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Als Nahrungsergänzungsmittel deklariert
Landratsamt warnt vor Defekturen aus schwäbischer Apotheke
Selbst hergestellte Procain- und „Roter-Reisschalen-Extrakt“- Kapseln aus der St. Martins-Apotheke in Jettingen-Scheppach sollen nicht eingenommen werden. Dazu ruft das Landratsamt Günzburg seit dem gestrigen Dienstag auf. Eine Abgabe der Präparate über die Rathausapotheke (Jettingen-Scheppach) und die Stauden-Apotheke (Langenneufnach) könne ebenfalls nicht ausgeschlossen werden. Die Kapseln werden aufgrund ihrer Dosierung als gesundheitlich bedenklich eingestuft. Von der Einnahme anderer in den drei Apotheken selbst hergestellten Arzneimittel wird – aufgrund der vorgefundenen Herstellungsbedingungen – ebenso vorsorglich abgeraten.
Von der am 3. September 2019 vom Landratsamt Günzburg herausgegebenen Warnung sind ausdrücklich keine Fertigarzneimittel betroffen. Kunden der St. Martins Apotheke und Rathaus Apotheke aus Jettingen-Scheppach sowie der Stauden-Apotheke aus Langenneufnach werden lediglich gebeten, „noch vorhandene, in den Apotheken selbst hergestellte (Defekturarzneimittel) bei der nächstgelegenen Polizeidienststelle abzugeben. Sollten bereits gesundheitliche Beschwerden durch eine etwaige Einnahme aufgetreten sein, soll der Hausarzt kontaktiert werden.
Konkret geht es um:
- Procain (Inhalt lt. Deklaration: Procain HCl 200 mg, Natriumascorbat ad 400 mg), Inhalt: 100 Kapseln, Datum: 04. Oktober 2018, EXP. 12/20, Ch.-Nr.: 334855
- Roter Reisschalenextrakt, (Inhalt lt. Deklaration: Roter Reisschalenextrakt 300 mg), Inhalt: 90 Kapseln, Datum: 28. Juni 2019, EXP. 07/21, Ch.-Nr.: 342365
Die Produkte wurden in blauen Plastikdosen mit Deckel und gelber Etikettierung (in seltenen Fällen auch weiße Etikettierung) an den Verbraucher abgegeben und sollen nicht eingenommen werden. Das Landratsamt wurde laut einem Bericht der Augsburger Allgemeinen Zeitung nach Hinweisen aus der Bevölkerung aktiv.
Durchsuchungen bereits im Juli
Wie die Pressestelle beim Polizeipräsidium Schwaben Süd/West mitteilt, hatte es bereits im Juli 2019 Durchsuchungen in den drei betroffenen Apotheken und in Privatanwesen durch die Kriminalpolizeiinspektion Neu-Ulm sowie das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) gegeben. Dabei wurden größere Mengen an Ausgangssubstanzen, Verpackungsmaterialien, Endprodukte sowie entsprechende Daten als Beweismittel sichergestellt.
Auch im Online-Handel vertrieben?
Es bestehe der Verdacht, „dass die tatverdächtigen Apotheker aus dem südlichen Landkreis Augsburg sowie aus dem östlichen Landkreis Günzburg über drei Apotheken in den Landkreisen sowie über einen Online-Handel selbst hergestellte Produkte illegal und falsch beworben an ahnungslose Verbraucher verkauft haben.“ Es solle sich nicht, wie beworben, um Nahrungsergänzungsmittel handeln, sondern um Produkte, die unter das Arzneimittelgesetz fallen. Für deren Herstellung liege weder eine Genehmigung vor, noch seien entsprechende Vorschriften bei der Herstellung eingehalten worden. Die Polizei scheint davon auszugehen, dass die Arzneimittel im Rahmen der Defektur hergestellt wurden.
Defekturarzneimittel oder Nahrungsergänzungsmittel? Gefährlich oder unwirksam?
Ein Defekturarzneimittel ist ein Arzneimittel, das im Rahmen des üblichen Apothekenbetriebs im Voraus an einem Tag in bis zu hundert abgabefertigen Packungen oder in einer diesen entsprechenden Menge hergestellt wird (§ 1a Absatz 9 der Apothekenbetriebsordnung). Auch vor der Defekturherstellung muss nach § 8 ApBetrO zunächst eine Herstellungsanweisung und darüber hinaus eine Prüfanweisung verfasst werden. Allerdings gibt es für Defekturarzneimittel nach § 21 Absatz 2 des Arzneimittelgesetzes (AMG) eine Ausnahme von der Zulassungspflicht. Bedingung ist jedoch eine häufige ärztliche oder zahnärztliche Verschreibung und die Herstellung „im Rahmen des üblichen Apothekenbetriebs“.
Das LGL ist laut Polizei derzeit noch mit der Erstellung von Gutachten zu rund 60 entnommenen Produktproben betraut: „Hierbei musste jedoch bereits zum jetzigen Zeitpunkt festgestellt werden, dass zwei Produkte aufgrund ihrer festgestellten Substanzzusammensetzung durch das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) als gesundheitlich bedenklich eingestuft wurden“, heißt es. Deshalb wird nun vor den Procain- und „Roter-Reisschalen-Extrakt“- Kapseln gewarnt. Die umfangreichen Ermittlungen sollen noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Inhaber: Wirkstoffe nicht verschreibungspflichtig – stimmt das?
Wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtet, handelt es sich bei den drei beschuldigten schwäbischen Apothekern um zwei Männer und eine Frau. Die Augsburger Allgemeine berichtet, dass es sich um ein Ehepaar und den Schwager des Inhabers der Martins-Apotheke handle.
Die Augsburger Allgemeine hat auch mit dem Inhaber der St. Martins-Apotheke gesprochen. Der Pharmazeut hat demnach erklärt, weder das Procain- noch das „Roter Reis Schalenextrakt“-Präparat seien verschreibungspflichtig. Er sei angehalten, derzeit Mittel nicht mehr nach eigenen Rezepturen herzustellen, schreibt die Augsburger Allgemeine. Der Inhaber habe aber keine Information, was ihm konkret vorgeworfen werde: „Ich kann nur abwarten“, sagte er gegenüber der Zeitung. „Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht sind es auch Fehler in der Deklaration. Aber das ist nur eine Vermutung.“ Und weiter: „Das wird sehr geschäftsschädigend sein. Bei mir hängt das aus, jeder liest das in der Zeitung.“ Er habe einen Rechtsanwalt mit der Angelegenheit betraut.
Die Wirkstoffe – eine Einordnung
Ein Blick in die „Arzneimittelverschreibungsverordnung – AMVV“ verrät allerdings, dass Procain sehr wohl unter die Verschreibungspflicht fällt, wenn es oral eingenommen wird. Mancher Apotheker wundert sich wahrscheinlich ohnehin, warum man Procain überhaupt oral einnehmen sollte. Eine Suche in der Lauer-Taxe ergibt keine oralen Darreichungsformen. Die orale Einnahme erscheint bei einem Lokalanästhetikum auch nicht sinnvoll.
Procainamid wird hingegen als Antiarrhythmikum der Klasse IA eingesetzt, laut Lauer-Taxe ist es aber nur noch in Ampullen in Spanien im Handel. Gegenüber der Augsburger Allgemeinen gab der beschuldigte Apotheker an, Procain sei früher als Mittel zum Einsatz gekommen, das den Kreislauf anregen soll. 1979 titelte hingegen der Spiegel zu vermeintlichen Geriatrika mit dem Wirkstoff Procain: „Saft ohne Kraft“.
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„Roter Reis“ (Rotschimmelreis) sollte Apothekern hingegen noch präsenter sein als Procain. 2016 warnte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vor „Red Rice-Nahrungsergänzungsmitteln“: Produkte ab einer Tagesdosis von 5 mg Monakolin K seien als Arzneimittel einzustufen, hieß es damals. Monakolin K ist identisch mit dem Wirkstoff Lovastatin, der in zugelassenen und verschreibungspflichtigen Fertigarzneimitteln zur Senkung des Cholesterinspiegels enthalten ist. Daher können Zubereitungen mit Rotem Reis die gleiche Wirkung entfalten wie Arzneimittel mit Lovastatin.
Allerdings wird im konkreten Fall nicht ganz klar benannt, um welche Art Roten Reis es sich handelt: Wie in der DAZ 45/2018 zu lesen war, darf Rotschimmelreis nicht mit rotschaligem Reis (sog. „Carmargue-Reis“) verwechselt werden, bei dem es sich um eine relativ neue Züchtung aus einer wilden Reissorte handelt. Rotschimmelreis dagegen entsteht, indem handelsüblicher weißer Reis (Oryza sativa) mit Schimmelpilzen der Gattung Monascus „beimpft“ wird. Bei der einsetzenden Fermentation entsteht neben rotem Farbstoff auch Monakolin K.
Der beschuldigte Apotheker sagte der Augsburger Allgemeinen, aus den Schalen des Roten Reises seien Wirkstoffe extrahiert worden, die einen positiven Einfluss auf den Fettstoffwechsel haben können.
Ein Problem, dass sich bei Nahrungergänzungsmitteln grundsätzlich ergibt, wird in dem Text aus der DAZ 45/2018 ebenso dargestellt: Für die Marktrücknahme von Nahrungsergänzungsmitteln sind nicht Bundesbehörden wie BVL und BfArM zuständig sind, sondern die Lebensmittelüberwachungsbehörden der einzelnen Bundesländer. „Damit diese eingreifen können, müssen die im Markt befindlichen Monakolin-K-haltigen Rotschimmelreis-Präparate zunächst von der Arzneimittelüberwachungsbehörde des Bundeslandes, in dem der jeweilige Hersteller bzw. Vertreiber seinen Sitz hat, im Rahmen einer Einzelfallentscheidung als Arzneimittel eingestuft werden. Bis zur endgültigen Klärung des Sachverhalts können die Präparate weiter vertrieben werden. Diese Situation zeigt ein erhebliches regulatorisches Defizit, das zu gut dokumentierten Gesundheitsrisiken in der Bevölkerung führt.“
2 Kommentare
Kapseln aus der St. Martins-Apotheke
von Stephanie Bor am 25.09.2019 um 14:48 Uhr
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Schwäbische Defekturen
von Roland Mückschel am 04.09.2019 um 17:01 Uhr
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