, AWMF-Registernummer: 032-051OL, Stand: Mai 2023

Apothekerin Dr. Petra Jungmayr

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