Interview Klaus Michels (AVWL)

„Es gibt mildere Mittel als das Rx-Versandverbot“

Berlin - 09.08.2019, 17:45 Uhr

Dr. Klaus Michels geht hart ins Gericht mit dem Apotheken-Stärkungsgesetz. Er fordert die Beibehaltung des Rx-Boni-Verbots im Arzneimittelgesetz und das Rx-Versandverbot als ultima ratio. (Foto: AVWL)

Dr. Klaus Michels geht hart ins Gericht mit dem Apotheken-Stärkungsgesetz. Er fordert die Beibehaltung des Rx-Boni-Verbots im Arzneimittelgesetz und das Rx-Versandverbot als ultima ratio. (Foto: AVWL)


DAZ.online hat mit Dr. Klaus Michels, Chef des Apothekerverbandes Westfalen-Lippe, über die aktuelle politische Lage gesprochen. Michels erklärt, warum er das Apothekenstärkungsgesetz kritisiert, warum es „mildere“ Mittel als das Rx-Versandverbot gibt, warum man der Petition zum RxVV aber trotzdem zustimmen sollte und warum ihn das Auftreten von ABDA-Präsident Friedemann Schmidt wundert.

Der Apothekerverband Westfalen-Lippe (AVWL) ist einer der größten Apothekerverbände Deutschlands. In der Region gibt es rund 2000 öffentliche Haupt- und Filial-Apotheken. Der AVWL vertritt die Interessen von knapp 1500 Mitgliedern mit etwa 1900 Apotheken (Organisationsgrad ca. 95 Prozent) und ist Arbeitgeberverband der Apothekeninhaber. Der Vorsitzende Dr. Klaus Michels sieht die Reformpläne der Bundesregierung für den Apothekenmarkt schon seit einiger Zeit kritisch. Der AVWL hatte sich beispielsweise kürzlich mit anderen drei Apotheker-Organisationen in Nordrhein-Westfalen zusammengetan und ein juristisches Gutachten erarbeiten lassen, indem es um die Bedeutung der Gleichpreisigkeit für die gesamte Arzneimittelversorgung geht. Auch die ABDA betrachten Michels und sein Verband derzeit kritisch: Zum Beispiel hatte Michels kürzlich einen langen Brief an ABDA-Präsident Friedemann Schmidt geschrieben, in dem der Verbandschef forderte, dass die ABDA auf die Beibehaltung des Rx-Boni-Verbots in § 78 des Arzneimittelgesetzes beharren soll.

DAZ.online: Herr Michels, das Bundeskabinett hat den Entwurf für ein Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken (VOASG) beschlossen. Sie und die drei anderen NRW-Apothekerorganisationen haben das Vorhaben immer sehr kritisch gesehen. Wieso?

Dr. Klaus Michels: Der Entwurf weist einige positive, weil innovative Ansätze auf. So etwa das Makelverbot von E-Rezepten sowie die Etablierung pharmazeutischer Dienstleistungen. Ungeachtet dessen hat der Gesundheitsminister von Beginn an unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Inhalte des Kabinettsentwurfs nur als Paket verhandelbar seien. Und zu diesem gehört auch die Aufgabe der uneingeschränkten Preisbindung, die meines Erachtens große Gefahren mit sich bringt und grundlegende Fragestellungen berührt. Der Gesetzesentwurf hat darauf keine Antworten zu bieten.

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DAZ.online: ABDA-Präsident Friedemann Schmidt hat kürzlich einen Brief an die Apothekerschaft geschrieben und darin den Kabinettsentwurf als in seiner Gesamtheit und bei realistischer Bewertung als inhaltlich gut bezeichnet. Diese Auffassung teilen Sie also eher nicht?

Dr. Michels: Nein, da bin ich in der Tat dezidiert anderer Auffassung. Die Gleichpreisigkeit sichert eine gerechte, solidarische und durch die medizinische Notwendigkeit bestimmte Arzneimittelversorgung. Sie ist als solches Teil unseres zu recht allseits anerkannten Gesundheitssystems. Neben zum Beispiel dem Fremd- und Mehrbesitzverbot gehört die Gleichpreisigkeit zum Fundament, auf dem die deutsche Vor-Ort-Apotheke ruht. Es sprechen viele gute Gründe dafür, sie als „nicht verhandelbar“ zu betrachten.

DAZ.online: Sie dürfen nicht vergessen, dass das Gesetz Honorarverbesserungen sowie das Makelverbot für E-Rezepte mit sich bringt. Das mindert ihre Sorgen nicht?

Dr. Michels: Strukturen zerschlagen, um kurzfristige Vorteile zu erlangen? Nein! Die Politik mag die Gleichpreisigkeit einseitig zum Verhandlungsgegenstand gemacht haben. Nur: Müssen wir uns dem ergeben? Weil wir sonst fürchten müssen, die Politik oder einzelne ihrer Vertreter könnten nicht mehr mit uns reden? Ich halte es da ganz mit dem neuen BÄK-Präsidenten Dr. Klaus Reinhardt, der in seiner Antrittsrede bezogen auf den Gesundheitsminister in etwa geäußert hat, dass der Minister ja gerne Debatten führe, weswegen er es auch aushalten müsse, dass man ihn für bestimmte Dinge kritisiere. Und selbst die Apothekerschaft hat sich anfangs ganz in diesem Sinne selbstbewusst gegenüber der Politik verhalten. Allen voran forderte damals Präsident Schmidt als Reaktion auf den EuGH ein Rx-Versand­verbot. Und zur Unterstützung der Forderung holte man sogar drei Gutachten namhafter Rechtswissenschaftler ein. Beinahe wäre daraus sogar was geworden.

Michels: Bühler-Petition trotzdem unterstützen

DAZ.online: Das Verbot scheint aus Ihrer Sicht also nach wie vor eine sinnvolle Option zu sein. Warum unterstützen Sie dann nicht öffentlich die Petition des Pharmaziestudenten Benedikt Bühler?

Dr. Michels: Ich halte das Verbot zum jetzigen Zeitpunkt für den nur zweitbesten Weg, denn es gibt ein „milderes Mittel“, um das zu erreichen, worum es hier alleinig geht: die Wiederherstellung der Gleichpreisigkeit. Der Begriff des „Verbotes“ ist zudem negativ konnotiert und spielt all denen in die Hände, die das berechtigte Anliegen der Preisbindung desavouieren wollen. Aber die Petition ist trotzdem zu unterstützten, weil ihr Scheitern dahingehend missinterpretiert werden würde, das Stimmungsbild in der Apothekerschaft sei gekippt und man stelle sich nun voll und ganz hinter den Kabinettsentwurf, habe sich mit diesem zumindest aber abgefunden. Das darf nicht passieren.

DAZ.online: Was wäre denn das „mildere Mittel“?

Dr. Michels: Eine erneute Vorlage durch ein deutsches Gericht an den EuGH mit dem Ziel, gestützt auf ergänzenden, diesmal vor allen Dingen vollständigen Tatsachenvortrag, einer Revidierung des Urteils, um damit eine Rückkehr zur Rechtslage vor der Entscheidung des EuGH vom 19. Oktober 2016 zu erreichen, sprich die Geltung des § 78 Absatz 1 Satz 4 AMG wiederherzustellen.

Zur Person

Seit Ende 1988 ist Michels Inhaber der Rats-Apotheke in Salzkotten. Ende 1991 wird er erstmals als Beisitzer zum Mitglied des AVWL-Vorstandes gewählt. Die Beziehungen zu den Krankenkassen mit all ihren vertraglichen Verästelungen wird sein berufspolitisches Aufgabenfeld. Ende 1994 wird er in den entsprechenden Arbeitskreis des Deutschen Apothekerverbandes (DAV) entsandt. Mit seiner Wahl zum Stellvertretenden Vorsitzenden des Apothekerverbandes Ende 1999 übernimmt Dr. Michels die Verantwortung für die Vertragsverhandlungen mit den Krankenkassen und sonstigen Kostenträgern in Westfalen-Lippe. 2007 erreicht er mit seiner Wahl zum Vorstandsvorsitzenden des AVWL schließlich die höchste Plattform der landesweiten Berufspolitik. Es dauert nicht lange, bis der DAV auf ihn aufmerksam wird und ihn in die Arbeitsgruppe Hilfsmittel beruft, die den Vertragsausschuss des DAV berät und bei Verhandlungen unterstützt. Er gehört dem Vorstand des DAV sowie dem Gesamtvorstand der ABDA nunmehr seit über 11 Jahren an. Seit 2016 ist er auch Vorsitzender der Verhandlungskommission des Deutschen Apothekerverbands. In dieser Funktion war Michels beispielsweise zuletzt an den Verhandlungen zum neuen Rahmenvertrag beteiligt.

DAZ.online: Besitzt denn eine solche erneute Vorlage an den EuGH überhaupt realistische Aussichten?

Dr. Michels: Es ist nicht so, dass es nur die Möglichkeit zwischen einem Versandhandelsverbot und dem Kabinettsentwurf aus dem Hause Spahn gibt. Eine solche Schwarz-Weiß-Malerei, wie sie auch der bereits erwähnte Brief des ABDA-Präsidenten beinhaltet, bringt uns weder weiter noch scheint sie mir mit Blick auf den Auftrag politischer Standesvertretung zielführend. Was eine erneute Vorlage an den EuGH anbelangt, so halte ich eine solche für alles andere als aussichtslos: Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 19. Oktober 2016 mehrfach die Lückenhaftigkeit des Tatsachenvortrages bemängelt. Das Fehlen entsprechender Feststellungen kann in einem erneuten Verfahren jedoch ohne weiteres nachgeholt werden, wie der BGH seitdem in mehreren Entscheidungen betont hat. Zudem hat der BGH in ungewöhnlich deutlicher Weise angemerkt, dass bezogen auf die Regelung der Preisbindung im AMG von einer nationalstaatlichen Gesetzgebungskompetenz auszugehen und diese seitens der EU auch zu wahren ist. Die Ausführungen des BGH lassen erkennen, dass er durchaus große Sympathien für ein erneutes Vorabentscheidungsverfahren hätte. Und selbst das Bundesverfassungsgericht hat im Nachgang zum EuGH und unter anderem in Auseinandersetzung mit der Begründung der EU-Kommission aus dem Jahr 2013 zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens anklingen lassen, dass es die bisherige höchstrichterliche deutsche Rechtsprechung zur Arzneimittelpreisbindung keineswegs für europarechtswidrig hält. Hinzu kommen neue rechtliche Aspekte wie etwa die Notwendigkeit eines „europarechtlichen Abgleichs“ zwischen den Rechtsfolgen des harmonisierten Heilmittelwerberechts und den Regeln des Arzneimittelpreisrechts. Diese Aspekte wären über eine entsprechende Formulierung der sogenannten Vorlagefrage in ein neues Verfahren einzubinden. Im Vorfeld der Entscheidung vom 19. Oktober 2016 wurde zudem versäumt, die Bedeutung der Gleichpreisigkeit für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems auch politisch zu untermauern. 

DAZ.online: Was meinen Sie genau? Welche größere politische Bedeutung hat die Gleichpreisigkeit im Gesundheitssystem?

Dr. Michels: Von Rabattverträgen über die Patientenzuzahlung bis hin zur Wirtschaftlichkeitsprüfung der Ärzte spielt der einheitliche Abgabepreis eine Rolle. Er ist ein zentraler Baustein im SGB V – aber eben auch darüber hinaus. Insgesamt bin ich mit Blick auf ein eventuelles neues EuGH-Verfahren also durchaus optimistisch, zumal meines Wissens zwei vor Oberlandesgerichten anhängige Verfahren „zur Verfügung stünden“, um zeitnah ein erneutes Vorabentscheidungsersuchen erreichen zu können. Meine Einschätzung teile ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Vorstand ebenso wie mit den Spitzen der anderen drei NRW-Berufsorganisationen. Unsere Auffassung wird zudem durch ein Rechtsgutachten bestätigt. Weitere Experten vertreten die Position so oder so ähnlich. Fakt ist, dass das BMG mit dem VOASG gegenüber der EU-Kommission den argumentativ deutlich steinigeren Weg gewählt hat.

Michels: Das Apotheken-Stärkungsgesetz ist der steinigere Weg

DAZ.online: Warum ist es der „steinigere“ Weg? Das „neue“ Rx-Boni-Verbot soll doch gerade wegen seines neues Regelungsortes im SGB V rechtssicherer sein

Dr. Michels: Allein die Änderung des Regelungsortes ist zunächst einmal nicht mehr als eine juristische Finte. Davon wird sich unter dem Gesichtspunkt der Warenverkehrsfreiheit weder die EU-Kommission mit Blick auf das 2013 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren noch der EuGH, bei dem ebenso gegen die Regelungen des VOASG geklagt würde, beeindrucken lassen. Im Gegenteil: Durch die Streichung des für alle Versicherten geltenden § 78 Absatz 1 Satz 4 AMG zugunsten einer Preisbindungsregelung nur noch für GKV-Versicherte im SGB V würde sich das Argumentarium zur Rechtfertigung der Preisbindung entscheidend verschlechtern. Mit der „Aufgabe“ des gesamten PKV-Bereichs sowie der Selbstzahler im GKV-Bereich gerieten sämtliche Argumente in Wegfall, die an den Unterschied des Arzneimittels zu anderen Waren anknüpfen, so zum Beispiel die Erkenntnis, dass im Bereich von Rx nicht der Preis, sondern die medizinische Notwendigkeit die Nachfrage bestimmt. Auch der Aspekt der Sicherstellung einer bundesweiten Versorgungsgerechtigkeit ist kaum mehr überzeugend vorzutragen. Warum sollten privat Versicherte an dieser Gerechtigkeit nicht teilhaben dürfen, zumal eine solche Konsequenz auch verfassungsrechtlich problematisch erscheint? Und schließlich kommt auch der Gewährleistung eines flächendeckenden Versorgungsnetzes allenfalls noch ein bedingt rechtfertigender Charakter zu, denn für einen nicht unerheblichen Anteil der Bevölkerung würde sie durch die Freigabe der Preise ja gerade in Abrede gestellt.

DAZ.online: Was ist dann jetzt zu tun?

Dr. Michels: Zunächst einmal möchte ich – salopp formuliert – ein Spiel nicht verloren geben, bevor es überhaupt angepfiffen worden ist. Das wäre mit einer Umsetzung des VOASG jedoch der Fall, denn die für eine erneute Vorlage an den EuGH streitentscheidende Norm, § 78 Absatz 1 Satz 4 AMG, würde dann gestrichen. Erstens müssen wir der Politik also klar machen, dass eine Beibehaltung statt eine Streichung der einfachere Weg wäre, denn es bedürfte insoweit keiner gesetzgeberischen Initiative, sondern nur eines aktiven Bekenntnisses zu der Norm, die dieselbe Koalition aus guten Gründen, nämlich als Folge der höchstrichterlichen deutschen Rechtsprechung Ende 2012 erst eingefügt hat. Zweitens muss die nahezu schon groteske Situation verdeutlicht werden: Der Kabinettsentwurf wird nicht nur nicht dem erklärten Gesetzesziel einer europarechtskonformen Stärkung der Vor-Ort-Apotheke gerecht, sondern er läuft diesem geradezu zuwider, denn er schwächt eben die Verteidigung der Preisbindung in Deutschland entscheidend. Wenn dann ja nicht noch Schlimmeres zu befürchten wäre, müsste man fast darauf hoffen, dass die durch den Minister zwischenzeitlich befasste EU-Kommission den Kabinettsentwurf ablehnt. Und drittens scheint es mir dringend geboten, der Politik vor Augen zu führen, dass eine Umsetzung des VOASG ein Spiel mit dem Feuer bedeutet.

Michels: Es steht viel mehr auf dem Spiel

DAZ.online: Warum?

Dr. Michels: Sollte das VOASG so umgesetzt werden, werden wir zunächst einmal in der PKV und bei Selbstzahlern nicht niedrigere, sondern höhere Preise erleben. Nicht medizinische Notwendigkeit bestimmt dann die Versorgung, sondern der Preiswettbewerb, angefeuert durch Marktphänomene wie z.B. Lieferengpässe, was eine Zäsur in der deutschen Gesundheitsversorgung bedeutet. Insoweit empfehle ich die Lektüre der Stellungnahme des PKV-Verbandes zum Gesetzesentwurf. Ebenso gilt dies für die Stellungnahmen der Verbände BPI und BAH, die den Gesetzesentwurf ebenfalls ablehnen. Auch die Negativ-Analyse des Phagro trifft zu: Die Transplantation der Preisbindung in das SGB V erfasst nur das Verhältnis der Apotheke zum Patienten. Auf den vorgelagerten Handelsstufen fehlt die Preisbindung, ausländische Hersteller und Großhändler treten also einseitig in Preiswettbewerb zu den inländischen Marktteilnehmern. Bestätigt wird diese Auffassung durch eine aktuelle Entscheidung des OLG Düsseldorf, wonach sogar inländische Hersteller bei der Belieferung ausländischer Versender mit Rx-Arzneimitteln, die auch den deutschen Markt beliefern, nicht an den einheitlichen Herstellerabgabepreis gebunden sind. Mit alldem sind weitere, bislang ungeklärte Fragen verbunden. So etwa, wie die Apotheke nicht preisgebundene Einkäufe aus dem Ausland verbuchen muss und ob sie diese dann nur an PKV-Patienten abgeben darf. Wir werden eine Erosion des Preissystems erleben, an deren Ende selbst die umgesetzten Regelungen des VOASG als europarechtswidrig ausgehebelt werden. Damit wäre das für die deutsche Arzneimittelversorgung unverzichtbare Fundament betroffen. Der Fall weiterer Regelungen wie das Fremd- und Mehrbesitzverbot und die Pflicht zur persönlichen Apotheken-Führung verbunden mit einer entsprechenden Haftung ist dann nur eine Frage der Zeit. Denn dem inländischen Rechtfertigungsdruck kann mit Blick auf die Nichtgeltung dieser Regelungen für die ausländischen, fremdkapitalgesteuerten Versender kaum dauerhaft Stand gehalten werden. Damit ist der Freie (Heil-)Beruf als solches betroffen und darüber hinaus „die Systemfrage“ gestellt. Das Spiel mit dem Feuer hat damit sogar das Potenzial eines Flächenbrandes für unser Gesundheitssystem.

DAZ.online: Dann bliebe ja aber noch die Forderung nach einem Versandhandelsverbot – eine Handlungsoption, die sich auch Präsident Schmidt offen hält. 

Dr. Michels: Wie gesagt: Wird das VOASG in seiner jetzigen Fassung umgesetzt, dann muss ebenso mit einer unverzüglichen Klage gerechnet werden. Scheitern die Regelungen aber vor dem EuGH, dann ist die Forderung nach einem Versandhandelsverbot kaum noch begründbar. Anders sähe ich das für den Fall des Scheiterns eines erneuten Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH auf Grundlage des § 78 Absatz 1 Satz 4 AMG, denn dann wäre die Forderung eines Versandhandelsverbotes als ultima ratio stringent. Was die angesprochene Handlungsoption des ABDA-Präsidenten anbelangt, so halte ich seine Äußerungen dazu – wie vieles andere in der bisherigen ABDA-Kommunikation auch – für widersprüchlich: Es kann kaum eine ernstgemeinte Handlungsoption sein, wenn sich der Präsident an anderer Stelle äußert, dass ein Versandhandelsverbot für jüngere Generationen nicht mehr vorstellbar sei, weil der Online-Handel einfach zum Alltag dazu gehöre. Eine solche Einschätzung bedeutet vielmehr die endgültige Aufgabe dieser Forderung. Am Ende bin ich davon überzeugt, dass wir an einem Wendepunkt stehen, an dem die Politik sich entscheiden muss, ob sie an dem bewähren System der Gesundheitsversorgung in unserem Land festhalten oder aber diesen Lebensbereich denselben Mechanismen unterwerfen will, wie dem allgemeinen Konsum. Zu letzterem passen Rabattschlachten, Black-Friday-Angebote, Onlineplattformen, Multi-Channel- und sonstige Marketingstrategien wie man sie bei Amazon, Zalando, DocMorris & Co. beobachten kann. Der Gesundheitsbereich verträgt so etwas nicht, jedenfalls nicht ohne klare Schranken und Regulative. Sollte die Politik grundsätzlich an dem Bewährten festhalten wollen, dann muss sie erkennen, dass sie das System – auch gegenüber dieser oder jener Bestrebung aus der EU – schützen und, wenn nötig, sogar verteidigen muss.



Benjamin Rohrer, Chefredakteur DAZ.online
brohrer@daz.online


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10 Kommentare

Er kam in weiß und er kam leider zu spät !

von Ulrich Ströh am 10.08.2019 um 9:49 Uhr

Kollege Michels hat alles treffend analysiert.

Aber es bleibt, wie es ist:
Apotheker*innen sind Weltmeister in der Analyse.

Nur in der Umsetzung dieser Ideen hapert es massiv !

Herr Michels: Was setzen Sie auf der nächsten ABDA-Mitgliederversammlung in Berlin davon um ?

» Auf diesen Kommentar antworten | 2 Antworten

AW: Er kam in weiß und er kam leider zu spät !

von Ulrich Ströh am 10.08.2019 um 10:16 Uhr

Oder können Sie die Diskussion darüber schon auf dem nächsten Apothekertag im September in Düsseldorf anstoßen?

AW: Er kam in weiß und er kam leider zu sp

von Anita Peter am 10.08.2019 um 10:48 Uhr

Die Streichung der PB in der AMPreisV ist durch. Der Systembruch kommt. Das ist der Plan von Spahn. Abgesegnet von der ABDA.
Ein RXVV wäre rechtssicher ( sagt sogar der wissenschaftliche Dienst des Bundestages ). Das ist nur nicht kompatibel mit dem gewünschten Systemwechsel.
5-10 TSD vor Ort Apos reichen Spahn. Den Rest übernimmt dankend sein Freund Max.

Jawoll !!

von Uwe Hansmann am 10.08.2019 um 9:43 Uhr

Als langjähriger Mitstreiter von Klaus Michels in der berufspolitischen "Berliner Welt" kann ich ihm an dieser Stelle nur "DANKE" sagen.
Lieber Klaus, diese schonungslose Analyse an prominenter Stelle war mehr als überfällig!

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Milderer Mittelweg oder Stillstand durch Stau?

von Christian Timme am 10.08.2019 um 3:09 Uhr

Fundierte Darstellung, Analyse, Bewertung und das Aufzeigen von Lösungswegen ... dieses Interview zeigt ... er gibt noch Personen mit Potential in der Apothekerschaft. Ein Standortwechsel von Herrn Dr. Michels nach Berlin ... könnte den „aktuellen Murks-Stau“ und diese „Sommerloch-Ausflüge“ beenden ... und neue Wege ebnen ...

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Hut ab!

von Pillendreherin_1978 am 09.08.2019 um 21:15 Uhr

Entgegen der beiden vorherigen Kommentare möchte ich sagen: Chapeau!

Endlich mal jemand, der das „Big Picture“ liefert und die gesamte berufspolitische Situation pointiert darlegt!

Wer hier schreibt, hier wolle jemand die Karriereleiter heraufklettern (???!!!!), der hat wohl offensichtlich nicht(!) verstanden, dass die berufspolitische Spitze hier nicht ganz ohne „Affront“ davonkommt – ganz im Gegenteil:
Zu behaupten, die Aussagen der ABDA-Spitze seien widersprüchlich, befördert den Verfasser wohl wahrscheinlich eher weniger …

Endlich wird unsere brisante Situation mal von allen Seiten beleuchtet und nicht nur irgendein Statement herausposaunt oder eine kleine Malaise erwähnt.

Wir müssen diese große Kalamität (= Störung der planmäßigen Bewirtschaftung) endlich erkennen und beenden!
Wir können nur hoffen, dass diese Stellungnahme durch den Kreis der Interessierten und durch Öffentlichkeitsarbeit bis zu den Entscheidern vordringt und dort endlich gesehen wird, dass es sich in dieser Hinsicht tatsächlich um eine „Systemfrage“ handelt!
… Nicht um eine Einschränkung freien "Waren"verkehrs, nicht um willkommene Einsparungen irgendwelcher Systeme...

- „Strukturen zerschlagen, um kurzfristige Vorteile zu erlangen?“
- „Die Gleichpreisigkeit sichert eine gerechte, solidarische und durch die medizinische Notwendigkeit bestimmte Arzneimittelversorgung. Sie ist als solches Teil unseres zu recht allseits anerkannten Gesundheitssystems.“
- „… die Bedeutung der Gleichpreisigkeit für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems“
- „… von Rabattverträgen über die Patientenzuzahlung bis hin zur Wirtschaftlichkeitsprüfung der Ärzte spielt der einheitliche Abgabepreis eine Rolle. Er ist ein zentraler Baustein im SGB V“
- „Gewährleistung eines flächendeckenden Versorgungsnetzes“
- „Nicht medizinische Notwendigkeit bestimmt dann die Versorgung, sondern der Preiswettbewerb, angefeuert durch Marktphänomene

Ja! Genau das trifft des Pudels Kern!

Würde bedeuten:
Preiskampf nach oben,
Ausnutzen von Defekten,
vorgelagerte Preisschlachten,
Zustände wie auf dem Basar,
die radikale Zerstörung des freien Berufes!

Und all das unser höchstes Gut betreffend?!
Na, dann „Gute Nacht, Marie“!

Dieser Beitrag hat es tatsächlich noch einmal (oder sogar erstmals?!?) auf den Punkt gebracht, für all diejenigen, bei denen der Groschen (immer noch) nicht gefallen ist:

"Die Systemfrage(!!!!) ist gestellt!!“:

Löscht den Flächenbrand!

Dies mit dem „milderen“ Mittel voranzutreiben?
Gar nicht so dumm!

Ergo: Wiederherstellung der Geltung des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG! - Und zwar für alle, Herr Spahn: GKV- und Privatversicherte!

Den Versandhandel in Gänze zu verbieten, ist tatsächlich gar nicht zwingend notwendig, aber Arzneimittelversorgung (Arzneimittel ungleich „Ware“, liebe EU) bitte schön zu gleichen Voraussetzungen!

Dem gegenüber können wir uns wohl behaupten! (Stichwort: Notdienst, persönlicher Händedruck, Rezepturen, BtM etc.)

– Stellt Euer Licht nicht unter den Scheffel und bejammert uns nicht ständig selbst, diese Larmoyanz hält ja niemand aus…

Dieser Beitrag ist ein guter Aufhänger! Danke!

» Auf diesen Kommentar antworten | 2 Antworten

AW: Hut ab

von Anita Peter am 10.08.2019 um 5:45 Uhr

Der Systemwechsel hat mit Spahn schon längst begonnen, und die ABDA hat ihn akzeptiert. Kampflos.

AW: Hut ab

von Roland Mückschel am 10.08.2019 um 11:04 Uhr

In wessen Auftrag schreiben Sie, LAV-Helau?
Sogar Herr Timme, den ich sonst oft nicht verstehe,
ist genau dieser Meinung.
Jedes Mal wenn ich von Herrn Michels lese hat er
eine um ein paar Grad gedrehte Meinung. Bald dürfte
er die Runde geschafft haben.

Milde Mittel

von Roland Mückschel am 09.08.2019 um 17:53 Uhr

Wissen Sie überhaupt was Sie genau wollen?
Also ohne die Karriereleiter nach oben?

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Milde Mittel

von Landapotheker am 09.08.2019 um 18:35 Uhr

Ich will ja keinem Unrecht tun, aber ich sehe es auch so das sich jemand in Stellung bringt ;-).

soweit ich informiert bin , lässt die Politik seit Jahren die Anfragen der deutschen Gerichte zur Wiedervorlage verhungern = Politik will ums Verecken kein RxVV (jedenfalls mehrheitlich nicht).

Dazu kommt das fast alle Juristen vor dem EUGH-Urteil tiefenentspannt waren und nun Gutachten schreiben in denen Sie 100% sicher sind.

Frag zu SGBV 3 Juristen und du bekommst 4 Meinungen.
Beklagt wird sowieso jede Regelung. entweder von den Auslandsversendern oder den Inlandsversendern.

verhandelbar/ nicht verhandelbar lol

Spahn sagt ic h will 51 % an der Gematik und fertig.
Der kann usn zuhören und das macht er. Er kann in vielen Punkten auf uns zugehen, das macht er auch,
Aber er sieht wie viele Juristen ein RxVV 15 Jahre nach der Versandfreigabe nicht juristisch haltbar.

Auch der Paragraph im AMG hat keinerlei Mehrheit mehr in der Politik.

Das kann man bedauern, das finden alle auch richtig Scheisse. Aber aufs Scheitern zu hoffen und unter grün/rot/gelb oder grün/Schwarz etwas besseres zu erwarten ......mutiger Ansatz .
Was unter einem vernünftigen Minister nicht klappt und mit Spahn unmöglich ist, soll dann besser vorm EUGH vertreten werden ?!?!

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