Nach erheblicher Kritik

Bundestag stimmt für umstrittene Forschung an Demenzkranken

Berlin - 10.11.2016, 10:00 Uhr

Der Bundestag stimmte am 9. November ohne Fraktionszwang über eine ethisch umstrittene Forschungsfrage ab. (Foto: picture alliance / NurPhoto)

Der Bundestag stimmte am 9. November ohne Fraktionszwang über eine ethisch umstrittene Forschungsfrage ab. (Foto: picture alliance / NurPhoto)


Patientenschützer, Kirchen und viele Politiker hatten heftig protestiert – dennoch votierte die Bundestags-Mehrheit am Mittwoch dafür: Zukünftig können Studien an Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen durchgeführt werden, die selber hiervon nicht profitieren. Kritiker fürchten einen Dammbruch.

Am gestrigen Mittwochnachmittag stimmte der Bundestag für einen Antrag von SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach und Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), bislang verbotene Studien an Patienten mit geistigen Beeinträchtigungen zu erlauben. Wenn diese Patienten zuvor über eine schriftliche Verfügung eingewilligt haben, sollen sie nach dem Willen der Parlamentsmehrheit auch dann als Probanden herangezogen werden können, wenn sie selber keinen Nutzen durch die jeweilige Studie erwarten können.

4. AMG-Änderungsgesetz mehrfach verschoben

Noch vor drei Jahren hatte der Bundestag einstimmig gegen eine derartige Regelung entschieden. Doch diesen Sommer hat sich die Bundesregierung offenbar auf Drängen von Gröhe sowie Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (CDU) dazu entschlossen, die Forschung in diesem Bereich freizugeben. Auch weil sie weder eine inhaltliche Begründung für diesen Schritt angegeben hatte, noch Zeit für eine Diskussion hierüber angesetzt war, gab es erhebliche Kritik an den Plänen. Nach Druck aus den Reihen der Opposition verschob die Große Koalition mehrfach die Verabschiedung des vierten AMG-Änderungsgesetzes, das die neue EU-Verordnung für klinische Studien in Deutschland umsetzen soll. Dieses Gesetz beinhaltet auch die Regelung, dass Apotheken keine Verordnungen mehr bedienen dürfen, die „offenkundig“ ohne vorherigen Arzt-Patientenkontakt ausgestellt worden sind.

Der gestrigen Abstimmung, für die der Fraktionszwang aufgehoben wurde, ging eine ausführliche Diskussion der Kritikpunkte voraus. „Ich bin in diesen schweren Stunden sehr froh über unsere politische Kultur“, erklärte Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) anlässlich der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten zum Start der Debatte. Gröhe wie Lauterbach verteidigten ihren Vorschlag, mit einigen Schutzmechanismen die Forschung an nicht-einwilligungsfähigen Patienten auch dann freizugeben, wenn diese keinen direkten Nutzen haben.

Gröhe beklagt „forschungsfeindlichen Ton“

„Zum Menschsein gehört es auch, Leid lindern zu wollen, Krankheiten besser zu verstehen, ja heilen zu können“, erklärte der Gesundheitsminister. Ihn bedrücke der „forschungsfeindliche Ton“, der in der öffentlichen Debatte oft vorherrsche. Aus seiner Sicht ginge es nicht um eine Abwägung von Lebensschutz und Forschungsinteresse, doch müsste es beispielsweise Demenzkranken auch möglich sein, an Forschungsprojekten teilzunehmen, die anderen Patienten nützten. „Gerade die Schwächsten brauchen unseren Schutz“, betonte Gröhe. 

Noch keine Studie an bisheriger Regelung gescheitert

Doch nach Meinung vieler Kritiker ist dieser zukünftig für die betroffenen Probanden nicht ausreichend gewährleistet. Sie sollen noch bei ausreichend guter Gesundheit nach einer ärztlichen Beratung erklären, dass sie im Falle einer späteren Nicht-Einwilligungsfähigkeit an einem Forschungsvorhaben teilnehmen wollen. Beispielsweise die Linken-Gesundheitspolitikerin Kathrin Vogler bezweifelte, dass die Aufklärung – welche Monate oder eher Jahre im Voraus erfolgen würde – tatsächlich den Inhalt sowie Nutzen und Risiko der Forschungsprojekte erfassen könne.

Dies verstoße „ganz klar“ gegen die Anforderung einer informierten Einwilligung, kritisierte sie. Außerdem stellt sie infrage, ob die Lockerung überhaupt nötig ist. Auch nach mehreren Nachfragen habe das Ministerium „nicht eine einzige Studie“ nennen können, die an der bisherigen Regelung gescheitert sei. Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) hatte erklärt, aus seiner Sicht könnten die Studien so gestaltet werden, dass sie den Probanden nützen – so dass keine fremdnützige Forschung nötig sei.

Geht das Einwilligungserfordernis schleichend verloren?

Auch der CDU-Behindertenpolitiker Hubert Hüppe kritisierte die mangelnde Begründung für das Gesetz: Eine angegebene Studie von 2007 habe nicht das Ziel gehabt, eine Therapie zu entwickeln, sondern einen Diagnostik-Ansatz wirtschaftlicher zu machen. Auch sei der Eingriff anders als nun angekündigt nicht mit minimalen Belastungen verbunden gewesen: Die Studie umfasste einen anderthalbstündigen Aufenthalt in einem Kernspin, wobei die Patienten wohl hätten fixiert werden müssen.

Hüppe äußerte die Sorge, dass es nun „immer weiter geht“: 2014 habe er zu einer ähnlichen Freigabe für Kinder zustimmt, da für diese Studien von Erwachsenen nicht übertragbar seien. Damals sei betont worden, dass Erwachsene ausgenommen blieben. Er hätte „niemals“ zugestimmt, wenn er gewusst hätte, dass die damalige Entscheidung nun als Argument für eine weitere Liberalisierung genannt werde. Er befürchtet, dass irgendwann auch ohne Einwilligung geforscht wird. „Dann sind auch Menschen mit Down-Syndrom dabei“, erklärte er.

Weg frei für Verabschiedung am Freitag

Die ehemalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), die zusammen Vogler, dem CDU-Behindertenpolitiker Uwe Schummer und der Grünen-Gesundheitspolitikerin Kordula Schulz-Asche einen Antrag zur Beibehaltung der aktuellen Situation eingebracht hatte, erinnerte daran, dass der hohe Schutzstandard für nicht-einwilligungsfähige Patienten noch vor Kurzem Standard gewesen sei – und die Bundesregierung sich auf EU-Ebene dafür eingesetzt habe, dass die Möglichkeit hierzu erhalten blieb. Daher sieht sie die aktuellen Pläne als „Widerspruch“.

Schulz-Asche betonte, dass die vom Parlament später mit 330 von 581 Stimmen angenommene Regelung rechtlich nicht ausreichend klar geregelt sei. „Gerade in diesem Bereich brauchen wir eine sehr starke Rechtssicherheit“, erklärte sie. „Forschung, von der nicht-einwilligungsfähige Patienten nicht selbst profitieren, ist nicht nur unnötig, sondern medizinisch, ethisch und juristisch fragwürdig", erklärte sie. Auch die „Entmachtung“ der Ethikkommissionen, die die vierte AMG-Novelle vorsieht, kritisierte sie erneut: Zukünftig sollen Bundesbehörden beispielsweise ablehnende Entscheidungen von Ethikkommissionen überstimmen können.

Doch die Kritiker konnten die Parlamentsmehrheit nicht überzeugen: Ihr Antrag erhielt nur 254 Ja-Stimmen, während 321 Parlamentarier gegen ihn stimmten. Die Regelungen sollen zusammen mit dem gesamten 4. AMG-Änderungsgesetz am Freitag in dritter Lesung vom Bundestag verabschiedet werden. Für diese Abstimmung gilt dann wieder der Fraktionszwang.



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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