Kurzsichtigkeit vorbeugen

Atropin-Augentropfen statt Brille?

Stuttgart - 08.10.2018, 10:15 Uhr

Wie kann man eine Kurzsichtigkeit bei Kindern hinauszögern oder verhindern? Im Freien spielen soll helfen. Helfen Atropin-Augentropfen auch? ( r / Foto: Photocreatief / stock.adobe.com)

Wie kann man eine Kurzsichtigkeit bei Kindern hinauszögern oder verhindern? Im Freien spielen soll helfen. Helfen Atropin-Augentropfen auch? ( r / Foto: Photocreatief / stock.adobe.com)


Den Apotheken, die Augentropfen herstellen, sind Atropin-Augentropfen zur Prophylaxe der Myopie-Progression bei Kindern vielleicht schon untergekommen. Oft haben Eltern ein Informationsblatt aus einem Krankenhaus dabei, in dem ihnen die medikamentöse Behandlung der Kurzsichtigkeit empfohlen wurde. Aber können mit Atropin-Augentropfen den kurzsichtigen Kindern von heute wirklich die Brillen von morgen erspart werden? 

Während hierzulande Atropin-Augentropfen zur Vorbeugung des Fortschreitens der Kurzsichtigkeit im Kindesalter noch nicht wirklich bekannt sind, sollen sie in Asien eine verbreitete Behandlung darstellen. Hat die Behandlung auch in Deutschland mehr Aufmerksamkeit verdient? „Hochdosiertes Atropin scheint Kurzsichtigkeit bei Kindern kurzfristig auszubremsen. Es hilft aber nicht nachhaltig. Ob eine niedrigere Dosis besser wirkt, ist unklar“, zu diesem Fazit gelangt seit dem 28. September 2018 die Webseite „Medizin-Transparent.at“, die es sich zum Ziel gesetzt hat, im Internet über Gesundheitsmythen, Werbebehauptungen und Medienbeiträge aus dem Gesundheitsbereich kritisch aufzuklären. Sie richtet sich sowohl an Laien als auch an im Gesundheitswesen Tätige und ist ein Service des Departments für evidenzbasierte Medizin und klinische Epidemiologie an der Donau-Universität Krems sowie von Cochrane Österreich. Können Eltern ihren Kindern die Brille also doch nicht ersparen?

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„Hochdosiertes Atropin“ bedeutet im Fall der Myopie-Prophylaxe 1-prozentige Atropin-Augentropfen. Sie hemmen laut Medizin-Transparent.at das Fortschreiten von Kurzsichtigkeit jedoch „möglicherweise“ nicht. Von niedrigdosiertem Atropin spricht man bei 0,01-prozentigen Atropin-Augentropfen. Deren hemmende Wirkung auf das Fortschreiten von Kurzsichtigkeit bei Kindern sei „nicht (ausreichend) erforscht“. Dennoch werden die Atropin-Augentropfen von Experten immer wieder empfohlen.

Österreichische Ophtalmologische Gesellschaft empfiehlt niedrig dosierte Atropin-Augentropfen

Eine Therapie mit niedrig dosiertem Atropin empfiehlt laut Medizin-Transparent.at seit 2018 auch die Österreichische Ophtalmologische Gesellschaft (ÖOG). Das gehe aus einem „Arbeitspapier Myopiemanagement“ mit dem Stand vom Januar 2018 hervor. Auch eine Pressemeldung der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft aus dem Jahr 2016 titelte: „Atropin schützt besser vor Sehschwäche als Kontaktlinsen oder Tageslicht“. Das sei das Ergebnis einer weltweiten Netzwerk-Analyse, die sechzehn Studien mit überwiegend asiatischen Kindern auswertete.

Medizin-Transparent.at trübt dieses positive Bild ein wenig. Denn die Webseite zieht für ihre Bewertung vor allem und nur drei Studien heran, die sie für am „vertrauenswürdigsten“ hält. Diesen Studien zufolge bremst eine ein- bis zweijährige Behandlung mit Atropin-haltigen Augentropfen zwar wahrscheinlich das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit. Schulkinder, die Placebo-Augentropfen erhielten, sahen am Ende der Therapie um circa eine Dioptrie schlechter als die Kinder, die Atropin-Augentropfen erhielten. Jedoch zeigten andere Studien, dass sich die Kurzsichtigkeit nach Ende der Behandlung wieder verschlechtert. Das Atropin wurde in diesen drei Studien relativ hoch dosiert:

Nach Ende der Behandlung verschlechtert sich die Kurzsichtigkeit 

Der positive Effekt „dürfte“ aber ein Jahr nach Therapiestopp  für die Kinder nicht mehr merklich sein, heißt es. Ob niedrigere Dosierungen die Kurzsichtigkeit einbremsen können, können die zur Verfügung stehenden Studien laut Medizin-transparent.at nicht beantworten. Denn in der herangezogenen Studie, die die Wirkung verschiedener Dosierungen über den Behandlungszeitraum hinaus bewertete, soll die Placebogruppe gefehlt haben. (2012: 400 kurzsichtige Kinder aus Singapur im Alter von sechs bis 12 Jahren; Fragestellung: Auswirkung von 0,5, 0,1 und 0,01 Prozent Atropin-Augentropfen? Fragestellung 2014: Veränderungen nach Absetzen von 0,01, 0,1 und 0,5 Prozent Atropin). Dass die niedrigste Konzentration (0,01 Prozent) so gut wirkt wie die zuvor untersuchten 0,5 Prozent, könnten die Studienergebnisse ebenfalls nicht belegen. 

Auch das Ärzteblatt hat sich 2017 dem Thema „Myopieprophylaxe“ mit einer Übersichtsarbeit gewidmet. Die Autoren kommen von der Klinik für Augenheilkunde der Universität Freiburg, Prof. Dr. med. Lagrèze, und vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde der Universität Tübingen Prof. Dr. rer. nat. Schaeffel. Darin erfährt man zum Beispiel, dass die Mechanismen, über die Atropin die Myopieentwicklung hemmt, kaum verstanden sind.

Wirkmechanismus von Atropin am Auge kaum verstanden

Atropin bindet an alle muskarinischen Rezeptor-Subtypen (M1 bis M5). Jedoch wird vermutet, dass Atropin die Myopie gar nicht über muskarinische Mechanismen hemmt.

Relevant könnte unter anderem seine Bindung an alpha2-adrenerge Rezeptoren sein: Andere Agonisten, die primär an alpha2-adrenerge Rezeptoren binden, sollen die Myopie ebenso effizient hemmen.

Im Tiermodell des Huhns wurde gezeigt, dass der gasförmige Transmitter Stickoxid in der Netzhaut verfügbar sein müsse, damit Atropin seine myopiehemmende Wirkung entfalten könne. Denn hemmt man die Synthese von Stickoxid, soll Atropin seine Wirkung verlieren. Stickoxid stellt, ähnlich wie Dopamin, ein Lichtsignal für die Netzhaut dar.

Adrenerge Rezeptoren sollen auch die Aktivität des Schlüsselenzyms für die Dopaminsynthese und somit den Dopamingehalt der Netzhaut steuern. Dopamin sei ebenfalls ein Lichtsignal für die Netzhaut.

Atropin scheint der Netzhaut also sowohl über Stickoxid (NO) als auch über Dopamin ein Lichtsignal zu liefern.

UAW: Weitsichtig statt kurzsichtig? Sonnenbrille statt Brille?

Wie häufig welche Nebenwirkungen auftreten, lasse sich laut Medizin-Transparent.at anhand der Studien nicht abschätzen. Jedoch scheint die niedrigste Atropin-Konzentration deutlich seltener Nebenwirkungen auszulösen.

Durch die Erweiterung der Pupillen durch Atropin werden die Augen lichtempfindlich. Betroffene Kinder erhielten deshalb in einzelnen Studien Sonnenbrillen oder selbsttönende Brillen. Durch Atropin können die Augen die Sehschärfe nicht mehr an unterschiedliche Entfernungen anpassen. Je nach Dosierung sehen die Kinder deshalb mehr oder weniger verschwommen – sie werden über den Zeitraum der Behandlung „künstlich weitsichtig“. Während der Behandlung trugen manche Kinder deshalb eine Lesebrille. Wie bei jedem Arzneimittel können allergische Rekationen auftreten. Zu schweren Nebenwirkungen soll es jedoch laut den Studien insgesamt nicht gekommen sein.

Atropin-Augentropfen in der Praxis

Laut dem Übersichtsartikel aus dem Ärzteblatt von 2017 sei für die klinische Praxis folgendes festzuhalten: 0,01-prozentige Atropin-Augentropfen sind aktuell vermutlich die sinnvollste Form der Progressionsminderung bei Myopie. Unbekannt sei jedoch, bis zu welchem Alter eine Behandlung mit Atropin-Augentropfen sinnvoll ist, wie lange die Therapie durchgeführt werden soll und wie der weitere Verlauf nach Beendigung der Therapie ist. Unbewiesen sei auch, ob eine Atropinbehandlung als präventive Maßnahme sinnvoll sein könnte, um eine spätere Myopie zu verhindern – so wie es für den Faktor Tageslicht gezeigt wurde.

Im Internet findet sich ein Merkblatt des Uniklinikums Tübingen zum Thema Atropin-Augentropfen „Praktische Tipps: Prophylaxe der Myopie-Progression“. Dort steht:„Der Wirkstoff Atropin kann in einer niedrigen Konzentration die Entwicklung einer zunehmenden Kurzsichtigkeit verringern.“ Die zu verordnende Rezeptur wird so angegeben:      

Atropin 0,01%

0,1 ml Atropin POS 0,5% Augentropfen 

0,245 g Edetathaltige Benzalkoniumchlorid-Lösung 0,1% (pH 4,6) NRF S. 18 

NaCL 0,9% Lösung ad 5 ml


Dosierung: 1 x abends, jeweils in den unteren Bindehautsack 

Die Tropfen können durch den pH-Wert etwas brennen (Nötig für Stabilität des Atropins)

Warnhinweis: Atropin ist in größeren Mengen giftig. Daher sollten die Tropfen unbedingt sicher und geschützt vor Kindern aufbewahrt werden!

Die Verdünnung auf 0,01 Prozent würde verwendet, um die Pupillenweite und Naheinstellungreaktion möglichst wenig zu beeinflussen, also die Nebenwirkungen zu minimieren. Das untersuchte Anwendungsalter wird mit sechs bis 15 Jahren angegeben. Der Effekt könne mittels einer genauen Messung der Augenlänge objektiviert werden (nicht häufiger als 1x pro Jahr).

Auch vom Universitätsklinikum Freiburg, gibt es von der Klinik für Augenheilkunde eine Patienteninformation zum Thema „Kurzsichtigkeit (Myopie) im Kindes- und Jugendalter“ (Stand 2016) im Internet.

Darin erfährt, man, dass Myopie weltweit die häufigste Sehstörung ist und dass die Häufigkeit zunimmt. Sie beginnt im Kindesalter zwischen sechs und zwölf Jahren. In Europa sei jeder zweite jüngere Mensch kurzsichtig, in Asien sollen es sogar 80 Prozent sein. Bei Verdacht oder Vorliegen einer Myopie ist immer eine augenärztliche Untersuchung geboten.

Laut der Patienteninformation ist die Wirkung von Atropin zur Minderung des Fortschreitens der Kurzsichtigkeit durch klinische Studien belegt: „Seit über 100 Jahren ist bekannt, dass Atropin-Augentropfen Myopieprogression verlangsamen“, liest man dort. Erst seit wenigen Jahren sei bekannt, dass auch hochverdünntes Atropin (0,01 Prozent) die Myopieprogression mindert. 

Im Vergleich mit anderen Maßnahmen schneiden die Atropin-Augentropfen laut der Freiburger Augenklinik am besten ab: 

Geschätzte Minderung der Zunahme von Kurzsichtigkeit 

  • 75 Prozent durch 0,01-prozentige Atropin Augentropfen
  • 25 Prozent durch 45 Minuten pro Tag Zeit im Freien bei Tageslicht
  • 30 Prozent durch Multifokale Kontaktlinsen

Kosten

Weil für die Atropin-Augentropfen keine Arzneimittelzulassung besteht, sind sie nicht über die gesetzlichen Krankenkassen erstattungsfähig und können nur über ein Privatrezept verordnet werden. Die Kosten sollen sich auf circa 300 bis 500 Euro pro Jahr belaufen. In der Regel könnten Apotheken mit Reinraum aus kommerziell erhältlichen 0,5-Prozent-Atropin-Augentropfen die erforderlichen 0,01-prozentigen-Atropin-Augentropfen herstellen. Aufgrund der langfristigen Anwendung über Jahre wird in der Freiburger Patienteninformation empfohlen, die Tropfen unkonserviert als EDO (Einmaldosis-Ophtiolen) zu verwenden.



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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