Arzneimittel und Therapie

Was steckt hinter einer multiplen Chemikalien-Sensitivität?

Unspezifische Symptome erkennen und ernst nehmen

Chemikalien unterschiedlichen Ursprungs befinden sich ubiquitär in unserer Umgebung. Sie dünsten aus Lacken, Klebstoffen und Reini­gungsmitteln aus, gelangen durch Kosmetika auf die Haut und in die Nase, aber haben für die meisten Menschen keinen spürbaren Effekt. Manche Individuen jedoch reagieren überempfindlich auf solche unterschwelligen Reize und werden in ihrem Alltag beeinträchtigt. Was steckt hinter diesem schwer fass­baren Syndrom?

Personen mit multipler Chemikalien-Sensitivität (MCS) entwickeln unspezifische Symptome, wenn sie mit Chemikalien in Kontakt kommen, bereits bei niedrigen Dosisbereichen, bei denen allgemein keine Beschwerden zu erwarten wären. Vor allem kleine, flüchtige Moleküle lösen Beschwerden aus. Die Palette der auslösenden Chemikalien ist ebenso breit wie die beschriebenen Symptome: Kopfschmerzen, Kurzatmigkeit, Bauchschmerzen, Herzrasen, tränende Augen, Muskel- und Gelenkschmerzen sowie Halsschmerzen. Dazu kommen neurologische Symptome wie Benommenheit, Verwirrung, Müdigkeit, Reizbarkeit, Depressionen und Konzentrationsschwierigkeiten. Hier eine klare Diagnose zu stellen, ist für jeden Arzt eine Herausforderung. Dementsprechend wurde die Existenz der multiplen Chemikalien-Sensitivität lange geleugnet, heute ist sie als erworbene Erkrankung anerkannt. Hauptkriterien bei der Diagnose der chronischen Erkrankung sind deren Symptome, die durch Exposition gegenüber niedrig konzen­trierten Chemikalien reproduziert werden können. Die Chemikalien müssen nicht miteinander verwandt sein, und die Symptome verbessern sich, wenn die auslösende Substanz entfernt wird. Zudem sind meist mehrere Organsysteme involviert. Umfrageergebnisse legen nahe, dass in der westlichen Welt 9 bis 16% der Bevölkerung unter einer Form von chemischer Unverträglichkeit leiden. Diese Zahl überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass viele Menschen rund 90% ihrer Zeit in Innenräumen verbringen, in denen Chemikalien aus Möbeln, Kunststoffen, Teppichböden, Farben, elektronischen Geräten und Reinigungsmitteln ausdünsten.

Foto: alexkich/AdobeStock

Die Palette der Chemikalien, die eine multiple Chemikalien-Sensitivität auslösen können, ist breit. Vor allem kleine, flüchtige Moleküle verursachen Beschwerden.

TRP-Rezeptoren

Eine multiple Chemikalien-Sensitivität als Krankheit anzuerkennen, fällt heute leichter als vor 30 Jahren, weil die bei der Entstehung wirkenden biochemischen Mechanismen besser verstanden sind. Grundsätzlich verfügt der menschliche Organismus über effektive Mechanismen, um Fremdstoffe zu eliminieren. Wenn bestimmte Rezeptoren stimuliert werden (z. B. der Aryl-Hydrocarbon-Rezeptor, AhR, der durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe aktiviert wird), steigert sich die Expression von Enzymen, die Fremdstoffe metabolisieren. Auch Abwehrmechanismen gegen erhöhten oxidativen Stress können hochreguliert werden. Interindividuelle genetische Variabilität führt dazu, dass Menschen unterschiedlich auf denselben chemischen Reiz reagieren. Eine Gruppe von chemosensorischen Rezeptoren, die im Zusammenhang mit dem Auftreten der multiplen Chemikalien-Sensitivität stehen, sind die TRP-Kanäle (transient receptor potential). Gut untersucht sind die Unterfamilien TRPV (V für Vanilloid) und TRPA (A für Anakyrin), die nicht nur auf chemische Noxen, sondern auch auf mechanische Belastung, Strahlung, Entzündungsmarker und oxidativen Stress reagieren. Zu finden sind diese Ionenkanäle in weiten Teilen des Nervensystems und besonders auf olfaktorischen und trigeminalen Nerven­enden. TRPV1 und TRPA1 sind oft ko-lokalisiert, wirken zusammen und können sich gegenseitig sensibilisieren.

Bildgebende Verfahren machen Chemikalien-Sensitivität sichtbar

Mittels bildgebender Verfahren wie Magnetresonanztomografie oder Posi­tronenemissionstomografie können Forscher Einblick in die Gehirne von MCS-Patienten gewinnen. So können sie Unterschiede in der Aktivität bestimmter Hirnbereiche zwischen Patienten und gesunden Kontrollpersonen sichtbar machen. Veränderungen sind vor allem in Regionen mit hoher TRPV1- und TRPA1-Rezeptordichte auffällig. Bisher sind über 100 Chemikalien bekannt, die TRPV1- und TRPA1-Kanäle aktivieren. Um Symptome in den Probanden zu provozieren, verwenden Wissenschaftler TRPV1- und/oder TRPA1-Rezeptoragonisten. Schwedische Forscher untersuchten die Reaktion von 58 Probandinnen auf den TRPA1-Rezeptoragonist Amyl­acetat. Manche der Frauen litten nach eigenen Angaben unter Chemikalienintoleranz, andere nicht. Nach wiederholter Exposition gegenüber der sehr niedrig dosierten Testsubstanz weit unterhalb der Irritationsschwelle gewöhnten sich manche Frauen an den Geruch der Chemikalie, während andere zunehmend sensibel auf die immer gleiche Konzentration reagierten [1]. Werden TRP-Kanäle regelmäßig oder gar chronisch aktiviert, können Zellen die Zahl und Dichte der Rezeptoren auf der Zelloberfläche hochregulieren. Manche Menschen reagieren also zunehmend empfindlicher auf einen chemischen Reiz, der unter normalen Bedingungen nicht als problematisch wahrgenommen würde. Zu den TRPV- und TRPA-Rezeptoragonisten zählen Naturstoffe wie Vanillin, Eugenol, Menthol, Limonen und Capsaicin. Aber auch Lösungsmittel wie Toluol, Xylol, Benzol, Aceton, Diethyl­ether, Hexan und Formaldehyd können die Ionenkanäle aktivieren. Be­finden sich solche kleinen, lipophilen und flüchtigen Moleküle in der Luft, werden sie eingeatmet und rasch von der Lunge absorbiert. Durch passive Diffusion überwinden sie die Blut-Hirn-Schranke. Bei der Analyse von Innenraumluft lassen sich viele dieser Chemikalien nachweisen. Bei einer Untersuchung der kanadischen Gesundheitsbehörde Health Canada wurden Luftproben von über 3.700 Wohnungen und Häusern untersucht. Dabei fanden die Forscher insgesamt 84 volatile organische Chemikalien (VOC) in der Innenraumluft. Gut die Hälfte davon, darunter toxische Stoffe und TRP-Agonisten wie Benzol, Styrol, Chloroform und Hexan, waren in über 50% der Räume vorhanden. Einige Substanzen waren in Raucherhaus­halten höher konzentriert [2].

Ein Übel kommt selten allein

MCS-Patienten sind häufig mehrfach geplagt. Die Erkrankung wird begleitet von chronischen Komorbiditäten. TRPV1- und TRPA1-Kanäle sind in weiten Teilen des zentralen Nervensystems vorhanden und scheinen eine Rolle für synaptische Plastizität zu spielen. Tatsächlich sind viele der Komorbiditäten nervlichen oder psychiatrischen Ursprungs. Viele Betroffene berichten von Hypersensitivität gegenüber anderen Reizen wie Geräuschen, chronischen Schmerzen und Fibromyalgie. Neurodegenerative Erkrankungen sind oft komorbide mit Migräne und multipler Chemikalien-Sensitivität. Depressionen und Angststörungen treten unter MCS-Patienten häufiger auf als unter gesunden Kontrollen. Dabei ist zu bedenken, dass Individuen, deren Lebensqualität durch eine chronische Erkrankung eingeschränkt ist, eher zu Depressionen neigen könnten als gesunde Vergleichspersonen. Komorbiditäten können weiterhin das respiratorische System (z. B. Asthma, Hustenhypersensitivität), den Darm (z. B. Reizdarmsyndrom) und das Immunsystem (z. B. Allergien) betreffen. Viele der genannten Erkrankungen haben die gleichen Risikofaktoren und Entstehungsmechanismen. Eine Hochregulation von TRPV1 und TRPA1 ist bei multipler Chemikalien-Sensitivität, Migräne, Neurodegeneration, Asthma und Angsterkrankungen beschrieben. Patienten weisen meist erhöhte Werte für Entzündungsbiomarker und oxidativen Stress auf. Nicht nur die multiple Chemikalien-Sensitivität wird durch bestimmte chemische Reize ausgelöst. Auch in gut 40% der chronischen Migränepatienten und 70% der Asthmapatienten können Anfälle durch chemische Reize getriggert werden. Assoziationen zwischen den Komorbiditäten scheinen ein niedriger Vitamin-D-Spiegel und erhöhte Protein-Kinase-Aktivität zu sein. Vitamin D wirkt als Antagonist an TRPV1 und dämpft die aktivierende Wirkung von Agonisten wie Capsaicin. Die Protein-­Kinase-Aktivität erhöht sich unter oxidativem Stress und systemischer Entzündung und sensibilisiert TRPV1 [3]. Ob eine erhöhte Protein-Kinase-Aktivität und Vitamin-D-Defizienz auch ein Merkmal von multipler Chemikalien-Sensitivität sind, ist bisher nicht erforscht.

Behandlung und Fazit

Eine evidenzbasierte Behandlungsrichtlinie für eine multiple Chemikalien-Sensitivität gibt es nicht. Patienten sollten mögliche Auslöser für MCS-Symptome aus ihrem Alltag eliminieren, etwa indem sie Produkte mit Duftstoffen gegen Alternativen austauschen. Regelmäßiges, gründ­liches Lüften und Aufenthalte an der frischen Luft helfen, die üblen Gerüche zu vertreiben. Gleichzeitig sollten Komorbiditäten unter Kontrolle gebracht werden. Nur über eine Chemikalien-Sensitivität aufgeklärtes medizinisches Personal kann die eher unspezifischen Symptome in den richtigen Kontext einordnen und dem Patienten beim Management seiner Symptome beistehen. |

Literatur

[1] Andersson L, Claeson A-S, Nyberg L, Nordin S. Short-term olfactory sensitization involves brain networks relevant for pain, and indicates chemical intolerance. Int J Hyg Environ Health 2017;2020:503-509

[2] Zhu J, Wong SL, Cakmak S. Nationally representative levels of selected volatile organic compounds in Canadian residential indoor air: population-based survey. Environ Sci Technol 2013;47(23):13276-83

[3] Molot J, Sears M, Anisman H. Multiple chemical sensitivity: It‘s time to catch up to the science. Neurosci Biobehav Rev 2023;151:105227

Ulrich Schreiber, MSc Toxikologie

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