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Ein in seinem Kern patentrechtlicher Streit bedroht aufgrund der Argumentationsweise der Gerichte die Defektur- und sogar die Rezepturherstellung. Wo die Probleme und mögliche Lösungen liegen, analysiert Dr. Thomas Müller-Bohn in einem Kommentar.
Im jüngsten Urteil des Hamburger Landgerichts zur Herstellung von Idebenon-Kapseln in Apotheken geht es vordergründig um die Werbung für Defekturen und patentrechtliche Aspekte im Zusammenhang mit ähnlichen zugelassenen Fertigarzneimitteln. Solange es dabei bleibt, sind dies primär juristische Fragen des Einzelfalls. Doch das Urteil stützt sich wesentlich auf eine Argumentation, die die Pharmazie in ihrem Kern trifft. Das Problem bedrohte zunächst „nur“ die Defektur, spätestens seit dem jüngsten Hamburger Urteil stellt es die ganze Herstellungstätigkeit der Apotheken in Frage, auch wenn das vielleicht gar nicht die Intention der Richter war.
Argumentation mit Herstellungsschritten
Gemäß § 21 Absatz 2 Ziffer 1 AMG müssen bei Defekturen wesentliche Herstellungsschritte in der Apotheke stattfinden. Die Herstellung muss mehr als eine Neukonfektionierung sein. Das Hamburger Landgericht hält dies im strittigen Fall nicht für gegeben und stützt sich dabei auf eine mittlerweile mehrfach angewendete Argumentation, nach der die Vermischung mit Hilfsstoffen, das Abmessen von Einzeldosen und die Verpackung keine wesentlichen Herstellungsschritte seien. Jetzt wird nicht einmal mehr die Kapselherstellung als wesentlich betrachtet. Diese Interpretation stützt sich auf den Vergleich mit der aufwendigeren Herstellung des Arzneistoffes, der in der Apotheke nicht mehr chemisch verändert wird. In einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes zu Gemcitabin wurde sogar die Verarbeitung im Reinraum nicht als wesentlicher Herstellungsschritt anerkannt. In weiteren Urteilen wurde argumentiert, an Rezepturarzneimittel könnten keine geringeren Ansprüche als an Defekturen gestellt werden. Daher sei die Argumentation auch auf Einzelrezepturen anzuwenden. Dabei wird ignoriert, dass § 21 Absatz 2 Ziffer 1 AMG auf Fertigarzneimittel zielt und nur greift, wenn ein Arzneimittel im Voraus hergestellt wird. In dem jüngsten Hamburger Urteil heißt es nun, nicht die vorliegenden Verordnungen würden darüber entscheiden, ob ein Rezepturarzneimittel vorliege, sondern es komme darauf an, welches Gewicht dem Herstellungsschritt der „Verkapselung“ beizumessen sei. Offenbar dehnen die Gerichte die Anwendung dieser Abwägung zwischen den Herstellungsschritten immer weiter aus – und darin liegt die berufspolitische Gefahr.
Von der Defektur zur Rezeptur
Die Argumentation mit den Herstellungsschritten hat eine lange Vorgeschichte. Schon 2002 hat das Hanseatische Oberlandesgericht entschieden, die in einer Apotheke hergestellten Ribavirin-Kapseln seien zulassungspflichtig, weil die wesentlichen Herstellungsschritte nicht in der Apotheke stattfänden. Dabei ging es noch „nur“ um die Defektur. Doch der Verfasser dieses Kommentars hat schon damals auf die drohenden Folgen hingewiesen. Es wäre schon damals dringend geboten gewesen, das zugrunde liegende Missverständnis auszuräumen. Doch stattdessen wurde die Argumentation vom Bundesgerichtshof und vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt und wird mit dem oben beschriebenen argumentativen Umweg inzwischen sogar auf die Rezeptur ausgedehnt. Wenn sogar eine Kapselherstellung und eine Zubereitung im Reinraum als unerheblich gelten, müsste dies auch für praktisch jede andere Rezeptur gelten. Das wäre nicht nur das Ende der Defektur, sondern der gesamten Rezeptur. In Verbindung mit der jüngsten Hamburger Argumentation, die die vorliegenden Verordnungen nicht als relevant betrachtet, wäre praktisch jede Rezeptur als zulassungspflichtiges Fertigarzneimittel zu betrachten. Die Idee scheint sich zu verselbständigen. Darum sei hier daran erinnert, dass ein Fertigarzneimittel gemäß § 4 Absatz 1 AMG nur vorliegt, wenn es im Voraus hergestellt wird. Dies gilt es zu allererst zu prüfen. Bei einer Individualherstellung sollten sich die weiteren Fragen nicht stellen.
Problemlösung für Defekturarzneimittel
Doch auch bei der Bewertung von Defekturarzneimitteln mit dem Argument der Herstellungsstufen hat sich offenbar ein Missverständnis verfestigt. Denn die Gerichte ignorieren immer wieder den Unterschied zwischen Arzneistoffen und Arzneimitteln, der sich aus den §§ 2 und 3 AMG ergibt. Die Herstellung eines Arzneimittels setzt das Vorhandensein eines Arzneistoffes voraus. Die Schritte, die zur Gewinnung eines Arzneistoffes erforderlich sind, können daher bei der Frage nach den wesentlichen Schritten bei der Herstellung einer Zubereitung aus diesem Stoff nicht mitzählen. Die pharmazeutisch-chemische Synthese und die pharmazeutisch-technologische Arzneimittelherstellung sind zwei getrennte Sphären, die jede für sich zu beurteilen sind. § 21 Absatz 2 Ziffer 1 kann sich daher nur auf die Herstellungsschritte beziehen, denen der bereits vorhandene Arzneistoff unterzogen wird. Doch selbst wenn der Stoff überhaupt nicht verarbeitet würde, griffe § 21 Absatz 2 Ziffer 1b Buchstabe c. Demnach sind auch unverarbeitet abgegebene Stoffe nicht zulassungspflichtig, sofern eine individuelle Verschreibung vorliegt.
Arzneistoffgewinnung und Arzneimittelherstellung trennen!
Nur die strikte Trennung von Arzneistoffgewinnung und Arzneimittelherstellung ist mit diversen anderen arzneimittel- und apothekenrechtlichen Regeln vereinbar. Die Vorschriften der Apothekenbetriebsordnung zur Ausstattung der Apothekenrezeptur beziehen sich ausschließlich auf die Herstellung von Darreichungsformen aus vorhandenen Stoffen. Apotheken sind nicht für die Herstellung von Stoffen gedacht und nicht dafür ausgerüstet. Die amtlichen Arzneibücher beschreiben Qualitätsanforderungen an Stoffe und die Weiterverarbeitung zu Arzneimitteln. Dies betrifft sowohl Apotheken als auch den weitaus überwiegenden Teil der pharmazeutischen Industrie in Europa, denn die meisten Stoffe werden fast nur noch in Asien hergestellt. Die Wissenschaft, die sich mit der Verarbeitung von Arzneistoffen zu Arzneimitteln beschäftigt, ist die pharmazeutische Technologie. Fachfremden Lesern sei hier gesagt, dass dies eine anerkannte Fachdisziplin mit umfangreicher wissenschaftlicher Forschung ist, die eines von fünf Prüfungsfächern im zweiten Abschnitt des pharmazeutischen Staatsexamens darstellt. In ihrem Urteil vergleichen die Hamburger Richter die Herstellungsschritte der Apotheke dagegen mit dem Einrühren des Arzneistoffes in Joghurt. Dies suggeriert, die pharmazeutische Technologie reduziere sich auf banales Alltagshandeln.
Appell
Daher sollten sich die zuständigen Richter folgende Frage stellen: Wie würden Sie sich fühlen, wenn ein komplett Fachfremder Ihnen sagen würde, das Fachgebiet, dem Sie Ihr berufliches Leben gewidmet haben, sei irrelevant, und die gesamte Forschung und Lehre, die dazu seit Jahrzehnten an Universitäten stattfindet, sei bedeutungslos? Würden Sie das einfach hinnehmen oder nach dem Denkfehler suchen? Letztlich bleibt aus pharmazeutischer Sicht zu appellieren, ein patentrechtliches Problem mit den Mitteln des Patentrechts zu entscheiden. Der Umweg über das Arzneimittelrecht droht dagegen unverantwortliche Kollateralschäden auszulösen.
1 Kommentar
Einerseits "Einzelzulassung", andererseits Banalisierung der Rezepturtätigkeit: Selbst schuld!
von Wolfgang Müller am 26.09.2017 um 20:13 Uhr
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