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DAZ.Spezial - Eine kurze Karriere
Über Coca in der westlichen Medizin
„Eine eigenthümliche Betäubung“
Die verzögerte Rezeption der Coca hatte zur Folge, dass sie gewissermaßen von ihrem Hauptalkaloid eingeholt wurde. Denn während andere Pflanzen wie Kakao und Tabak bereits jahrhundertelang in der westlichen Medizin etabliert waren, bevor ihre Alkaloide entdeckt wurden, betraten Coca und Cocain nahezu gleichzeitig die Bühne. Die Suche nach den Inhaltsstoffen der Coca beschäftigte Chemiker in mehreren Ländern. Zunächst isolierte der Apotheker Enrique Pizzi in La Paz ein vermeintliches Alkaloid, das sich allerdings nur als anorganische Ausfällung erwies.14 Wilhelm Ferdinand Wackenroders (1798–1854) Untersuchungen scheiterten in Ermangelung einer ausreichenden Menge an Probenmaterial.15 Friedrich Gaedcke (1828–1890) isolierte 1855 ein „Erythroxiline“, das er für identisch mit dem Teein hielt.16 Vermutlich unabhängig davon beschrieb Samuel Percy 1857 gleichfalls ein „Erythroxylin“ und schlug vor, dessen Kristalle als Anästhetikum einzusetzen.17 Schließlich war es Friedrich Albert Emil Niemann (1834–1861),18 dem es 1860 gelang, das Cocain zu isolieren und eine erste Charakterisierung vorzunehmen.19 Voraussetzung für diesen Erfolg war „eine reichliche Menge echter, unverdorbener Cocablätter“, die Niemanns Doktorvater Friedrich Wöhler (1800–1882) von einem Teilnehmer der österreichischen Novara-Expedition20 zur Verfügung gestellt worden war.21
Niemann starb früh, vermutlich aufgrund eines Lungenödems, das er sich im Rahmen seiner Arbeiten mit Dichlordiethylsulfid zugezogen hatte, jener Substanz, die später als Senfgas oder Schwefellost traurige Berühmtheit erlangen sollte. Ein weiterer Schüler Wöhlers, Wilhelm Lossen (1838–1906), setzte die Arbeiten fort,22 und bereits ab 1862 brachte E. Merck das Alkaloid in geringen Mengen in den Handel.23 Sowohl Niemann als auch Lossen beschrieben nach gustatorischer Prüfung von Cocain „eine eigenthümliche Betäubung, die allmählich wieder weicht und einem Gefühle von Kälte im Munde Platz macht.“24 Auch Wöhler nimmt darauf in seiner Mitteilung Bezug.25 Eine aufgrund der Berichte von Tschudis vermutete pupillenerweiternde Wirkung ließ sich aber nicht bestätigen26 und auf spektakuläre Effekte nach dem Genuss von Coca-Tee wartete man vergeblich.27
Der Wiener Pharmakologe Carl Damian von Schroff (1802–1887), dem die Firma Merck, Darmstadt, unaufgefordert eine Gratisprobe ihres Cocains übermittelt hatte,28 beschrieb 1862 nach Versuchen an Tieren und an sich selbst dessen Wirkungen auf das sensorische und motorische Nervensystem29 sowie auf die Psyche.30 Der peruanische Arzt Thomas Moreno y Maíz31 veröffentlichte 1868 in Paris die Ergebnisse seiner pharmakologischen Untersuchungen.32 Auch ihm gelang es, nach Injektion einer Cocainlösung an einem Frosch eine temporäre Hemiparese der unteren Extremität zu erzielen, woraus er – vorbehaltlich weiterer Untersuchungen – die Möglichkeit einer Anwendung als Lokalanästhetikum ableitete. Der in Würzburg tätige Mediziner Vassili Konstantinovich von Anrep (1852–1927)33 stellte 1880 fest, dass weitere Nadelstiche nach subkutaner Gabe von Cocain weniger schmerzhaft waren und schlug dessen Verwendung zur Schmerzbehandlung und im Rahmen von chirurgischen Operationen vor.34
Die antiasthmatische Wirkung von Coca-Zigarren wurde auf „an anaesthetic action of the smoke upon the mucous membrane“ zurückgeführt.35 In Frankreich hatte Charles Fauvel 1869 bereits Cocain in der Laryngologie angewendet und Coupard und Borderau hatten 1880 im Tierexperiment die Ausschaltung der Augenreflexe beobachtet.36 All diese Befunde fanden offenbar keine größere Beachtung und so blieb es dem jungen Wiener Augenarzt Carl Koller (1857–1944) vorbehalten,37 mit seinem am 15. September 1884 auf der Versammlung Deutscher Augenärzte in Heidelberg verlesenen Beitrag Ueber die Verwendung des Cocain zur Anästhesierung am Auge die Sensation auszulösen.38 Binnen Kurzem wurde seine Entdeckung weltweit rezipiert. Sie eröffnete neue Möglichkeiten in mehreren chirurgischen Disziplinen und stellte einen Meilenstein in der Geschichte der Pharmakotherapie dar.39
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