Substitution bei Opioid-abhängigkeit

Suchtmediziner wollen Sichtbezug in den Apotheken ausweiten

Berlin - 08.06.2020, 14:00 Uhr

Nach einem Bündnis von Suchtexperten könnte der Sichtbezug bei der Substitutionsbehandlung stärker in die Apotheken verlagert werden als bisher, auch über die Coronakrise hinaus. Wichtig dabei: ein angemessenes Honorar für die Pharmazeuten. ( r / Foto: imago images / epd)

Nach einem Bündnis von Suchtexperten könnte der Sichtbezug bei der Substitutionsbehandlung stärker in die Apotheken verlagert werden als bisher, auch über die Coronakrise hinaus. Wichtig dabei: ein angemessenes Honorar für die Pharmazeuten. ( r / Foto: imago images / epd)


Nicht nur die Apotheker wollen möglichst viele ihrer Sonderrechte über die Coronakrise hinausretten: Auch die Suchtmediziner sehen in den Regellockerungen, die Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) für die Substitutionsbehandlung Mitte April per Eilverordnung möglich gemacht hat, eine Chance für die Zukunft. Unter anderem fordern sie, die wohnortnahe Versorgung durch Apotheken stärker zu nutzen.

Mit der SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) den Apothekern in Deutschland zahlreiche neue Rechte eingeräumt. Neben einer Vergütung des Botendiensts ist zum Beispiel auch der Aut-simile-Austausch nach Rücksprache mit dem Arzt vorgesehen. Zugleich schützt der Minister die Pharmazeuten vor Retaxationen, wenn sie wegen der Coronavirus-Pandemie ein anderes als das rabattierte Arzneimittel an gesetzlich Versicherte abgeben. Auch die Versorgung von Patienten, die sich einer Substitutionstherapie bei Opioidabhängigkeit unterziehen, hat Spahn erleichtert.

Die Verordnung war unter den Apothekern auf viel Zustimmung gestoßen. Nicht nur die ABDA begrüßte die befristeten Neuregelungen: Die bisher einzige Kandidatin für die Nachfolge von ABDA-Präsident Friedemann Schmidt, AKWL-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening, kündigte an, möglichst viele Kompetenzerweiterungen für die Apotheker über die Krise hinaus retten zu wollen. Aber auch Schmidt selbst hat inzwischen erklärt, dass die ABDA schon jetzt mit der Politik darüber spreche, die Befristungen der Maßnahmen zu verlängern.

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Und offenbar hat Spahn mit seiner Verordnung auch bei anderen Berufsgruppen einen Nerv getroffen. Die Initiative Substitutionsversorgung opioidabhängiger Patient*innen, an der sich unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin, der Bundesverband der Versorgungsapotheker und die Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht beteiligen, weist in einem Eckpunktepapier zur Lösung der Versorgungskrise darauf hin, dass die Versorgung von Substitutionspatienten bereits unter Normalbedingungen kaum zu schaffen sei.

Die Coronavirus-Pandemie stelle die Ärzte vor zusätzliche Herausforderungen. Sie bewegten sich auf einem schmalen Grat zwischen Sicherstellung der Versorgung einer Hochrisikogruppe und Sicherstellung des Infektionsschutzes unter Beachtung der Betäubungsmittelsicherheit, schreibt die Initiative in ihrem Papier. „Während viele Patienten gerade jetzt Nähe und Begleitung benötigen, sind zugleich Infektionsschutz und soziale Distanz gefordert“, heißt es weiter. Zum Schutz vor Ansteckung gelte es, wo immer möglich, Kontakte zu reduzieren und durch Anpassung der Praxisorganisation die Risiken zu minimieren.

Apotheken vor Ort stärker einbinden und angemessen honorieren

Neben einer Ausweitung der Take-Home-Vergabe und der Möglichkeit, größere Mengen als bisher verordnen zu dürfen, fordert das Bündnis auch, die Strukturen vor Ort besser zu nutzen als bisher. So soll die Vergabe etwa durch Apotheken deutlich ausgeweitet werden. Auch nicht medizinisches Personal, zum Beispiel in Drogenkonsumräumen, wollen die Unterzeichner des Eckpunktepapiers schulen und für den Sichtbezug fit machen. Sie appellieren an die Politik, die Kassenärztlichen Vereinigungen sowie die Ärzte- und Apothekerkammern: „Handeln auch Sie sofort und konsequent. Schaffen Sie die nötigen Rahmenbedingungen.“

Doch auch unabhängig von der aktuellen Krise halten die Suchtexperten den Versorgungsauftrag für nicht mehr erfüllt. „Opioidabhängigkeit ist ein gravierendes gesundheitliches und gesellschaftliches Problem“, mahnen sie. Aktuell haben demnach von den etwa 166.000 opioidabhängigen Menschen in Deutschland nur etwa die Hälfte Zugang zu einer substitutionsgestützten Therapie – auch weil es an den nötigen Strukturen mangelt. „Die Attraktivität der Substitutionsbehandlung ist aufgrund von Stigmatisierung, hohem bürokratischem Aufwand und mangelnder Vergütung gering.“

Substitution muss sich auch für Apotheken lohnen

Um das nicht nur während der Coronavirus-Pandemie, sondern langfristig zu ändern, legt die Initiative einen Zehn-Punkte-Plan vor. Darin fordert sie unter anderem, die Apotheken beim Sichtbezug stärker einzubinden als bisher. Gleichzeitig gelte es, die Honorierung an den für alle Beteiligten entstehenden Aufwand anzupassen.

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Das weit verzweigte Apothekennetz in Deutschland biete gute Möglichkeiten, die Vergabe der Ersatzmittel zu delegieren. Dazu müssen jedoch die räumlichen und organisatorischen Voraussetzungen in den Offizinen geschaffen werden, um die Sichtvergabe reibungslos in den Apothekenalltag integrieren zu können. Zudem sei es nötig, eine Beteiligung auch für Landapotheken wirtschaftlich attraktiv zu machen und ihnen einen Zusatzumsatz durch die Sichtvergabe zu ermöglichen. „Der zusätzliche Aufwand für Apotheken (separater Beratungsraum, Terminvergabe etc.) ist ebenso angemessen zu vergüten wie der Aufwand der Praxis, vor Ort zu substituieren oder die Apothekenvergabe zu beaufsichtigen“, stellen die Autoren klar.

Die Delegation werde aktuell vonseiten der Ärzte zu wenig genutzt, bemängeln die Fachleute. Es gelte, diese Chance künftig verstärkt zu ergreifen. Als positives Beispiel nennen die Unterzeichner den Pakt für Substitution, den Politik, Krankenkassen, Apotheker und Ärzte in Baden-Württemberg im Oktober 2019 geschlossen haben. Ziel ist es unter anderem, die Versorger besser zu vernetzen  und die Abrechnung von erbrachten Leistungen auf diesem Gebiet zu vereinfachen. Dieses Modell könnte Vorbild für eine bundesweite Regelung sein. „Nun sind die Politik sowie die Selbstverwaltungsgremien gefordert, insbesondere die Kassenärztlichen Vereinigungen, die Ärztekammern und die Apothekerkammern.“



Christina Müller, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (cm)
redaktion@daz.online


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