Inkontinenzversorgung

„Diese Menschen haben keine starke Lobby“

Berlin - 15.12.2021, 07:00 Uhr

AVWL-Chef Thomas Rochell:  „Das ist der Anfang vom Ausstieg aus dem Sachleistungsprinzip.“ (Foto: Tronquet / AVWL)

AVWL-Chef Thomas Rochell:  „Das ist der Anfang vom Ausstieg aus dem Sachleistungsprinzip.“ (Foto: Tronquet / AVWL)


BVMed beklagt Preisdumping

Der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) sieht ebenfalls Handlungsbedarf bei der Inkontinenzversorgung – jedoch aus einer völlig anderen Perspektive als die AOK NordWest. „Die ambulante und stationäre Versorgung gesetzlich Krankenversicherter, die unter Harn- oder Stuhlinkontinenz leiden, bleibt weit hinter den Anforderungen aktueller medizinischer Leitlinien und Pflegestandards an Inkontinenzhilfsmittel zurück, die eine möglichst individuelle Versorgung fordern“, kritisiert der Verband in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2020. „Eine solche Versorgung erhält oft nur, wer bereit ist, die Differenz zwischen Kassenerstattung und tatsächlichem Preis aus eigener Tasche zu zahlen. Hier tut sich ein Widerspruch zwischen dem Sachleistungsanspruch des Fünften Sozialgesetzbuches (§ 33 SGB V), der eine Versorgung auf aktuellem Niveau intendiert, und der Realität auf.“

Die Versorgung sei aktuell durch Beitrittsverträge gekennzeichnet, die sich von der Erstattungshöhe eher an ehemaligen Ausschreibungen orientierten. „Eine Umkehr der Preisspirale ist mit Wegfall der Ausschreibungen nicht eingetreten. Vielmehr hat sich die durchschnittliche Erstattungshöhe in den letzten fünf Jahren um nahezu ein Viertel reduziert.“ Dabei beruft sich der Verband auf eigene Berechnungen. „Eine Versorgung, die den individuellen Anforderungen des einzelnen Patienten gerecht wird, ist zu Dumpingpreisen nicht möglich.“

Modellrechnung: Was darf ein Inkontinenzprodukt kosten?

Die Monatspauschalen liegen nach Angaben des BVMed bei Verhandlungs- beziehungsweise Beitrittsverträgen im ambulanten Bereich zwischen 23,95 Euro und weniger als 10 Euro netto – Tendenz fallend. Von diesem Geld entfalle nur ein Bruchteil auf die Hilfsmittel, denn der mit den Verträgen vereinbarte Leistungsumfang umfasst weit mehr als das Inkontinenzprodukt:

  • Individuelle Beratung des Patienten
  • Ermittlung des individuellen Bedarfs
  • Kostenlose Bemusterung des Patienten
  • Dokumentation des gesamten Versorgungsprozesses
  • Einzug der Patienten-Zuzahlung
  • Administrative Zusammenarbeit mit der Krankenkasse
  • Kosten für Lagerhaltung und Logistik
  • Kosten für den Versand an den Patienten

Für diese Posten veranschlagt der BVMed etwa 6 bis 8 Euro netto. Vor diesem Hintergrund macht der Verband eine Modellrechnung auf. Darin geht er von einer Pauschale von 15 Euro aus. Davon werden entsprechend 7 Euro abgezogen, es bleiben also 8 Euro übrig. Benötigt der Versicherte zum Beispiel 100 Inkontinenzprodukte pro Monat – grob bedeutet das, er wechselt sie dreimal täglich –, stehen pro Hilfsmittel folglich noch 8 Cent zur Verfügung.  „Zum Vergleich: Eine wesentlich einfacher herzustellende Babywindel kostet derzeit im Einzelhandel ohne Mehrwertsteuer rund 17 Cent“, so der BVMed. Gleichzeitig stiegen die Produktionskosten kontinuierlich an, zum Beispiel für die Herstellung (Rohstoffe, Personal, Transport- und Logistik, Produktion) und Dienstleistungen.

Dem Verband drängt sich die Frage auf, weshalb sich Leistungserbringer angesichts des enormen Kostendrucks aus sinkenden Versorgungspauschalen einerseits und steigenden Kosten andererseits den finanziellen Erwartungen der Krankenkassen beugen. Die Antwort gibt er sodann selbst: „Die Einkaufsmacht der Krankenkassen lässt den Firmen kaum eine andere Wahl. Die Alternative zur Teilnahme ist oft nur das Ausscheiden aus dem Markt.“ Zudem sei die Inkontinenzversorgung für den Fachhandel nur ein Teil seines Hilfsmittelgeschäfts. „Er hofft, ein eventuelles Verlustgeschäft durch wirtschaftliche Aufzahlungen und ertragreiche Produktgruppen quersubventionieren zu können.“

Marktverengung auch eine Gefahr für die Kassen

Der BVMed hat naturgemäß insbesondere die Interessen der Hersteller im Blick. Wie bei den Apotheken zeichne sich auch hier eine Marktverengung ab: Immer mehr Anbieter geben demnach angesichts steigender Anforderungen bei sinkenden Erlösen auf. „Die Konsequenz für die Versicherten: Wechsel zu anderen Versorgern, weniger Auswahl, häufig keine wohnortnahe Versorgung mehr.“ Aber auch Krankenkassen begeben sich durch die ständig sinkende Anzahl an Leistungserbringern in Abhängigkeiten zu den verbleibenden Leistungserbringern – „ein bis jetzt unterschätztes Risiko“.



Christina Müller, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (cm)
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Warum überrascht ? same procedure as usual

von ratatosk am 15.12.2021 um 8:39 Uhr

In deutschen GKV gilt nur , " Geiz ist geil " , koste was es wolle. Es gibt keine Honorierung einer flächendeckenden guten Versorgung, den Rest machen die intransparenten Verhandlungen im Hinterzimmer, Transparenz alla Ulla. Unterstützt ja auch schon von Lauterbach durch die geplante Hebung von Effizienzreserven im Apothekenbereich, da wissen die Apparatschiks auch, daß es so mit der politischen Unterstützung dieses Handelns weitergeht, schade aber total absehbar.

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