Immunthrombosen durch SARS-CoV-2

Gibt es einen gemeinsamen Risikofaktor für schwere COVID-19-Verläufe?

Stuttgart - 12.08.2020, 17:50 Uhr

Neben dem besonderen Verhalten des Immunsystems wurde in den vergangenen Monaten auch immer wieder über rätselhafte Blutgerinnsel im Zusammenhang mit schweren Verläufen einer COVID-19-Erkrankung berichtet. (s / Bild: rost9 / stock.adobe.com)

Neben dem besonderen Verhalten des Immunsystems wurde in den vergangenen Monaten auch immer wieder über rätselhafte Blutgerinnsel im Zusammenhang mit schweren Verläufen einer COVID-19-Erkrankung berichtet. 
(s / Bild: rost9 / stock.adobe.com)


Jeden Tag gibt es neue Erkenntnisse zu SARS-CoV-2 und doch fühlt es sich an, als wisse man kaum etwas über die neue Erkrankung COVID-19. Von Übersichtsarbeiten, die einem Orientierung im Publikationen-Dschungel bieten, kann man nur träumen. Gibt es eine heiße Spur, der gerade mehrere Wissenschaftler auf den Fersen sind? Zumindest haben sich in letzter Zeit einige Forscherteams zum Thema Blutgerinnung geäußert. Ob die neuen Erkenntnisse sich kausal miteinander verknüpfen lassen, ist fraglich. Doch sie könnten sich auch praktisch auf die COVID-19-Therapie auswirken.  

Warum nehmen manche COVID-19-Erkrankungen einen schweren Verlauf und andere nicht? Man geht mittlerweile davon aus, dass verschiedene Faktoren – Alter, aber auch zum Beispiel bestehende Herzkreislauferkrankungen, Diabetes mellitus, Erkrankungen des Atmungssystems, der Leber, der Niere, Krebserkrankungen, Adipositas und Rauchen – das Risiko für einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf erhöhen. Gibt es aber vielleicht auch einen Risikofaktor, den alle diese Patienten gemeinsam tragen? 

Erst kürzlich kam eine Studie unter Leitung der Charité Berlin und des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik (MPIMG) zu dem Schluss, dass auch nicht an COVID-19-Erkrankte potenziell Immunzellen in sich tragen, die SARS-CoV-2 erkennen können. Könnten sich also vorausgegangene Infektionen mit landläufigen Erkältungscoronaviren über eine Kreuzreaktivität mildernd auf den Verlauf einer SARS-CoV-2-Infektion auswirken? Dass das Immunsystem bei einem COVID-19-Verlauf eine zentrale Rolle spielt, geht auch aus den diversen Berichten über Zytokinstürme im Zusammenhang mit der Erkrankung hervor. Offenbar geht man dabei mittlerweile nicht mehr allein von einer zu starken Immunreaktion aus, vielmehr sei die Immunreaktion in einer Dauerschleife aus Aktivierung und Hemmung „gefangen“, hieß es zuletzt in einer Pressemitteilung der Charité. Die hohen Entzündungswerte, die man bei den Betroffenen misst, sprächen zwar für eine starke Immunantwort, klinische Befunde aber eher für eine ineffektive Immunantwort. In der Studie, auf die sich die Mitteilung bezieht, lag der Fokus der Wissenschaftler auf myeloiden Zellen, zu denen auch neutrophile Granulozyten und Monozyten gehören.

Neutrophile Granulozyten

Alle immunkompetenten Zellen haben ihren Ursprung in einer pluripotenten hämatopetischen Stammzelle im Knochenmark. Über lymphatische Vorläuferzellen bilden sich daraus B-Zellen, T-Zellen und natürliche Killerzellen.

Myeolische Vorläuferzellen generieren Vorläuferzellen der roten Blutzellen und der Blutplättchen sowie Granulozyten-/Makrophagen-Vorläuferzellen. Aus letzteren leiten sich Monozyten und neutrophile sowie eosinophile und basophile Granulozyten ab. Ins Gewebe eingewanderte Monozyten entwickeln sich zu Makrophagen.

Makrophagen und und neutrophile Granulozyten nehmen Erreger auf und können sie abtöten. Eosinophile und basophile Granulozyten setzen zytotoxische Granula frei, um Erreger zu töten. Sie schädigen häufig aber auch umliegendes Gewebe.

Quelle: Immunologie, Vollmar / Zündorf / Dingermann, 2. Auflage 2013

Aus der Studie gehe hervor, dass bei schweren COVID-19-Fällen neutrophile Granulozyten und Monozyten zwar zum Teil aktiviert, aber auch in ihrer Funktion gestört seien. Unreife Zellen, die eher hemmend auf die Immunreaktion wirken, seien in der Überzahl. Dieses Phänomen, aber nicht die Hintergründe, sei schon von anderen schweren Infektionen bekannt. 

Neben dem besonderen Verhalten des Immunsystems wurde in den vergangenen Monaten auch immer wieder über rätselhafte Blutgerinnsel im Zusammenhang mit schweren Verläufen einer COVID-19-Erkrankung berichtet. Forscher der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) haben nun am 3. August 2020 in einer Pressemitteilung eine neue Hypothese aufgestellt, die sowohl die Blutgerinnung als auch das Immunsystems berücksichtigt: „Macht eine ‚Immunthrombose das Coronavirus so gefährlich?“ Das Forscherteam um Dr. Moritz Leppkes von der FAU habe jetzt herausgefunden, dass bei COVID-19 die neutrophilen Granulozyten, besonders stark aktiviert werden, sich zusammenballen und Netze oder sogenannte „Neutrophil Extracellular Traps“ (NETs) in den kleinen Blutgefäßen der Lunge bilden. Die kleinen Blutgefäße verstopften somit also nicht nur durch klassische Blutgerinnungsprozesse, sondern durch diese immunologischen. In der Folge sei der Gasaustausch im Körper nicht länger gewährleistet, was schwere Krankheitsverläufe nach sich ziehe.

Führt Endothelschädigung zu Immunthrombosen?

Zur näheren Erklärung wird in der FAU-Mitteilung ein weiterer Aspekt berücksichtigt, der in den letzten Wochen durch die Medien ging: die virale Schädigung des Endothels. „Die verstärkte Zusammenballung von neutrophilen Granulozyten und die darauffolgende NET-Bildung werden bei COVID-19 vermutlich durch die virale Schädigung des Endothels, der Auskleidung der Blutgefäße, hervorgerufen“, heißt es – Stichwort ACE2. Dabei zieht die Endothel-Schädigung im Rahmen einer COVID-19-Erkrankung offenbar nicht nur neutrophile Granulozyten an, sondern speziell solche mit geringer Dichte. Diese sollen vermehrt zur NET-Bildung neigen und bei Autoimmunprozessen eine Rolle spielen. Bis zu einem gewissen Grad sei die NET-Bildung bei Entzündungen zwar normal – jedoch sei bei COVID-19 der Vorgang nicht auf einen Bereich eines Organs begrenzt. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse im Fachjournal „EBioMedicine by The Lancet“.

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Die These der FAU-Wissenschaftler wird übrigens in einer weiteren Pressemitteilung vom 3. August bestätigt: Forscher der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) berichten: „Die Immunothrombose ist ein vielversprechender Ansatzpunkt in der Prävention und Therapie des Lungenversagens sowie anderer thrombotischer Komplikationen bei COVID-19.“ Ihre entsprechende wissenschaftliche Arbeit ist im Journal „Circulation“ erschienen. 

Interessant in diesem Zusammenhang ist auch eine Hypothese, über die DAZ.online im Juni berichtete: Könnte die Blutgruppe darüber entscheiden, wer schwer an COVID-19 erkrankt? Der „Spiegel“ schrieb damals zu einer der möglichen Erklärungen der Blutgruppen-Hypothese: „Auch könnte das Gerinnungssystem eine Rolle spielen, so eine These. Genetische Variationen an der Stelle, die über die Blutgruppe entscheidet, seien auch mit gerinnungsfördernden Faktoren verbunden, schreiben die Wissenschaftler.“ 

Keine kausalen Zusammenhänge?

Ob hier wirklich kausale Zusammenhänge bestehen, ist fraglich, die Antwort darauf muss die Wissenschaft finden. Doch wer die Corona-Berichterstattung verfolgt hat, dem könnte noch ein weiterer Aspekt aufgefallen sein: Warum sind in den USA offenbar vor allem Afroamerikaner COVID-19-Risikopatienten? Vor allem Armut, soziale Benachteiligung, Diskriminierung und die Schwächen des Gesundheitssystems spielen hier wohl eine Rolle. Aber könnte es noch einen anderen Grund geben, der alle Risikopatienten betrifft?

In der DAZ 20/2020 war zu lesen, dass im Zusammenhang mit COVID-19 auch aus China schon mehrfach Gerinnungsstörungen und Thrombosen beschrieben wurden. Auf einer Intensivstation des Union Hospital in Wuhan habe jeder vierte COVID-19-Patient eine venöse Thromboembolie (VTE) entwickelt, wobei, in China nicht unüblich, keine Thromboseprophylaxe erfolgt sei. In einer niederländischen Kohorte von 184 Intensivpatienten habe hingegen während einer vierwöchigen Beobachtungszeit fast jeder Dritte eine venöse oder arterielle Thromboembolie erlitten – trotz prophylaktischer Heparin-Gabe.

„Für Prof. Dr. James O’Donnell vom National Coagulation Centre, St. James’s Hospital, Dublin, sind die unterschiedlich großen Inzidenzraten in China und Europa kein Zufall“, heißt es weiter in der DAZ 20/2020. Denn im Vergleich zu Kaukasiern gehe man bei Chinesen von einem drei- bis vierfach niedrigeren Risiko für thromboembolische Komplikationen aus, bei Afroamerikanern indes von einem signifikant höheren Risiko.

Konkrete Folgen für die COVID-19-Therapie?

Ebenfalls am 3. August haben Wissenschaftler der Goethe-Universität und des Universitätsklinikums Frankfurt sowie der britischen University of Kent eine Pressemitteilung veröffentlicht. Sie beziehen sich auf eine Publikation in „Diagnostics“ und haben dabei ebenfalls den Faktor Blutgerinnung näher untersucht. Konkret heißt das: Das Wissenschaftsteam hat bestehende Genexpressionsdaten menschlicher Gewebe mit Daten verglichen, die aus SARS-CoV-2-infizierten, kultivierten Zellen gewonnen worden waren, wobei sie nach Molekülen suchten, die an der Blutgerinnung beteiligt sind. Außerdem sollte sich deren Vorkommen bei Frauen und Männern unterscheiden, sich mit dem Alter verändern und mit einer SARS-CoV-2-Infektion anders reguliert werden.

Das Ergebnis: Möglicherweise spielt das Glykoprotein Transferrin bei schwerem COVID-19-Verlauf eine Rolle. „Der molekulare Eisen-Transporter ist ein Molekül, das die Blutgerinnung fördert. Seine Konzentration im Blut steigt mit dem Alter, sie ist bei Männern höher als bei Frauen und Transferrin wird in SARS-CoV-2-infizierten Zellen hochreguliert“, heißt es zur Erklärung. Könnte Transferrin also ein Frühindikator sein, wenn ein schwerer Krankheitsverlauf droht?

Angenommen, die Blutgerinnung nimmt bei schweren COVID-19-Verläufen tatsächlich eine so zentrale Rolle ein, wie aus den Medienberichten der Eindruck entstehen kann – welche Konsequenzen hätte das für die Behandlung der mit SARS-CoV-2 infizierten Menschen? 

Schon seit dem 21. April empfiehlt die Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH) die großzügige Thromboseprophylaxe mit niedermolekularem Heparin (NMH) bei COVID-19, unabhängig von der Notwendigkeit einer Hospitalisierung. Die Dosierung sollte dabei in einer für den Hochrisikobereich zugelassenen Dosierung erfolgen. Bei Kontraindikationen für eine Antikoagulation seien physikalische Maßnahmen wie Kompressionsstrümpfe empfehlenswert. Hospitalisierte Patienten sollen fortlaufend hämostaseologisch überwacht werden, heißt es außerdem in den Empfehlungen

Die FAU-Forscher, die über die Immunthrombose berichtet haben, sehen außerdem darin einen Behandlungsansatz, die Zusammenballung von neutrophilen Granulozyten zu hemmen und die vermehrte NET-Bildung zu verhindern. In der Mitteilung heißt es dazu beispielsweise, dass dies etwa durch Dexamethason, das Zellaggregation hemme, geschehen könnte sowie durch Wirkstoffe, die der NET-Bildung entgegenwirken. Die EMA prüft derzeit Dexamethason zur Behandlung von Erwachsenen mit COVID-19 und in den Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19 steht mittlerweile wörtlich: „Ein Einsatz von Dexamethason (Dosis 6 mg/d einmal täglich für 10 Tage) bei beatmungspflichtigen Patienten mit COVID-19 wird empfohlen.“ Ist die Behandlung mit Dexamethason also vielleicht auch deshalb so vielversprechend, weil es Immunthrombosen vorbeugen könnte?

Aber auch was Heparin angeht, haben die FAU-Wissenschaftler offenbar eine bislang wenig beachtete Funktion des Blutgerinnungshemmers beobachtet: Es unterstütze den Abbau von NETs und verbessere so die Blutzirkulation. Die DAZ 20/2020 hatte noch berichtet, dass eine Heparinprophylaxe bei COVID-19 (in Standarddosen) interessanterweise nur begrenzt zu wirken scheint. 



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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