Arzneimittel und Therapie

Telemedizin führt zu mehr Antibiotikarezepten

Während der COVID-19-Pandemie stieg in England die Zahl telemedizinischer Konsultationen bei Allgemeinmedizinern. Änderte sich damit auch die Zahl der Antibiotikaverordnungen bei akuten Atemwegsinfekten? Dieser Frage gingen Wissenschaftler im Rahmen einer Kohortenstudie nach. Sie fanden dabei mehr Verordnungen, wenn sich Erwachsene telemedizinisch behandeln ließen als beim Arzt, was sie als Grund zur Besorgnis sehen.

Ein hoher und teils unnötiger Einsatz von Antibiotika trägt zu den weltweit zunehmenden Resistenzen bei. In England wurden im Jahr 2021 72,1% der Antibiotikaverordnungen in allgemeinärztlichen Praxen ausgestellt, wovon etwa 20% unangemessen waren. Zudem entfällt der größte Teil der Antibiotikaverschreibungen von Allgemeinmedizinern auf akute Atemwegsinfekte. Einer Umfrage in Großbritannien zufolge glauben 67% der befragten Allgemeinmediziner, dass sie aufgrund der Telemedizin häufiger Antibiotika verordnen. Um zu überprüfen, ob diese Annahme zutrifft, wertete ein Forscherteam im Rahmen einer Beobachtungsstudie Daten des Clinical Practice Research Datalink aus dem Zeitraum April 2021 bis März 2022 aus. Konkret untersuchten sie ärztliche Konsultationen aufgrund von akuten Atemwegsinfekten bei Kindern und Erwachsenen, und ob diese zu Antibiotikaverordnungen führten. Dabei wurde eine Konsultation als Fern­beratung klassifiziert, wenn diese per Telefon, Video, SMS oder über das Internet erfolgte. Haus- oder Praxis­besuche, unbekannte und wechselnde Konsultationsarten wurden den Präsenzkonsultationen zugeordnet. Mehrere ärztliche Kontakte binnen sieben Tagen wurden als ein Termin gewertet. Alle Antibiotikaverordnungen im Zusammenhang mit einem akuten Atemwegsinfekt wurden berücksichtigt, Verschreibungen über Tuberkulostatika jedoch ausgeschlossen.

Um Verzerrungen entgegenzuwirken, wurde eine statistische Methode eingesetzt, mit deren Hilfe sich kausale Effekte aus Beobachtungsdaten abschätzen lassen. Bereinigt wurden die Ergebnisse auf die Art der Infektion sowie auf Störvariablen auf Ebene der Patienten (z. B. Komorbiditäten wie Asthma), des Arztes (z. B. Position in der Praxis) und der Praxis (z. B. Gesamtkonsultationsrate).

Foto: Studio Romantic/AdobeStock

In der telemedizinischen Beratung bei Kindern wurde der Trend hin zu mehr Antibiotikaverordnungen nicht beobachtet, anders als bei Erwachsenen.

Assoziation nur bei erwachsenen Patienten

Während des Beobachtungszeitraums konsultierten 34.555 Patienten in 45.997 Terminen einen Allgemein­mediziner aufgrund einer akuten Atemwegsinfektion. Davon fanden 17.870 Termine (39%) persönlich statt, während die Mehrheit, 28.127 Termine (61%), Fernberatungen waren. Arztkonsultationen von Erwachsenen fanden zu 66% telemedizinisch statt, bei Kindern waren es 48%. Vor allem bei einer Sinusitis bevorzugten die Patienten eine Fernberatung. Die Mittelohrentzündung wiederum wurde meist vor Ort diagnostiziert und zählte, neben Infektionen der unteren Atemwege, zu den Atemwegserkrankungen mit den höchsten Antibiotikaverordnungszahlen. Während Antibiotika zur Therapie von Kindern ähnlich häufig bei Fern- und Präsenzkonsul­tationen eingesetzt wurden (42% vs. 43%), war die Diskrepanz bei den Verschreibungen für Erwachsene deutlich größer, mit 52% bei telemedizinischen Konsultationen im Vergleich zu 42% in Präsenz. Nach Bereinigung auf mög­liche Störfaktoren konnte gezeigt werden, dass bei Erwachsenen eine Fernkonsultation mit einer 23% höheren Wahrscheinlichkeit einer Antibiotikaverordnung einherging [Odds Ratio = 1,23; 95%-Konfidenzintervall = 1,18 bis 1,29]. Eine derartige Assoziation konnte bei Kindern nicht beobachtet werden. Allerdings wurden bei ihnen auch seltener Störvariablen berücksichtigt, da Kinder vergleichsweise wenig Komorbiditäten aufweisen. Möglicherweise blieben dafür andere Faktoren, die zu einer Verzerrung geführt haben könnten, unbeobachtet.

Konsequenzen für die Praxis

Die höhere Verschreibungsfrequenz von Antibiotika bei Fernkonsultationen von erwachsenen Patienten mit akuten Atemwegsinfekten stellt aufgrund der progressiven Resistenz­zunahme einen Grund zur Besorgnis dar. Den Autoren zufolge sollten ihre Ergebnisse in der Entwicklung von Leitlinien für Antibiotikaverordnungen bei Fernkonsultationen berücksichtigt werden. Zudem sollte in künftigen Studien untersucht werden, wie Leitlinien bei Fern- und persönlichen Konsultationen eingehalten werden, da im Zuge dieser Studie zwar die Verschreibungsrate überprüft wurde, jedoch nicht, ob eine Antibiotika­verordnung notwendig war. |

Literatur

Vestesson Eet al. Antibiotic prescribing in remote versus face-to-face consultations for acute respiratory infections in primary care in England: an observational study using target maximum likelihood estimation. EClinicalMedicine 2023, doi: 10.1016/j.eclinm.2023.102245

Apothekerin Anna-Lena Gehl

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