Schadenersatzklage in den USA

Gynäkomastie unter Risperidon – eine Überraschung?

Stuttgart - 17.10.2019, 17:50 Uhr

Hat Johnson & Johnson Ärzte tatsächlich nicht umfassend über die Nebenwirkungen von Risperdal, einem atypischen Neuroleptikum mit dem Wirkstoff Risperidon, informiert? Das wirft ein junger Mann dem Konzern vor. ( r / Foto: Stockfotos-MG/stock.adobe.com)

Hat Johnson & Johnson Ärzte tatsächlich nicht umfassend über die Nebenwirkungen von Risperdal, einem atypischen Neuroleptikum mit dem Wirkstoff Risperidon, informiert? Das wirft ein junger Mann dem Konzern vor. ( r / Foto: Stockfotos-MG/stock.adobe.com)


Vergangene Woche wurde einem jungen Mann ein Schadenersatz von 8 Milliarden Dollar (7,3 Mrd. Euro) zugesprochen. Verklagt hatte er den Pharmakonzern Johnson & Johnson (J&J), dem vorgeworfen wird, verschwiegen zu haben, dass beim Antipsychotikum Risperdal (Risperidon) Gynäkomastie als Nebenwirkung auftreten kann. Doch verursacht der Wirkstoff diese Nebenwirkung überhaupt und machen das alle Antipsychotika gleichermaßen?

Hat Johnson & Johnson Ärzte tatsächlich nicht umfassend über die Nebenwirkungen von Risperdal, einem atypischen Neuroleptikum mit dem Wirkstoff Risperidon, informiert? Eine Geschworenenjury war der Ansicht, das sei nicht der Fall gewesen und sprach einem Kläger deswegen vergangene Woche in Philadelphia Schadenersatz von in Höhe von 8 Milliarden Dollar (7,3 Milliarden Euro) zu. Der Mann, der heute 26 Jahre alt ist, hatte das Arzneimittel im Alter von neun Jahren off-Label verschrieben bekommen. Es sollte gegen Schlafstörungen helfen, an denen er im Zusammenhang mit Autismus litt. Bei ihm war aber eine Gynäkomastie aufgetreten. Über dieses Risiko sah sich der Kläger nicht ausreichend informiert. Johnson & Johnson hingegen bezeichnete das Urteil als „in grober Weise unangemessen“ und kündigte an, es anzufechten. Die Anwälte des Klägers hätten nicht bewiesen, dass die Probleme wirklich auf das Medikament zurückzuführen sind, kritisierte der Pharmakonzern unter anderem.

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Hyperprolaktinämie verursachen alle klassischen und einige atypische Antipsychotika

Diesen Beweis endgültig zu erbringen, wird wohl kaum gelingen. Allerdings gibt es gute Evidenz dafür, dass das Antipsychotikum für die Vergrößerung des Drüsengewebes an der Brust verantwortlich sein könnte, was der Gynäkomastie zugrunde liegt. Ursächlich ist eine Erhöhung des Prolaktin-Spiegels und für die sind Antipsychotika bekannt – bei den klassischen gilt das für alle. Aber auch einige der atypischen, darunter neben Amisulprid auch Risperidon und dessen aktiver Hauptmetabolit Paliperidon sowie Olanzapin, verursachen eine Gynäkomastie, aber nur zu Beginn der Behandlung. Diese Wirkstoffe haben eine ausgeprägte Blockade der D2-Dopamin-Rezeptoren gemeinsam. Die ist maßgeblich verantwortlich für die antipsychotische Wirkung, aber eben auch für Nebenwirkungen, wie die bei den Antipsychotika gefürchteten extrapyramidal-motorischen Störungen (EPMS), aber eben auch die Hyperprolaktinämie. Über viele Jahre hinweg galt gar der Grundsatz, dass eine gute antipsychotische Wirkung unweigerlich mit diesen beiden unerwünschten Wirkungen verknüpft sein muss. Lange Zeit war Clozapin das einzige Antipsychotikum, das sich mit diesem Grundsatz nicht vereinbaren ließ – heute kennt man auch einige andere.

Zusammenhang zwischen Dopamin und Prolaktin

Doch zurück zum Prolaktin: Prolaktin ist ein aus 198 Aminosäuren bestehendes Polypeptidhormon, das in den laktotrophen Zellen des Hypophysenvorderlappens gebildet wird. Strukturell ähnelt es dem Somatotropin. Die Prolaktin-Sekretion unterliegt bei Männern und Frauen einer zirkadianen Rhythmik mit maximalen Spiegeln während des Non-Rapid-Eye-Movement(NREM)-Schlafs. Der Serumspiegel liegt bei Frauen etwa 1,5-mal höher als bei Männern und nimmt während der Schwangerschaft, Stillzeit und unter Stress zu. Prolaktin hat direkte Wirkungen auf die Milchbildung und Vergrößerung der Brustdrüsen sowie indirekte. Prolaktin hemmt die Sekretion von GnRH (Gonadotropin Releasing Hormone) und dadurch die pulsatile Freisetzung von FSH (Follikel-stimulierendes Hormon) und LH (Luteinisierungshormon) und folglich den Eisprung. Deswegen können stillende Frauen schwerer schwanger werden. Eine physiologische Funktion beim Mann ist bislang nicht bekannt. 

Die Freisetzung von Prolaktin unterliegt wohl dem Zusammenspiel verschiedener körpereigener Substanzen, darunter TRH (Thyreotropin Releasing Hormone), VIP, Angiotensin II, endogene Opioide und Oxytocin. Den „einen“ prolaktinstimulierenden Faktor konnte man bislang nicht nachweisen. Als wesentlicher Kontrollmechanismus gilt die Hemmung der Freisetzung durch Dopamin. Dopaminagonisten werden daher zum Abstillen eingesetzt. Mit der Blockade der Dopamin-Rezeptoren hebelt man diesen Regelmechanismus aus, folglich kommt es zu erhöhten Prolaktinspiegeln, die dann zu Galaktorrhoe und bei Männern zu Gynäkomastie führen können. Dazu kommen die indirekten Wirkungen über die Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse, zum Beispiel Zyklusstörungen oder Infertilität. Hyperprolaktinämie bei herkömmlichen Antipsychotika und vielen neuen Atypika ist häufig – unter herkömmlichen Antipsychotika finden sich Prävalenzraten von 30-40 Prozent bei Männern und von 60-75 Prozent bei Frauen. Treten bei Patienten prolaktinabhängige Nebenwirkungen auf, erfolgt in der Regel der Wechsel auf ein prolaktinneutrales Antipsychotikum. Dazu zählen Quetiapin, Aripiprazol oder Clozapin.

Inwiefern wusste die Firma über das Risiko Bescheid?

Im Falle des jungen Mannes aus Philadelphia streiten sich die Anwälte, inwiefern die Firma über das Risiko Bescheid wusste und Ärzte und Patienten angemessen informiert hatte. Die Anwälte des Klägers wiesen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass 2002 das Risiko für Gynäkomastie laut Label mit „selten“, also 1 von 1000 Patienten, beziffert wurde. 2006 ging man dann von einem höheren Risiko aus. In der deutschen Fachinformation ist es aktuell mit als häufige unerwünschte Wirkungen (> 1/100) angegeben. In dem Fall hatte eine Jury dem Kläger bereits 2015 eine Entschädigung von 1,75 Milliarden Dollar zugesprochen, die später auf 680.000 Dollar gesenkt wurde. Dabei ging es zunächst aber nur um den regulären Schadenersatz. Nun hatten die Geschworenen über den sogenannten Strafschadenersatz zu befinden, der im US-Recht als Zusatzsanktion in besonders schweren Fällen verhängt werden kann. Hier kommt es immer wieder vor, dass hohe Strafen hinterher von Richtern als unverhältnismäßig betrachtet und verringert werden. Das Unternehmen zeigt sich Medienberichten zufolge auch zuversichtlich, dass die Entscheidung der Jury letztlich keinen Bestand haben wird.



Julia Borsch, Apothekerin, Chefredakteurin DAZ
jborsch@daz.online


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