Warum sich Fachinformationen teils stark unterscheiden

Ein Wirkstoff, zwei Hersteller – neun unterschiedliche Kontraindikationen

Rosenheim - 16.02.2022, 09:15 Uhr

Die begleitenden Informationen zu einem Wirkstoff können sich je nach Arzneimittelpräparat unterscheiden. (c / Foto: VRD / AdobeStock)

Die begleitenden Informationen zu einem Wirkstoff können sich je nach Arzneimittelpräparat unterscheiden. (c / Foto: VRD / AdobeStock)


Was Apothekern und Apothekerinnen in der Praxis schon häufiger aufgefallen sein dürfte, dessen Ausmaß hat vor Kurzem eine Studie verdeutlicht: Die in der Fachinformation angegebenen Indikationen und Kontraindikationen können je nach Hersteller erheblich variieren. Betroffen sind vor allem Arzneimittel, die bereits vor Jahrzehnten zugelassen wurden. Woran liegt das?

Eigentlich sind Hersteller gemäß § 11 und § 11a Arzneimittelgesetz (AMG) dazu verpflichtet, die Texte von Gebrauchs- und Fachinformationen auf dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu halten. Dabei müssen die Inhaber der Zulassung auch neue Empfehlungen sowie Bewertungen auf europäischer Ebene berücksichtigen. Wurden Arzneistoffe jedoch beispielsweise in den 80er- oder 90er-Jahren auf rein nationaler Ebene zugelassen, führt das in der Praxis immer wieder zu abweichenden Angaben in den Fachinformationen verschiedener Hersteller. 

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„Das grundsätzliche Problem besteht in erster Linie darin, dass viele Originatorprodukte in Europa nicht harmonisiert sind, die Generika aber größtenteils über europäische Verfahren zugelassen werden“, erklärte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf Anfrage der DAZ. „Ein Generikum passt sich offiziell im Antrag an das Referenzprodukt im selben Land an.“ Es kommt also auf den Text des Referenzproduktes im jeweiligen Land an, das die Federführung im generischen Verfahren innehat. „Im ungünstigen Fall können Abweichungen dann auch Indikationen und Kontraindikationen betreffen“, so das BfArM.

Amoxicillin: je nach Firma 9 oder 16 Indikationen

Tatsächlich unterscheiden sich die Fachinformationen wirkstoffgleicher Präparate zum Teil erheblich in ihren angegebenen Einsatzgebieten sowie Kontraindikationen. Das genaue Ausmaß hat eine Forschergruppe rund um Oberarzt Professor Dr. med. Maximilian Gahr des Universitätsklinikums Ulm in einer Studie beziffert und die Ergebnisse im Oktober 2021 im „European Journal of Clinical Pharmacology“ veröffentlicht. Hierfür verglich die Gruppe Fachinformationen von den 100 am häufigsten verordneten Arzneimitteln im Hinblick auf die Anzahl ihrer Indikationen und Kontraindikationen. Um mögliche Fehler durch Wortvariationen wie beispielsweise „arterielle Hypertonie“ versus „Hypertonus“ auszuschließen, geschah dies in mühsamer Einzeldurchsicht von knapp 1.500 Fachinformationen. Das Ergebnis: 41 Prozent der untersuchten Arzneistoffe unterschieden sich hinsichtlich ihrer Anzahl der gelisteten Indikationen, bei den Kontraindikationen waren es sogar 65 Prozent. 

Für die Auswahl der untersuchten Arzneimittel zogen die Wissenschaftler den Arzneimittelverordnungs-Report 2019 heran und sammelten ihre Daten zwischen August und Oktober 2020. Die Einschluss- und Ausschlusskriterien bei der Arzneimittelauswahl lehnten sich an die Substitutionsregeln in Deutschland an, sodass beispielsweise Levothyroxin ausgeschlossen wurde.

Die Wissenschaftler erfassten auch die Spannbreite, indem sie die minimale und maximale Anzahl genannter Indikationen beziehungsweise Kontraindikationen verglichen. Spitzenreiter mit einer Indikations-Spannbreite von sieben war das Antibiotikum Amoxicillin: Während die Fachinformation eines Amoxicillin-Präparats 16 Einsatzgebiete aufzählte, nannte ein anderer Hersteller nur neun Indikationen. Bei Ibuprofen fanden die Wissenschaftler eine Spannbreite von fünf, aber auch bei Allopurinol, Clopidogrel und Trimethoprim/Sulfamethoxazol unterschied sich die Anzahl genannter Indikationen um vier. Bei den Kontraindikationen führten Lisinopril, Hydrochlorothiazid sowie Torasemid die Liste an. 

Einzelne Kontraindikationen, wie etwa Laktoseintoleranz, können natürlich herstellerbedingt im zugesetzten Hilfsstoff begründet sein. Dies erklärt jedoch nicht die gravierenden inhaltlichen Unterschiede wie im Fall des ACE-Hemmers Lisinopril, bei dem eine Fachinformation nur fünf Kontraindikationen aufzählte, eine andere hingegen 16 – also neun abweichende Kontraindikationen.  

Originatoren sollten Fachinfos harmonisieren – müssen aber nicht 

„Bei einem Lisinopril-enthaltenden Präparat wurde beispielsweise als Gegenanzeige schwere Niereninsuffizienz, Dialyse, eine Verengung der Nierenarterie und spezielle Erkrankungen der Herzklappen genannt, die bei der Fachinformation eines anderen Lisinopril-enthaltenden Präparats fehlten“, schilderte Almuth Wolf in einer Pressemitteilung der Universität Ulm Ende Januar. Sie hat die Auswertung der Fachinformationen durchgeführt. Diese Diskrepanzen gefährden nicht nur die Adhärenz, sondern bürgen auch haftungsrechtliche Probleme für Ärzte. Denn seit 2002 müssen Apotheken in der Regel einen generischen Austausch vornehmen, wodurch der verordnende Arzt in der Regel gar nicht erfährt, welches genaue Präparat abgegeben wurde. Schlimmstenfalls ist es für die Indikation nicht zugelassen. 

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Packungsbeilage - Fachinformation

Teil 1: Nationale Zulassung von neuen und bekannten Stoffen, Zulassung von Generika

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Teil 2: Europäisches Zulassungssystem, Änderungen an Arzneimitteln nach der Zulassung

Arzneimittelzulassung

Wie zu erwarten, traten in der Ulmer Studie die meisten Abweichungen bei vor Jahrzehnten zugelassenen Arzneimitteln auf. Sie wurden überwiegend national zugelassen, statt – wie heute üblich – im Anerkennungsverfahren oder EU-zentral. Daher erscheint es plausibel, dass das Zulassungsverfahren ursächlich mit den Diskrepanzen zusammenhängt. Leider haben die Wissenschaftler in ihrer Untersuchung keine Daten erhoben, um diese Vermutung zu stützen. Sie deckt sich jedoch mit der Auskunft des BfArM (siehe Seite 1). Die Ursache des Problems ist laut Behörde nicht bei den Generika-Herstellern zu suchen, sondern muss bei den historisch-bedingten, nicht harmonisierten Originatoren gesucht werden. „Die CMDh (Coordination Group for mutual Recognition and Decentralised Procedures – human) bewirbt seit Jahren intensiv das Harmonisierungsverfahren durch das sogenannte Variation-Worksharing für Originatoren“, erklärt das BfArM. „Das Worksharing-Verfahren ist allerdings noch freiwillig, sodass man die Originatoren nicht verpflichten kann.“ Eine Änderung der Gesetzgebung sei bereits auf Arbeitsebene angestoßen. Wann diese greifen wird, ist jedoch zeitlich noch nicht absehbar. 



Anna Carolin Antropov, Apothekerin
redaktion@daz.online


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