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BfArM-Präsident Schwerdtfeger
Philippika gegen "Pillenwahn"
In einem Interview des Bonner „General-Anzeiger“ holt der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Walter Schwerdtfeger, zu einem Rundschlag gegen die Pharma-Industrie aus. Unter dem Aufmacher-Titel „Behörde kritisiert Pillenwahn“ kritisiert Schwerdtfeger in einem Interview mit der Zeitung, dass die Pharma-Industrie noch kein Medikament gegen Schnupfen entwickelt habe.
Er fordert, rezeptfreie Großpackungen von Schmerzmitteln zu verbieten und vor allem bei älteren Menschen den Einsatz von Medikamenten zu reduzieren, da die Gefahr bestehe, "dass bestimmte Arzneimittel oder Kombinationen daraus Demenzen verstärken können".
Gerade in Heimen und Krankenhäusern werde oft jede einzelne Erkrankung für sich betrachtet und therapiert. Dabei bestehe die Gefahr, dass es zu schädlichen Wechselwirkungen komme. „Es kann besser sein, einige der Arzneimittel wegzulassen und sich auf die elementaren Behandlungen zu konzentrieren“, rät Schwerdtfeger.
Kritisch setzt er sich auch mit rezeptfreien Medikamenten auseinander: „Selbst naturheilkundliche Mittel können ernsthafte Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten hervorrufen.“ Daher solle zum Beispiel die Einnahme von Johanniskraut, das frei verkäuflich sei, gut mit dem Arzt abgesprochen werden. Es gebe viele Mittel, die keinen nachweisbaren gesundheitlichen Nutzen hätten, zum Beispiel Nahrungsergänzungsmittel, kritisiert Schwerdtfeger.
Verbot von rezeptfreien Großpackungen
Schmerzmittel sollten nur noch in kleinen Packungsgrößen ohne Rezept verkauft werden dürfen, fordert der BfArM-Präsident. Es sei nämlich ein Irrtum, dass frei verkäufliche Arzneimittel harmlos seien. Die Einnahme von Schmerzmitteln wie Aspirin über mehr als drei bis vier Tage erhöhe das Risiko für Komplikationen wie Magen- und Darmblutungen. „Diese können sogar lebensbedrohlich sein“, warnt Schwerdtfeger. Ein Verbot von rezeptfreien Großpackungen sei auch nötig, um Suizidversuche mit Schmerzmitteln einzudämmen: „Jedes Jahr werden in Deutschland rund 6000 Suizidversuche mit Schmerzmitteln gemeldet. Wir müssen hier von einer Dunkelziffer ausgehen, die tatsächliche Fallzahl dürfte mindestens zehnmal höher liegen. Es handelt sich hier um häufigen und schwerwiegenden Arzneimittelmissbrauch, der einen solchen Schritt (das Verbot von Großpackungen) rechtfertigen würde“, so Schwerdtfeger. Da es bei kurzfristigen Infekten oder Schmerzzuständen sinnvoll sein könne, sich über wenige Tage mit Schmerzmitteln selbst zu behandeln, solle die rezeptfreie Abgabe von Kleinpackungen erlaubt bleiben. Die Abwägung der finanziellen Auswirkungen seines Vorschlags sei Sache der Politik. Dem BfArM gehe es allein um gesundheitliche Aspekte, so der Präsident.
Impfstoff gegen Schnupfen
Der Pharma-Industrie wirft er vor, dass es „noch kein Medikament oder keinen Impfstoff gegen ein vergleichbar einfaches Virus wie das Schnupfenvirus gibt.“ Dabei unterstellt er der Industrie wirtschaftliche Interessen: „Heute verdient die Pharmaindustrie weltweit Milliarden mit mehr oder weniger wirksamen Erkältungsmitteln. Diese Produktpalette könnte sehr weitgehend wegbrechen.“ Die Zeitung lässt zu diesem Vorwurf den Verband Forschender Arzneimittel-Hersteller (VFA) zu Wort kommen: Es gebe zahlreiche verschiedene Schnupfenviren, die sich zudem schnell umwandelten. Das erschwere die Entwicklung eines Impfstoffes. Außerdem übe der Schnupfen eine Schutzfunktion für den Körper aus und müsse nicht unbedingt bekämpft werden, kontert ein VFA-Sprecher.
Schwerdtfeger dagegen schlägt vor, das Problem auf andere Weise zu lösen: Dazu könnten sich bei der Arzneimittelforschung große unabhängige Sponsoren oder Regierungen zusammentun, etwa unter der Schirmherrschaft der Weltgesundheitsorganisation. Die westlichen Regierungen könnten in Zukunft auch deshalb gezwungen sein, gemeinsam Medikamente zu entwickeln, da aufgrund der Klimaveränderungen neue Viren und Bakterien in Mitteleuropa Probleme machten. Darunter seien auch lebensbedrohliche Arten, gegen die es bisher keine Mittel gebe.
Das BfArM
Das in Bonn ansässige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)ist für die Zulassung von Medikamenten zuständig. Rund 1000 Mitarbeiter sorgen kontinuierlich für die Verbesserung der Sicherheit von Arzneimitteln und die Risikoüberwachung von Medizinprodukten sowie die Überwachung des Betäubungsmittel- und Grundstoffverkehrs.
Präsident Schwerdtfeger
Professor Dr. Walter Schwerdtfeger (1949) leitet das BfArM seit 2010 als Präsident. Er war zuvor als Referatsleiter im Bundesgesundheitsministerium für die Arzneimittelqualität zuständig. Er lehrt als Honorarprofessor an der Universität Bonn.
03.08.2012, 12:48 Uhr