DAZ.Spezial - Eine kurze Karriere

Über Coca in der westlichen Medizin

Linz - 04.06.2016, 06:00 Uhr

Cocablätter (Foto: RioPatuca Images / Fotolia) Fotostrecke

Cocablätter (Foto: RioPatuca Images / Fotolia)


Der treueste Begleiter der ­„Soldaten und Mariniere“

Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte der ehemalige Jesuit Antonio Julian51 ohne besonderes Echo die Bekämpfung des Hungers der armen Bevölkerungsschichten und die Stärkung der entkräfteten Arbeiter und Handwerker als bedeutsame Argumente für die Einführung der Coca in Europa bemüht.52 Erst im Zeitalter des rasanten Fortschritts, in dem selbst die Chocolade vom Kindernährmittel zur Kraftnahrung für Polarforscher und Militärs53 umgedeutet wurde, fand das Universaltonikum Coca54 sein Publikum. Wie sehr es vor allem aber anekdotische Berichte und Meinungen waren, welche die Popularisierung der Coca förderten,55 lässt sich anhand ihrer „militärischen Karriere“ zeigen. In seinen Reiseskizzen hatte der Schweizer Naturforscher Johann Jakob von Tschudi (1818–1889)56 1846 eine bereits Jahrzehnte zuvor von Pedro Nolasco Crespo (1754–1807)57 formulierte Idee aufgegriffen und machte sie weithin bekannt. Würde man die Coca an Bord von Schiffen mitführen, könnte sich im Notfall „die Mannschaft mit sehr kleinen Rationen von Speisen, bei verdoppelten Gaben von Coca, behelfen, ohne die furchtbare Qual einer Hungersnot zu leiden.“ Deshalb solle man ihre Einführung in der europäischen Marine nicht von vornherein verwerfen.58 Zwanzig Jahre später propagierte der amerikanische Arzt William S. Searle (geb. 1833) erneut die Coca als das ideale Rettungsmittel für Schiffbrüchige.59 Die hungerstillende und kraftsteigernde Wirkung argumentativ zu untermauern, hatte auch der deutschstämmige Botaniker und Apotheker Theodor Peckolt (1822–1912) im Sinn.60 Dabei rückte er die Coca 1860 in die Nähe eines Zaubertrankes und gab zu bedenken, „dass die Indianer von Natur sehr gefrässig sind und, dass sie ihre Stärke und Kraft verlieren, wenn sie das Kauen dieses Blattes unterlassen.“ Im südamerikanischen Unabhängigkeitskrieg hätten sich im Jahr 1817 die eingeschlossenen Spanier, nachdem die Vorräte aufgebraucht waren, „nur durch die Kraft dieses Blattes von Krankheiten und Tod“ erretten können.61

Der österreichische Militärapotheker Friedrich Abl, der die Coca nur in Form eines Naturselbstdruckes und aus der Lektüre kannte,62 freute sich 1861, „der Truppe eines der bewährtesten narkotischen Genußmittel vorführen zu können, welches das Verlangen nährt, bald der treueste Begleiter […] der Soldaten und Mariniere zu werden.“ Die Coca könne „in Kriegsfällen von Nutzen sein […], da sicherlich recht oft der unglückliche Ausgang einer Schlacht nur der Erschöpfung der Soldaten durch Strapazen ­zuzuschreiben ist“.63 Diese „Trockenübung“ erregte immerhin soviel Aufsehen, dass Abls Aufsatz 1866 in einem englischen Journal in Übersetzung wiedergegeben wurde.64 Ein Anonymus schrieb im selben Jahr, der Gebrauch der Coca könnte „mit Vortheil in den Armeen ­eingeführt werden, besonders wenn Eilmärsche, an die sich unmittelbar ein Handgemenge anschließen kann, vorzunehmen sind.“ Deshalb werde in Frankreich „die Sache mit großem Ernste von militärisch-administrativer Seite“ behandelt.65

1883 wurde schließlich die Probe aufs Exempel unternommen.66 Der an der Universität Würzburg tätige Mediziner Theodor Aschenbrandt67 ging daran, „den Beweis zu führen, dass das Alkaloid der Cocablätter, das Cocain, das Mittel ist, welches die ,wunderbare‘ Eigenschaft besitzt, von denen Mantegazza, Moreno und Mais [sic], Dr. Unanne [sic], v. Tschudi u. A. erzählen.“ Eine Waffenübung im Herbst, bei der „eine Menge von gesunden Leuten, Strapazen aller Art“ ausgesetzt waren, schien dafür das geeignete Umfeld zu sein. Dabei hatte er als Regimentsarzt die Möglichkeit, „Cocain anzuwenden, ohne dass sich die Leute beobachtet wussten.“ So könne man objective Wahrnehmungen erzielen, objective Schilderung und ein objectives Gebahren und Benehmen der Leute erlangen.“

Aschenbrandt verabreichte wässrige Cocainlösungen unterschiedlicher Konzentrationen an eine größere Zahl von Patienten, berichtet aber lediglich über fünf Fälle sowie über einen Selbstversuch. Dabei glaube er, „die Wahrnehmung gemacht zu haben, dass der Einfluss des Cocains auf den Körper ein wohlthätigerer ist, als der der Alkoholica und des kalten Kaffees.“ Zudem habe er den „günstigsten Krankenbestand in der ganzen Division“ gehabt. Selbstkritisch merkt er an, dass es ihm in etlichen Fällen nicht möglich gewesen sei, die genaue Dosis (Tropfenzahl) zu dokumentieren und dass auch der moralische Druck durch Vorgesetzte und insbesondere durch den Arzt einen allerdings begrenzten positiven Bias ausgeübt haben könnte.68 Aschenbrandts Resümee ist bemerkenswert zurückhaltend: Seine Arbeit könne nicht den Anspruch auf Vollständigkeit machen und es ihm liege fern, „diese belebende[n] Eigenschaften des Cocain[s] als durchaus erwiesen hinzustellen“.69 Er hoffe aber, „die Aufmerksamkeit der Militairverwaltung erregt und dieselbe zu weiteren Versuchen veranlasst“ zu haben.

Zeitgenossen mit mutmaßlich kommerziellen Interessen konnten solche Zweifel aber nichts anhaben. Ein Anonymus verkündete 1886, „daß man das Versuchs-Stadium der Anwendung als vollkommen abgeschlossen betrachten und für den Erfolg mit Sicherheit garantieren kann.“70 Die „Kameradschaftspflicht“ dränge ihn deshalb, den „Coca-Wein, ein neues Verpflegungs-Mittel“ in Militärkreisen bekanntzumachen. Denn: „Als Coca-Wein (bereitet von C. Stephan in Treuen, Sachsen) ist nun die belebende Wirkung der Coca eine erhöhte, und einige Züge von diesem Präparat aus der Feldflasche nach Bedürfnis genommen beseitigen sofort jedes Hungergefühl“.71 Die anschließende Behauptung – ein Bayerischer Militärarzt habe während eines Manövers gezeigt, „daß er 8 Tage sich jeder Nahrung habe enthalten können, ohne Hunger und Durst zu empfinden oder eine Kräfte-Abnahme zu spüren, bei alleinigem Genuß von Coca‑Wein“ – ist vermutlich nur eine werbewirksame Paraphrase auf die in mehreren Reiseberichten überlieferte Geschichte vom alten Indio, der nur durch Cocakonsum und ohne jede Nahrungsaufnahme über mehrere Tage die schwersten körperlichen Strapazen ertragen konnte.

Den Lesern der österreichischen Militär-Zeitung empfahl man im selben Jahr in einem Inserat „Cocain-Sect“, einen „exquisiten Liqueur [?] aus der Cocapflanze“.72 Und hätte Caesar diesen Trunk schon gekannt, würde der mit seinem Namen verbundene Wahlspruch wohl „veni, bibi, vici“ lauten.73 Auch Burroughs Wellcome & Co. in London griffen die Idee des Stärkungsmittels für Männer in Ex­tremsituationen auf. Sie vermarkteten ab 1897 „Forced March-Tabloids“, welche die aktiven Prinzipien der Kolanuss und des Cocablattes enthielten, mit dem Slogan „Allays hunger and prolongs the power of endurance“.74 Auf den Südpolexpeditionen von Ernest Henry Shackleton (1874–1922) und Robert F. Scott (1868–1912) sollen sich die Teilnehmer mit „Forced March“ beholfen haben und auch im ersten Weltkrieg wurden britische Truppen damit versorgt.75



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