Halle/Sachsen-Anhalt

Wie ein Pfarrer den ersten weltweiten Arznei-Versandhandel gründete

Berlin - 20.06.2018, 12:20 Uhr

Reiseapotheke (um 1740) in der Jahresausstellung (Foto: Jörg Gläscher)

Reiseapotheke (um 1740) in der Jahresausstellung (Foto: Jörg Gläscher)


Eine Ausstellung in Halle beleuchtet zurzeit die Hintergründe der ersten internationalen Versandapotheke. Von einem Waisenhaus in Halle aus, in dessen Gebäude sich heute noch eine Apotheke befindet, belieferte sie vor rund 300 Jahren weltweit Kunden. Dazu gehörten russische Zaren, wie auch nordamerikanische Siedler. Der Gründer, ein pietistischer Theologe, verstand es geschickt, den Medikamentenexport mit seinen missionarischen Zielen zu verbinden.

„Heil“ bedeutet bekanntlich nicht nur Gesundheit, sondern auch Erlösung und Ganzwerdung im religiösen Sinne. Diese Doppelbedeutung könnte den Theologen und Pädagogen August Hermann Francke (1663–1727) im Jahr 1704 zu folgende Zeilen inspiriert haben: „Arzeneyen in weit entlegenen Ländern […] vertreiben, so ist im geringsten nicht zu zweiffeln, daß durch dieselbige allenthalben der allerbequemste Eingang in die Gemüther und gleichsam eine Thür, die Seelen Gott zu zuführen, erlanget werden könnte“.

Apotheke von Beginn an Teil der Franckeschen Stiftungen

August-Hermann-Francke (Bild: Gemeinfrei)

Am Anfang des Weges zum weltweiten Arznei-Versandhandel stand zunächst Franckes Idee vom Bau eines Waisenhauses im Jahr 1698 – ohne dafür finanzielle Mittel zur Hand zu haben. Mithilfe von Spenden und unerschütterlichem Gottvertrauen gelang es ihm, das Gebäude binnen zwei Jahren fertig zu stellen. Doch das sollte erst der Beginn seines Wirkens sein. In Jahrzehnte andauernder Bautätigkeit errichtete der fromme Gründervater eine revolutionäre Schulstadt um das Zentrum des Waisenhauses herum: Die Franckeschen Stiftungen. Zuweilen lebten hier bis zu 3000 Menschen und arbeiteten an einer christlich-pietistischen Gesellschaftsreform. Francke beflügelte dabei stets sein bibelfester Glaube, wie auch ein Gespür für lukrative Wirtschaftsunternehmungen.

Hallesche Medikamente in der Jahresausstellung (Foto: Jörg Gläscher)

So plante er von Anfang an eine Apotheke als „erwerbenden Betrieb“ mit ein. Die rasch florierende Offizin sicherte nicht nur das weitere Wachstum der Anstalten, sondern ermöglichte es Francke zugleich, die Bewohner kostengünstig mit Arzneimitteln zu versorgen. Bedürftige zum Beispiel erhielten von Anfang an unentgeltlich Medikamente in einer wöchentlichen Sprechstunde. Bald lag die Zahl der Versorgten bei mehr als 1000 Menschen pro Monat. Das brachte den Theologen vermutlich auf die Idee, den Heilmittelversand mit seinen gesellschaftlichen Reformzielen zu verbinden. In seinem „Großen Aufsatz“, schrieb er sechs Jahre später seine Gedanken zum internationalen Export von Arznei und Seelenheil nieder.

Verkaufsschlager „Essentia Dulcis“ und Medikamentensets

Essentia Dulcis Standgefäß (Foto: Waisenhausapotheke)

Seit 1702 gab es dann die sogenannte Medikamentenexpedition, die, unabhängig von der Apotheke, den Vertrieb übernahm. Zu ihren bekanntesten Kunden zählte der russische Zar Peter I. Zum Verkaufsschlager, nicht nur im im Zarenreich, geriet die sogenannte „Essentia Dulcis“. Entwickelt von Waisenhausarzt Christian Friedrich Richter – damals noch stilecht im Geheimlabor – handelte es sich um eine Tinktur aus Kampfer und zerkleinertem Gold „zum Nutz vieler 1000 Krancken“. Analog zur Sonne als Zentralgestirn wurde ihr eine besondere Wirkung auf das Herz – dem Zentrum des menschlichen Organismus – zugeschrieben. Anknüpfend an die alchemistische Überzeugung, Unreines in Edles zu verwandeln, sollte der Mensch durch die Einnahme außerdem zu einen neuen, reineren Sein finden und – pietistisch gesprochen – wiedergeboren werden.

Durch die Missionstätigkeit des Waisenhauses gelangten die Halleschen Arzneien sogar bis nach Nordamerika. Insbesondere Siedler wurden zu Hauptabnehmern, denn: Die Export-Medikamente wurden größtenteils in Sets vertrieben, denen eine Anleitung zur Selbstmedikation beilag. Gerade in Regionen, wo kein Arzt verfügbar war, konnten sich medizinische Laien somit weitgehend selbst behandeln.

In Indien wiederum, wo ebenfalls Missionare des Waisenhauses tätig waren, gab es kostenlose Abgaben nach dem Vorbild der Sprechstunde in Halle. Der Gewinn aus Export und Apotheke war trotz barmherziger Armenfürsorge stets groß genug, um die Franckeschen Anstalten in weiten Teilen zu finanzieren. Abnehmer vertrauten dem guten Image der pietistischen Mutterinstitution sowie der stets behaupteten herausragenden Qualität der Pharmazeutika.

Medikamenten-Expedition: Aktuelle Ausstellung in Halle

Die aktuelle Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen in Halle mit dem Titel „Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert“ wirft einen umfassenden Blick auf den Franckeschen Arzneimittelversandhandel. „Mit der Medikamenten-Expedition hat Francke nicht nur seine Idee der Bildung für alle finanziell absichern können, er gründete hier vielmehr den ersten internationalen Apothekenversandhandel in Deutschland“ ist der Ausstellungskurator und Kustos des Waisenhauses, Dr. Claus Veltmann überzeugt. 

Die Waisenhaus-Apotheke selbst existiert noch heute, wird allerdings inzwischen privat betrieben und konzentriert sich ganz auf den stationären Handel vor Ort. (Foto: Waisenhaus-Apotheke)


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