Analyse

IGES-Gutachten: Viele Ideen und keine Konsequenzen

Süsel - 10.09.2020, 10:30 Uhr

Das IGES-Gutachten hinterlässt Fragen: Welche Konsequenzen sollen Politik und Apotheker daraus ziehen?  (Foto: sdecoret /stock.adobe.com)

Das IGES-Gutachten hinterlässt Fragen: Welche Konsequenzen sollen Politik und Apotheker daraus ziehen?  (Foto: sdecoret /stock.adobe.com)


Das IGES-Gutachten ist kein Grund zur Aufregung. Denn die Autoren liefern viele Daten und Ideen, aber sie stellen keine problematischen Forderungen auf, sondern überlassen den Lesern die Konsequenzen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Gutachten geht es weniger um große Schlagzeilen, sondern mehr um die Einzelheiten, erläutert DAZ-Redakteur Dr. Thomas Müller-Bohn in einem Kommentar. 

Das IGES-Gutachten zum Apothekenmarkt ist wahrscheinlich nicht zufällig zwei Tage vor der Bundestagsdebatte über das Vor-Ort-Apothekenstärkungsgesetz erschienen. Es soll wohl die Abgeordneten auf das Thema einstimmen. Doch es enthält zu der anstehenden Entscheidung über das Rx-Boni-Verbot keine Empfehlung. Es gibt kein klares Ja oder Nein zu irgendeiner Maßnahme, nicht einmal eine Zusammenstellung von pro und contra, an der sich Befürworter und Kritiker abarbeiten könnten. Das Gutachten enthält auch keine quantitativen Prognosen, wie sich der Markt in welchem Fall entwickeln wird. Es erläutert eher Zusammenhänge, als Argumente für oder gegen irgendeine Entscheidung zu liefern. Das Gutachten lässt seine Leser mit der Frage allein, was sie damit anfangen sollen.

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Darum ist das Gutachten vor allem kein Grund zur Aufregung. Das Gutachten enthält kein Apotheken-Bashing, es stimmt kein Loblied auf den Versand an und es propagiert keine marktradikalen Ideen über die freie Preisbildung. Es ist weder ideologisch verbohrt noch polemisch, sondern um einen sachlichen Stil bemüht. Große Schlagzeilen lassen sich daraus allenfalls gewinnen, wenn man etwas hineininterpretiert, das darin nicht steht. Dennoch hat das Gutachten seine Schwächen und vor allem ist nicht alles darin nützlich.

Neue Argumente zur flächendeckenden Versorgung

Das Gutachten liefert zunächst die Fakten und Daten, die zu einer solchen Betrachtung gehören und die den informierten Kreisen bekannt sind. Bemerkenswert sind eine Schätzung der Apothekenbetriebsergebnisse in Abhängigkeit von der Umsatzgrößenklasse und Analysen zur Entwicklung der Apothekenzahlen in Abhängigkeit vom Siedlungstyp. Die größte Leistung ist die Auswertung zur Erreichbarkeit von Apotheken aufgrund der Entfernung zwischen Wohnort und Apotheken. Dies ist eine Fundgrube von Daten für Argumentationen zur flächendeckenden Versorgung. Die Auswertung zeigt, wie gering die Versorgungsdichte im ländlichen Raum und teilweise auch in Kleinstädten ist. Demnach erreichen 34,6 Prozent der Bewohner kleiner Kleinstädte, in denen immerhin deutschlandweit 11,2 Millionen Menschen leben, innerhalb von 15 Minuten zu Fuß eine Apotheke. In diesem Radius befinden sich aber im Mittel nur 1,4 Apotheken. Die Daten machen deutlich, dass die Versorgung oft an einer Apotheke hängt. Die Autoren gehen diesem Aspekt nicht ausführlich nach, aber sie bieten eine Datengrundlage, die künftig solche Betrachtungen möglich macht. Dies ist offenbar der praktisch bedeutsamste und lebensnächste Teil des Gutachtens.

Spieltheorie liefert nur Tendenzen

Dann folgt eine theoretische Analyse des Apothekenmarktes, aus der ein spieltheoretisches Modell entwickelt wird. Untersucht werden nur die derzeitige Situation nach dem EuGH-Urteil und ein Rx-Boni-Verbot. Es geht nicht darum, was die Rx-Preisbindung im Inland bewirkt. Das Modell hat einen sehr hohen Abstraktionsgrad. Es beschreibt eine Modellwelt mit drei Apotheken, die gleichmäßig auf einem Kreis angeordnet sind, auf dem auch die Patienten leben. Die Autoren machen deutlich, dass sich daraus keine quantitativen Prognosen für die Realität ableiten lassen. Das kann man als Spielerei kritisieren, aber solche Modelle sind in der Ökonomie durchaus üblich, um Zusammenhänge und Tendenzen zu zeigen.

OTC-Preise als Wettbewerbsfaktor im Rx-Markt

Die Studie benennt klar, dass die derzeitige Situation den Wettbewerb verzerrt. Die Autoren erklären auch, dass sinkende Preise zu Marktaustritten, also zu Apothekenschließungen, führen. Dies wird jedoch nicht quantifiziert. Die theoretische Analyse vermittelt die Idee, dass die Vor-Ort-Apotheken die OTC-Preise als Wettbewerbsinstrument nutzen, wenn die Versender Rx-Boni bieten. Ein Rx-Boni-Verbot würde demnach zu steigenden OTC-Preisen führen, weil sich dieser Wettbewerb erübrigen würde. In der Modellwelt ist das sogar ein erheblicher Effekt mit Preissteigerungen von über 25 Prozent. Dies beruht allerdings auch auf den recht künstlichen Annahmen, dass sich die OTC-Nachfrage linear zu den Preisen entwickelt und dass die Relation zwischen den OTC-Preisen in den Vor-Ort-Apotheken und im Versand konstant ist. Außerdem wird argumentiert, dass ein Rx-Boni-Verbot die Gewinne der Versender erhöhen könnte, weil sie die Boni sparen würden. Allerdings geht das Modell nur von minimalen Veränderungen beim Rx-Marktanteil der Versender aus, was nicht unbedingt realistisch erscheint. Doch auch andere Modellannahmen wären wieder an irgendeiner Stelle unrealistisch. Entscheidend ist daher, die Begrenzungen solcher Modelle zu akzeptieren.

Modell zur Zukunft des Systems fehlt

Wichtiger als Kritik an den Modellannahmen ist jedoch, was hier überhaupt modelliert wurde – und das scheint das größere Problem zu sein. Es sollte nicht um etwas mehr oder weniger Gewinn für die Apotheken gehen, sondern um die Existenzgrundlage für das System. Die entscheidende Frage ist: Wie viele Apotheken überleben langfristig ohne eine sichere Grundlage für ihre Preise? Doch das Modell ist auf solche Fragen zur flächendeckenden Versorgung überhaupt nicht zugeschnitten, obwohl sich gerade dieses Thema im ersten Teil der Studie als besonders relevant herausgestellt hat. Es geht im Modell auch nicht um den möglichen Marktanteil der Versender, der im Laufe der Zeit entstehen könnte. Denn das Modell verwendet diesen Marktanteil als unabhängige Variable zur Kalibrierung der Parameter. Demnach kann kein Marktanteil als Ergebnis herauskommen. Außerdem beschreibt das Modell ausdrücklich keine Entwicklungen in der Zeit.

Der Erkenntniswert des Modells für die derzeit relevanten politischen Fragen ist damit wohl sehr begrenzt. Doch ohnehin überlassen die Autoren den Lesern der Studie, welche Konsequenzen sie daraus ziehen. Aus einem besser gewählten Modell hätten die Leser allerdings wohl mehr Erkenntnisse ableiten können.



Dr. Thomas Müller-Bohn (tmb), Apotheker und Dipl.-Kaufmann
redaktion@daz.online


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2 Kommentare

Steilvorlage für ABDA

von Thomas Eper am 10.09.2020 um 11:42 Uhr

"Die Auswertung zeigt, wie gering die Versorgungsdichte im ländlichen Raum und teilweise auch in Kleinstädten ist."

"Wie viele Apotheken überleben langfristig ohne eine sichere Grundlage für ihre Preise?"
Gilt natürlich nicht nur für OTC, denn ca. 80% unseres Ertrages generieren wir mit Rx. -> also Packungshonorar.

Also wird durch da Einfrieren des Packungshonorars die Zahl der Apotheken reduziert (Schließungen) bei einer nicht zu üppigen Apothekendichte. Mit und ohne Versand-Apotheken und mit und ohne Rx.-Boniverbot.

Somit wird die flächendeckende AM-Versorgung gefährdet.

Bin mal gespannt, wer in der Politik und/oder Standesvertretung (v.a. ABDA) das begreift.

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von Anita Peter am 10.09.2020 um 11:18 Uhr

"Das Gutachten enthält auch keine quantitativen Prognosen, wie sich der Markt in welchem Fall entwickeln wird"

Genau DAS hätte ich von dem Gutachten erwartet! Eine Äusserung zum RXVV hingegen nicht, weil das gar nicht Gegenstand des Gutachtens war.
Wie ändert sich die Lage der Vor Ort Apotheken bei 1,2,3,4 Euro Bonus und bei einer Abwanderung von RX durch das erezept bei 3,4,5,6% Marktanteil RX der Versender.
Wenn das klar herausgearbeitet werden würde, was ohne weiteres problemlos möglich ist, dann würde so ein Gutachten Sinn machen.

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