GSK, PEI, EMA und der Impfgedanke

Warum weltweit vereinzelt undichte Impfspritzen auf dem Markt sind

Stuttgart - 23.04.2018, 09:25 Uhr

Symbolbild: Die
undichte Stelle der Impfspritzen wurde gefunden und der Fehler, laut Glaxo Smith Kline (GSK), behoben. Es soll an der Keramikbeschichtung gelegen
haben. (Foto: Maksim Kostenko / stock.adobe.com)

Symbolbild: Die undichte Stelle der Impfspritzen wurde gefunden und der Fehler, laut Glaxo Smith Kline (GSK), behoben. Es soll an der Keramikbeschichtung gelegen haben. (Foto: Maksim Kostenko / stock.adobe.com)


Warum ruft Glaxo Smith Kline seine undichten Impfspritzen nicht zurück? Das Paul-Ehrlich-Institut lieferte vergangenen Mittwoch in der Süddeutschen Zeitung hierzu eine Erklärung: Eine Marktrücknahme wäre mit dem Risiko einer eingeschränkten Versorgung mit zahlreichen Impfstoffen verbunden. DAZ.online wollte es genauer wissen und hat mit GSK und PEI gesprochen. Neu ist, dass es sich um ein weltweites und Chargen-übergreifendes Problem handelt. Zudem könnten Handhabungsfehler zur Undichtigkeit führen.

DAZ.online hatte bereits darüber berichtet: Bei verschiedenen Impfstoffen der Firma Glaxo Smith Kline (GSK) sind seit 2015 immer wieder undichte Spritzen gemeldet worden. Das sei Ärzten bei der Anwendung aufgefallen. Darüber informierte der Hersteller in Abstimmung mit den Aufsichtsbehörden europaweit Ärzte mit sogenannten Dear Doctor Letters (DHPC, Dear Healthcare Professional Communication). Betroffen sind Spritzen mit einem Keramik-beschichteten Konus. Die Sterilität sei nicht beeinträchtigt, jedoch bestehe die Gefahr von Unterdosierungen, heißt es. Das Paul-Ehrlich Institut (PEI) betonte nun nochmals gegenüber DAZ.online: „Die Spritzen sind fehlerhaft, nicht der Impfstoff.“

Nachdem vergangenen Mittwoch aber auch die Süddeutsche Zeitung titelte „viele Impfspritzen sind nicht ganz dicht“ und wohl bis Ende 2019 vereinzelt undichte Spritzen im Markt sein werden, könnten Apotheker bald von Kunden und Ärzten mit entsprechenden Fragen konfrontiert werden. Etwa warum man ihnen nicht einfach die neue und dichte Charge ausliefern könne, denn in der Süddeutschen Zeitung heißt es zu den fehlerhaften Impfspritzen: 


Ärzte können sie nicht einmal umgehen: Seit Januar 2018 sei der Herstellungsfehler behoben, so das Unternehmen, Spritzen mit Leckage-Gefahr würden aber noch bis Ende 2019 ausgegeben. Ärzte, die derzeit über ihre Apotheken versuchen, gezielt die neueren Impfstoffchargen zu bestellen, werden Recherchen der SZ zufolge abgewiesen: Erst würden die alten Chargen abverkauft, lässt GSK die Apotheken wissen.

Süddeutsche Zeitung, 18. April 2018, 05:19 Uhr


„Kann das sein?“, hat DAZ.online GSK gefragt und wurde auf den langwierigen Herstellungsprozess von Impfstoffen verwiesen. Würde GSK also dem Wunsch folgen, nur noch die neuen Chargen auszugeben, käme das einer Marktrücknahme gleich. Denn auch wenn seit Januar 2018 die verbesserten Spritzen in der Herstellung genutzt werden, dauert die Impfstoffproduktion im Vergleich zu anderen Arzneimitteln extrem lange: „Dauert die Herstellung im Schnitt zehn Monate für monovalente Impfstoffe und bis zu 25 Monate für komplexere Vakzine, entfällt nur 30 Prozent dieser Zeit auf die eigentliche Produktion der Antigene. 70 Prozent der Herstellungszeit muss für Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Qualitätskontrolle veranschlagt werden!“ (DAZ 45 / 2015).

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Ein Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte zeigte sich gegenüber der Nachrichtenagentur dpa gelassen: Sicherlich sei das eine „unangenehme Situation“, erklärte er. Betroffene Spritzen-Chargen sollten ausgetauscht werden. Für die Patienten sah er aber keine Gefahr. „Wenn man sieht, dass etwas undicht ist, muss man die Impfung wiederholen.“ Zur Not gebe es auch andere Anbieter – aber bislang sei die Zahl der undichten Spritzen dem Vernehmen nach sehr gering. 

Warum man die Chargen nicht einfach austauschen kann

Ganz so „gelassen“ sieht es das PEI nicht: Denn auch wenn es andere Anbieter gibt, zeigt die Erfahrung mit anderen Lieferengpässen, dass in einem solchen Fall auch alternative Anbieter schnell ausverkauft sind. „Auf einen Schlag alles zurückzurufen, das wäre ein Riesenproblem“, erklärt die Pressesprecherin des PEI gegenüber DAZ.online. Weil man innerhalb der großen Menge freigegebener Spritzen nicht wisse, welche betroffen sind, könne man nicht einfach alle vom Markt nehmen. Selbst wenn man die bisher bekannte Menge undichter Spritzen verzehnfachen würde, wären immer noch 99.974 Spritzen von 100.000 in Ordnung – stünden aber nicht mehr zur Impfung zur Verfügung.

Außerdem gibt die Pressesprecherin von GSK bezüglich der alten erwähnten Chargen zu bedenken: „Es handelt sich nicht um bestimmte Chargen, deshalb müssten wir komplett alle Chargen vom Markt nehmen. Die Fehler treten spontan auf: Wenn in einer 10er-Packung eine Spritze fehlerhaft ist, sind nicht alle in dieser Packung betroffen. Ein Versorgungsmangel wäre die Folge.“ Außerdem lässt GSK schriftlich wissen: „Eine Marktrücknahme aller theoretisch betroffenen Impfstoffe würde bedeuten, dass eine ausreichende Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Impfstoffen nicht mehr gewährleistet werden kann. Dies würde ein erhebliches Risiko für viele Menschen, auch Kinder, bedeuten, da sie nicht mehr gegen impfpräventable Erkrankungen geschützt werden könnten. Dieses vor dem Hintergrund, dass durch undichte Spritzen keine Qualitäts- und Sicherheitsrisiken entstehen, sondern lediglich im Einzelfall über die Notwendigkeit einer Nachimpfung durch den impfenden Arzt entschieden werden muss.“

Warum also kein Rückruf gestartet wurde, ist aus Apothekersicht soweit nachvollziehbar. Neu, und bei der Recherche für DAZ.online aufgefallen, ist, dass der Fehler nicht nur die EU betrifft, sondern weltweit für Probleme sorgt. So wurden entsprechende Briefe auch in Kanada und Neuseeland (Juni 2017) versandt, was GSK auch bestätigt hat: „Es handelt sich um ein weltweites Problem.“

Eine andere Sichtweise

Wolfgang Becker-Brüser vom arznei-telegramm®  findet die ganze Angelegenheit laut der Süddeutschen Zeitung weniger nachvollziehbar, sondern empörend: „Wenn ein Mangel erkannt ist, müsste das Mittel vom Markt genommen werden.“ Stattdessen spiele man das Ausmaß herunter. „Der Firma wird ohnehin nur ein Bruchteil der missglückten Impfungen gemeldet“, so Becker-Brüser gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Ärzten seien solche Meldungen oft zu aufwendig. „Und die Hinweise, die die Firma erhält, akzeptiert sie nicht einmal“, wird Becker-Brüser weiter zitiert. So werde den Ärzten der Schwarze Peter für einen Produktionsmangel des Herstellers zugeschoben – und die Leidtragenden seien am Ende die Patienten.

Das sieht GSK anders: „Wir gehen neutral und ethisch vor – ohne Panikmache und ohne den Impfgedanken zu schädigen. Wir haben in Ärzte eigentlich vollstes Vertrauen und ziehen uns nicht aus der Verantwortung.“ Das PEI ließ zudem durchklingen, dass eine Marktrücknahme rein rechtlich gar nicht so einfach wäre: „Wir dürften (rein juristisch) wohl gar nicht zurückrufen, da das Arzneimittel nicht ‚bedenklich‘ ist.“

Was das Ausmaß der fehlerhaften Impfspritzen angeht, so scheinen PEI und GSK jedoch tatsächlich nicht ganz genau zu wissen, wie groß es tatsächlich ist: Offiziell sind in Europa 26 von 1 Million Spritzen nicht dicht. Das bestätigt auch GSK. In den fünf Ländern mit den meisten Berichten liegt die Häufigkeit zwischen zwei bis zehn pro 100.000 Dosen. Die genaue Häufigkeit ist nicht bekannt und kann deshalb auch höher sein.

Gegen den Vorwurf, Hinweise, die die Firma erhält, würde sie nicht akzeptieren, wehrt GSK sich aber. Auf explizite Nachfrage von DAZ.online wurde mitgeteilt, dass in die genannte Anzahl der fehlerhaften Spritzen alle reklamierten Fälle einfließen – also sowohl die aus GSK-Sicht gerechtfertigten als auch die nicht gerechtfertigten Reklamationen. Die Süddeutsche Zeitung hatte dazu berichtet: „Unterlagen zufolge, die der SZ vorliegen, fließen Beanstandungen längst nicht immer in die Impfpannenstatistik ein.“

Folgen für die Praxis

Nach dem Sicherheitsaspekt steht für Apotheker eine weitere Frage im Raum: Wie steht es um die Erstattung der reklamierten Spritzen? Zwar hatte GSK im DHPC-Brief an die Ärzte nicht darüber informiert: „Warum in dem offiziellen Schreiben an die Ärzte nicht steht, dass GSK die betroffenen Impfspritzen erstattet, verstehe ich auch nicht. Aber natürlich werden sie erstattet“, sagte die Sprecherin des PEI. Doch lag das wohl daran, dass die EMA den Inhalt des Briefes vorgegeben hatte und er entsprechend übersetzt wurde. Sowohl gegenüber DAZ.online als auch in einer dpa-Meldung ließ GSK verlauten: „Wir erstatten immer, auch nicht gerechtfertigte Reklamationen.“ Die GSK-Sprecherin erklärt zusätzlich schriftlich: „Jede vom Arzt reklamierte undichte Spritze wird von GSK rückerstattet. Daher entsteht hier in keiner Weise eine zusätzliche finanzielle Belastung. Wenn der Arzt sich für eine Nachimpfung des Patienten aufgrund einer undichten Spritze entscheidet, leistet GSK kostenfrei Ersatz für die betroffene Impfstoffdosis.“ Ein neues Rezept brauchen dann  laut GSK weder gesetzlich noch privat versicherte Patienten. Der Arzt retourniere die betroffenen Impfstoffdosen über die Apotheke, die umgehend kostenfreien Ersatz erhalte.

Eine weitere Frage aus der Süddeutschen Zeitung bleibt noch offen: So liest man dort, dass die jetzt veröffentlichten Probleme „alles andere als neu“ sind: „GSK, EMA und PEI wissen bereits seit 2015 davon. Doch während die deutsche Behörde die Leckage weiterhin stillschweigend dulden wollte, hat die EMA nun darauf bestanden, Ärzte zu informieren.“ Wollten GSK und PEI wirklich schweigen und haben nun nur, nachdem die EMA darauf bestand, gehandelt? Die GSK-Sprecherin würde „dulden“ wohl durch „zögern“ ersetzen. Gegenüber DAZ.online äußerte sie sich so: „Der Impfgedanke war ein Grund, warum wir zunächst gezögert haben.“ Und vom PEI heißt es gegenüber DAZ.online: „Die EMA wurde sowohl vom PEI als auch von GSK informiert, aber die Überprüfung dauert einfach einige Zeit. Weil die Sterilität nicht beeinträchtigt war, beschloss man zunächst noch kein Informationsschreiben herauszugeben. Als dann aber auch aus anderen Mitgliedsstaaten der EU Meldungen auftraten, wurde beschlossen, dass man die Ärzte jetzt informieren müsse. Von der EMA wurde also kein Druck ausgeübt, das war eine gemeinsame Entscheidung.“

Und wurde „stillgeschwiegen“? Nicht ganz, zumindest wurden schon vor dem allgemeinen Informationsschreiben an alle Ärzte, immer wieder Reklamationsschreiben an betroffene Ärzte versandt, ein solches liegt DAZ.online auch vor. „Es gibt die Theorie, dass wenn zu dünne Kanülen verwendet werden, durch den höheren Druck Flüssigkeit austritt“, erwähnt die PEI-Sprecherin. Dieser Theorie kommt GSK auch in ihrem an betroffene Ärzte versandten Reklamationsschreiben nach, in dem der Hersteller den reklamierenden Arzt unter anderem um folgende Überprüfungen bittet (gekürzt):

  • Spritzenstempel in korrekter Position? Luftblasen vor Aufsetzen der Kanüle entfernt?
  • Ist die Kanüle zu dünn? Sie sollte den von den CDC empfohlenen Durchmesser von 0,7 bis 0,5 mm nicht unterschreiten.
  • Kanüle durch Drehbewegung auf den Spritzenkonus angebracht, bis sie fest sitzt? 

Zusätzlich erklärt GSK: „Die Verwendung einer etwas dickeren Kanüle zur Verabreichung des Impfstoffes trägt darüber hinaus durch den geringeren Innendruck bei der Injektion zur Schmerzreduktion bei der zu impfenden Person bei.“

Die Undichtigkeit könnte also auch durch Handhabungsfehler auftreten, dennoch heißt es in einem offiziellen Schreiben von GSK vom 16. Mai 2017, dass Untersuchungen durch die Hersteller ergaben, dass Qualitätsabweichungen am Spritzenkonus bei der Herstellung der Spritzen zum Auftreten von Undichtigkeiten beitragen. Dabei handelt es sich um CCT-Spritzen (ceramic coating tip).

Der Impfgedanke

„Ob die Impfung in einem solchen Falle überhaupt erfolgreich ist?“, frägt die Süddeutsche Zeitung außerdem und antwortet, dass das die Ärzte dem DHPC-Schreiben zufolge selbst abwägen sollen: „Entweder lassen sie einfach alles, wie es ist, und nehmen einen eventuell verminderten Impfschutz ihrer Patienten in Kauf, oder sie impfen nach.“ Das kann man so nicht stehen lassen, weil die Anweisungen, wie im DAZ-Artikel vom 4. April beschrieben, differenzierter sind. „Tritt die Undichtigkeit vor der Applikation auf, wird klar verworfen, reklamiert und erstattet. Tritt sie während der Applikation auf, muss der Arzt  dies als unerwünschtes Ereignis melden und entsprechend der Handlungsanweisungen von GSK beurteilen, wie er weiter verfährt,“ fasst die Sprecherin von GSK das Vorgehen kurz zusammen. Diese Abwägung könne man den Ärzten nicht abnehmen: „Das Problem ist, dass der Arzt selbst entscheiden muss. Wir können keine konkreten und allgemeingültigen Anweisungen geben: Um welchen Impfstoff handelt es sich? Ist der Patient ein Baby, ein Senior oder ein Reisender? Das muss individuell entschieden werden.“ Auch das Robert Koch Institut (RKI) sah auf Anfrage von DAZ.online keinen Anlass, zum Sachverhalt aktuell eine Empfehlung auszusprechen.

Den „schwarzen Peter“ will man den Ärzten wohl nicht zuschieben, dass sie sich so fühlen könnten, ist aber auch nachvollziehbar. Denn fällt die ausgetretene Menge überhaupt immer auf? Die Volumenverluste schwanken zwischen etwa 10 µl und 50 µl, können im Extremfall aber auch 100 µl oder mehr betragen. Kann diese Mengen ein Arzt während der Applikation zuverlässig erkennen und einschätzen? Die Frage bleibt wohl offen. Dem Impfgedanken, um den sich EMA, PEI und GSK  vor Veröffentlichung des Briefes gemeinsam sorgten, sollte das jedoch nicht schaden. Werden doch weniger die Überdosierungen (bei etwaiger wiederholter Impfung) als die (vielleicht unbemerkten) Unterdosierungen gefürchtet. GSK zufolge hätte die Überprüfung der Pharmakovigilanzdaten vom 14. Dezember 2017 keine Hinweise ergeben, dass die beobachtete Undichtigkeit zu einem Impfversagen oder anderen Sicherheitsbedenken geführt hat.

Auch die EMA beantwortete vereinzelt Presseanfragen zum Thema. Ein entsprechendes Dokument liegt DAZ.online vor. Darin werden die Aussagen von PEI und GSK insgesamt bestätigt, es wird aber auch die einzelne nationale Verantwortung betont: „Each Member State has to assess the impact of the quality defect on their local market, including the availability of alternative medications and the risk to public health.” Auf allen Ebenen also eine Risikoabwägung: zu wenig Impfstoff, zu viel Impfstoff oder gar kein Impfstoff?

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Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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