Interpharm 2019 Stuttgart

CGRP-Antikörper: Revolution bei Migräne?

Stuttgart - 21.03.2019, 07:00 Uhr

Prof. Dr. Gerd Bendas ist von CGRP als Zielstruktur bei Migräne überzeugt. (Foto: Schelbert)

Prof. Dr. Gerd Bendas ist von CGRP als Zielstruktur bei Migräne überzeugt. (Foto: Schelbert)


Berechtigte Hoffnung oder ungerechtfertigter Hype: Welchen Nutzen bringen die innovativen CGRP-Antikörper Galcanezumab, Fremanezumab und der CGRP-Rezeptor-Antikörper Erenumab für Migränepatienten? Professor Gerd Bendas verhalf den Interpharmbesuchern in Stuttgart zu einer besseren Einschätzung. Was müssen Apotheker bei der Abgabe von Aimovig® und Emgality® beachten?

Man kann sich wohl schwer einfühlen, wie quälend Migräne für die betroffenen Patienten sein kann. Kein Wunder, dass – wie in jedem Therapiegebiet – auch bei dieser anfallsartigen, chronisch-rezidivierenden Kopfschmerzform, neue Behandlungen sehnsüchtig erwartet wurden. Dies trat bei Migräne tatsächlich jüngst ein: Mit Erenumab (Aimovig®) und Galcanezumab (Emgality®) sind 2018 in der EU bereits zwei Antikörper zur Prophylaxe der episodischen und chronischen Migräne zugelassen worden, im Januar 2019 äußerte sich der Humanarzneimittelausschuss der EMA (CHMP) bereits positiv zu Fremanezumab (Ajovy®).

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Alle drei Antikörper adressieren ein gänzlich neues Target bei Migräne: Sie wirken auf das Calcitonin-Gene-Related Peptide-System ein, wobei Erenumab an den CGRP-Rezeptor bindet, Galcanezumab und Fremanezumab das Neuropeptid direkt neutralisieren. Doch was bringen die innovativen Strategien? Auf der Interpharm 2019 in Stuttgart umriss Professor Gerd Bendas (Pharmazeutische Chemie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn) den Wert der CGRP- und CGRP-Rezeptor-Antikörper.

Migränetherapie klappt, Prophylaxe nicht

„Mittlerweile lassen sich die Schmerzattacken bei Migräne pharmakotherapeutisch recht gut behandeln. Wo es bei der Migräne noch hapert – ist die Prophylaxe“: Wertvoll in der Therapie der Migräne sind vor allem die Triptane, die „haben jedoch in der Prophylaxe nichts zu suchen", mahnt Bendas.
Laut Bendas nehmen aktuell nur 20 Prozent der Migräniker eine Migräneprophylaxe in Anspruch. Neben nichtmedikamentösen Maßnahmen – aerober Ausdauersport, Stressmanagement, psychologische Schmerzbewältigung – gibt es zwar auch Arzneimittel, die Migräneattacken vorbeugen sollen. Bis zur Einführung der CGRP-Antikörper gestaltete sich die medikamentöse Migräneprophylaxe, hinsichtlich der eingesetzten Arzneimittelgruppen, aber äußerst heterogen. Die Indikation, die das Auftreten der Krankheitsschübe unterdrücken soll, fristete bis vor kurzem somit ein ziemliches Dasein am Rande.
Erst durch die Zulassung der ersten CGRP-Antikörper (Erenumab in Aimovig®: Mai 2018 USA / Juli 2018 EU; Galcenzumab in Emgality®: September 2018 USANovember 2018 EU; Fremanezumab in Ajovy®: September 2018 USA; CHMP-Zulassungsempfehlung Januar 2019 EU) erfolgt nun eine enorme Vitalisierung des Gebietes. 

„CGRP ist ein ideales Target bei Migräne“

Das „bunte Spektrum an Arzneistoffen zur Migräneprophylaxe“ erstreckt sich über Betablocker (Metoprolol, Propranolo, Bisoprolol), Calciumkanalblocker (Flunarizin), zur Epilepsie eingesetzte Wirkstoffe wie Topiramat und Valproinsäure sowie das Antidepressivum Amitriptylin oder Botulinumtoxin A. Die beste Evidenz gibt es für die beiden Betablocker Metoprolol und Propranolol. Ihnen folgt in der Empfehlung Fluanrizin und Topiramat.
So unterschiedlich die einzelnen Wirkstoffe sind, eines eint alle: „All diese Stoffe sind für ganz andere Indikationen entwickelt worden“, erklärt Bendas. Daraus resultierten unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) in der Migräneprophylaxe: Müdigkeit, arterielle Hypotonie, Schlafstörungen und Schwindel. „Das Spektrum der Nebenwirkungen erklärt die geringe Adhärenz der Patienten“, so Bendas. Die Wirkstoffe machten so vielfältige UAW, „das ist keine Pharmakotherapie im modernen und besten Sinne“.

CGRP-Antikörper speziell für Migräneprophylaxe entwickelt

Anders die CGRP-Antikörper, diese wurden einzig und allein für die Migräneprophylaxe entwickelt, und nach Ansicht von Bendas, ist „CGRP ein ideales Target bei Migräne“.

Die CGRP-Hypothese bei Migräne

CGRP spielt nach aktuellen Erkenntnissen eine wichtige Rolle im Entzündungsgeschehen und somit der Pathogenese bei Migräne und hat laut Professor Gerd Bendas (Pharmazeutische Chemie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn) grundsätzlich zwei Wirkungen: „CGRP ist extrem stark vasodilatierend und agiert als Entzündungsmediator."

Man geht heute davon aus, dass der Migränekopfschmerz Folge einer erhöhten Aktivität von Trigeminusneuronen ist, die durch Vasodilatation via CGRP, Stickstoffmonoxid (NO), Vasoaktivem Intestinalem Peptid (VIP) und Substanz P vermittelt wird. Hierdurch kommt es zur Stimulation afferenter C-Fasern und einer, unter anderem durch Prostaglandine vermittelten, perivaskulären Entzündung. Die CGRP-Hypothese wird durch zwei Beobachtungen gestützt: So weisen Patienten während einer Migräne-Attacke erhöhte Spiegel an CGRP auf. Dieser klare funktionelle Zusammenhang zwischen Migräne und CGRP konnte bereits 1990 an 20 Migränepatienten in einer schwedischen Untersuchung gezeigt werden die erhöhte CGRP-Werte (Halsvenen) während ihrer Migräneattacke aufwiesen.

Zudem sind Injektionen mit dem proinflammatorischen Neuropeptid in der Lage, bei Migränikern Anfälle auszulösen. Diese lassen sich durch Triptane wieder abschwächen, da Triptane die CGRP-Freisetzung aus dem trigeminalen System abschwächen.

Am schnellsten bei der Entwicklung und Zulassung – EU und USA – war Novartis mit seinem CGRP-Rezeptor-Antikörper Erenumab (Aimovig®). Es folgten Galcanezumab, und auch Fremanezumab wartet bereits nur noch auf die EU-Zulassung. Zwar konnten die jeweiligen Zulassungsstudien eine Signifikanz versus Placebo nachweisen, dennoch hatte man sich wohl mehr versprochen.

Migräne-Antikörper: man hatte durchschlagenderen Erfolg erhofft

„CGRP als Zielstruktur spricht für die Antikörper“, findet Bendas. Dennoch merke man bei der therapeutischen Effizienz „eine gewisse Zurückhaltung in Fachkreisen – man hatte sich einen durchschlagenderen Erfolg gewünscht“, so Bendas. Und weiter: „Sie eröffnen keinen neuen Horizont, sie sind nicht schlechter, vielleicht sogar besser.“ 
Was derzeit noch fehlt – und das kritisierte auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in seiner Stellungnahme zum Zusatznutzen von Erenumab – sind vergleichbare Studien mit den bisherigen Prophylaktika. Einen beträchtlichen Zusatznutzen sieht das IQWiG bei Erenumab folglich nur im Vergleich zu „best supportive care“.

Derzeit gibt es folglich keinen direkten Vergleich mit bisherigen Prophylaktika, laut Bendas rekrutiert Novartis jedoch gerade Patienten für eine Head-to-Head-Studie von Erenumab gegen Topiramat.

Auch die Erstattung wird sicherlich nicht ganz unproblematisch – so kostet Aimovig® 688 Euro für die monatliche Spritze und folglich 100-mal mehr als eine Monatstherapie mit Metoprolol.

Verträglichkeit, Adhärenz: Gewinnbringer bei Migräne-Antikörpern

Bendas Urteil: Er sieht die CGRP- beziehungsweise CGRP-Rezeptor-Antikörper als „völlig neuartiges und kausales Wirkprinzip und als eine hocheffiziente und sehr gut verträgliche Option für die Migräneprophylaxe“. Sie seien effizient, aber hinsichtlich der bisherigen Möglichkeiten „kein Quantensprung“. Wo er vor allem Potenzial sieht und einen hohen Nutzen für den Patienten: Sie haben wenige Nebenwirkungen oder Kontraindikationen. Die monatliche Selbstapplikation verspricht eine hohe Akzeptanz“, so Bendas. „Wir erwarten eine große Adhärenz, und das ist das große Manko in der bisherigen Prophylaxe.“

Dies könnte mit Fremanzeumab sogar noch ein Stück weiter perfektioniert werden: Teva hat Daten für die lediglich vierteljährliche Anwendung und wartet derzeit auf die Zulassung von Ajovy®. In den Vereinigten Staaten gibt es Fremanezumab bereits.

Was muss in die Beratung?

Für die Apotheker hat Bendas noch einfache, doch wichtige Hinweise parat, die bei der Apothekenberatung und der Abgabe von Aimovig®, Emgality® und potenziell bald Ajovy®, nicht fehlen dürfen: „Gelagert werden die Antikörper im Kühlschrank, doch appliziert werden sie bei Raumtemperatur – und der Patient darf sie dafür nicht auf die Heizung legen“, mahnt Bendas. Sonst sollten die Patienten es halten wie James Bond bei seinem Martini: Nicht schütteln, lieber rühren.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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