Anhaltende Debatte

Verbessern Antidepressiva die Lebensqualität?

Stuttgart - 22.04.2022, 12:15 Uhr

Ein Experte mahnt angesichts einer neuen Studie zu Antidepressiva, dass sie keine eindeutige Schlussfolgerung für die Behandlung von Patienten habe. Deshalb sollten sie sich auf keinen Fall entmutigen lassen. (b/Foto: Maridav / AdobeStock)

Ein Experte mahnt angesichts einer neuen Studie zu Antidepressiva, dass sie keine eindeutige Schlussfolgerung für die Behandlung von Patienten habe. Deshalb sollten sie sich auf keinen Fall entmutigen lassen. (b/Foto: Maridav / AdobeStock)


So ordnen Expert:innen die Ergebnisse der neuen Studie ein

Prof. Dr. Eva-Lotta Brakemeier, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie sowie Direktorin des Zentrums für Psychologische Psychotherapie (ZPP) an der Universität Greifswald, kritisierte gegenüber dem SMC an der Studie vor allem, dass bei den über 17 Millionen Erwachsenen mit einer Depressionsdiagnose – welche über zwei Jahre wiederholt untersucht wurden – nicht erfragt wurde, ob die Betroffenen während dieser Zeit eine Psychotherapie durchgeführt haben: „Da mittlerweile sämtliche nationale und internationale Leitlinien für die Behandlung der Depression die Psychotherapie als Methode der ersten Wahl empfehlen – bei schweren Formen und chronischen Verläufen in Kombination mit Antidepressiva –, erscheint mir diese Nicht-Berücksichtigung sowohl aus wissenschaftlicher als auch konzeptioneller Sicht gravierend.“

Sollten Ärzt:innen stärkere Zurückhaltung bei der medikamentösen Behandlung zeigen? 

Prof. Dr. Tom Bschor, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (sowie Professor an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Technische Universität Dresden), fällt außerdem auf, dass es sich um eine Zweitauswertung handelt, die primär zur Abschätzung von Gesundheitskosten durchgeführt wurde: „Interessanterweise besteht das Autorenteam nur aus einer Wissenschaftlerin aus den USA und ferner fünf Forschern aus Saudi-Arabien. Die Autoren begründen ihre Analyse sehr stark mit den hohen Kosten, die Depressionen für die Gesellschaft verursachen. Da die Studie aber die gesundheitsbezogene Lebensqualität untersucht, hätte vielleicht erwartet werden können, dass die Autoren das subjektive Leid und die subjektiven Einschränkungen depressiver Menschen, am allgemeinen Leben zu partizipieren, als zentrale Motivation für ihre Studie präsentieren.“ 

Bschor meint sogar, dass man die Studienergebnisse auch ganz anders lesen könne: „Die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Studienteilnehmer blieb von der Baseline- zur Follow-up-Untersuchung erstaunlich konstant – ganz unabhängig davon, ob Antidepressiva eingenommen wurden oder nicht.“ Zu bedenken sei in diesem Zusammenhang, dass die Lebensqualität durch die Nebenwirkungen von Antidepressiva auch negativ beeinflusst werden könnte – zum Beispiel durch starke Müdigkeit tagsüber oder durch sexuelle Beeinträchtigungen. 

Interessant sei die Studie aber: „Dennoch hat die Studie einen hohen Wert, da sie im Unterschied zu den nur auf wenige Wochen angelegten randomisierten Studien einen Verlauf von zwei Jahren beobachtete und da sie ein realistisches Abbild der tatsächlichen Behandlungssituation gibt.“ Die aktuell vorgelegte Studie unterstütze die Erkenntnisse aus randomisierten Studien. „Wenn die Ergebnisse von randomisierten Studien und von populationsbezogenen Studien – wie der vorgelegten – zum gleichen Ergebnis kommen, kann mit hoher Sicherheit angenommen werden, dass das Ergebnis die tatsächliche Situation beschreibt“, meint er. 

Außerdem findet Bschor, dass die Autoren am Ende ihrer Publikation zurecht darauf hinweisen, dass Ärztinnen und Ärzte eine stärkere Zurückhaltung bei der medikamentösen Behandlung von Depressionen zeigen sollten – „nicht nur wegen des fehlenden Effekts auf die Lebensqualität, sondern da sich die Befunde mehren, dass die Verordnung von Antidepressiva langfristig zu einer Verschlechterung des Krankheitsverlaufes mit Chronifizierung und häufigeren Rückfällen der Depression und in der Folge der Notwendigkeit einer Dauerverschreibung von Antidepressiva führt.“ Er hält es also wie die Studienautor:innen für sinnvoll, wenn andere Behandlungsmöglichkeiten wie Psychotherapie, Hilfe zur Selbsthilfe, Aufklärung, Tagesstrukturierung und soziale Unterstützung vor der Verordnung von Antidepressiva eingesetzt werden.

Kritik am Beobachtungszeitraum

Dr. Rebecca Sheriff von der „University of Oxford“ (Consultant Psychiatrist and Senior Clinical Research Fellow) kritisiert allerdings, dass der Beobachtungszeitraum von zwei Jahren viel zu kurz gedacht sei. Unter echten Langzeitdaten würde sie einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren verstehen. Auch sie kritisiert viele andere Punkte an der Studie, hält die damit (erneut) aufgeworfenen Fragestellung aber für sinnvoll.

Prof. Andreas Reif, Leiter der Abteilung für Psychiatrie am Universitätsklinikum Frankfurt (Goethe-Universität) hält den verwendeten Zeitrahmen wiederum grundsätzlich nicht für angemessen. In 90 Prozent der Fälle seien Depressionen episodische Störungen. Dies bedeute, dass sie in der Regel innerhalb von neun Monaten wieder abklingen würden.

Mehr zum Thema

Umstrittene Studie mit depressiven Jugendlichen wird neu analysiert

Paroxetin doch nicht besser als Placebo

Bei welchen Arzneistoffen tatsächlich Beratungsbedarf besteht

(Fehl-)Alarm Serotonin-Syndrom

Beide Therapieoptionen zeigen ähnliche Wirksamkeit

Antidepressiva oder Verhaltenstherapie?

Dr. Gemma Lewis vom „University College London“ (Sir Henry Dale Fellow, Division of Psychiatry) gibt einen weiteren zeitlichen Aspekt zu bedenken: Auch das Datum, wann die Einnahme der Antidepressiva begonnen hat, sei zu berücksichtigen. Viele der Proband:innen hätten ihre Medikation wahrscheinlich schon jahrelang eingenommen, als die Studie begann. Kurz nach Einnahmebeginn hätte man also vielleicht eine größere Verbesserung der Lebensqualität feststellen können. Die langfristige Einnahme vom Antidepressiva könnte währenddessen das Rückfall-Risiko verringern, und so die Lebensqualität erhalten.

Prof. Michael Sharpe, ebenfalls von der „University of Oxford“ (Professor of Psychological Medicine), mahnt abschließend in seinem Statement: „Diese Studie hat keine eindeutige Schlussfolgerung für die Behandlung von Patienten mit Depressionen und sollte Patienten, die von der Einnahme dieser Medikamente profitieren könnten, auf keinen Fall entmutigen.“



Deutsche Apotheker Zeitung / dm
redaktion@daz.online


Diesen Artikel teilen:


0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.