Heilpflanze des Jahres 2023

Die Weinrebe in der rationalen Phytotherapie

Stuttgart - 10.11.2022, 15:15 Uhr

Aus pharmazeutischer Sicht noch interessanter als die Beeren sind die Blätter der Weinrebe – genauer gesagt rotes Weinlaub (Vitis viniferae folium). (x / Foto: andrewhagen / AdobeStock)

Aus pharmazeutischer Sicht noch interessanter als die Beeren sind die Blätter der Weinrebe – genauer gesagt rotes Weinlaub (Vitis viniferae folium). (x / Foto: andrewhagen / AdobeStock)


Damit gesundheitsfördernde Pflanzen allgemein bekannter werden als bisher, ernennt der Naturheilverein Theophrastus  alljährlich eine Heilpflanze des Jahres. Derzeit steht noch die Brennnessel als Heilpflanze des Jahres 2022 im Fokus. Für 2023 fiel die Wahl auf die Weinrebe (Vitis vinifera). Ist Rotwein also gesund?

Landläufig spricht man vom „Wein“ – und meint damit nicht nur das Genussmittel, sondern auch die Pflanze, welche die dafür nötigen Früchte liefert. Die korrekte Bezeichnung der holzigen Kletterpflanze lautet jedoch Weinrebe. Von der Wildform Vitis vinifera ssp. sylvestris stammt unsere Kulturform Vitis vinifera ssp. vinifera ab. Sie umfasst mehrere tausend Sorten.

Das Weinrebengewächs (Vitaceae) kann mehr, als nur einen guten Tropfen zu liefern. Vitis vinifera ist die Heilpflanze des Jahres 2023. Dabei zählt sie zu den ältesten Kulturpflanzen. Sie wurde bereits im alten Ägypten um 3500 vor Christus angebaut. Die Römer verbreiteten die Weinkultur nach Deutschland.

Positive Rotweinwirkung wird mittlerweile in Zweifel gezogen 

Weinbeeren (Weintrauben) sind ein beliebtes Tafelobst. Sie enthalten Mineralstoffe und B-Vitamine, fördern die Verdauung und dank des relativ hohen Glukosegehalts liefern sie schnell verfügbare Energie. Als Rosinen sind Weinbeeren gut haltbar, allerdings sehr kalorienhaltig.

Der Großteil der Weintrauben wird zu Wein vergoren. Insbesondere dem Rotwein – für ihn lässt man die Traubenhäute und -kerne zusammen mit dem Saft vergären – werden gerne herz- und gefäßschützende Eigenschaften zugeschrieben. Als verantwortlich dafür gilt vor allem der phenolische Inhaltsstoff Resveratrol, für den antioxidative und antientzündliche Effekte nachgewiesen wurden. Allerdings wird die positive Rotweinwirkung mittlerweile in Zweifel gezogen. So ist die Resveratrol-Konzentration in einem Glas Wein möglicherweise zu gering. Hinzu kommt die schädliche Wirkung von Alkohol.

Gewisse Mengen an Resveratrol sind auch im roten Traubensaft enthalten, außerdem weitere gesundheitsfördernde phenolische Inhaltsstoffe aus den Beeren: die stark antioxidativ wirksamen oligomeren Proanthocyanidine (OPC), Anthocyane sowie gefäßaktive Flavonoide wie Quercetin und Kaempferol.

Proanthocyanidine (OPC) in Traubenkernmehl 

Besonders reich an OPC sind die kleinen, harten, birnenförmigen Traubenkerne. In Form von Traubenkernmehl kann man sich diese sekundären Pflanzeninhaltsstoffe zunutze machen. Gesundheitlich wertvoll ist außerdem kaltgepresstes Traubenkernöl, denn es enthält große Mengen ungesättigter Fettsäuren, vor allem Linolsäure und Ölsäure, darüber hinaus Vitamin E und Lecithin. Wegen seines Inhaltsstoffspektrums spielt kaltgepresstes Traubenkernöl auch für die äußerliche Anwendung eine wichtige Rolle. Es ist in zahlreichen Dermokosmetika als schützend und regenerierend wirkende Komponente enthalten.

Rotes Weinlaub – ein rationales Phytotherapeutikum 

Aus pharmazeutischer Sicht noch interessanter als die Beeren sind die Blätter der Weinrebe – genauer gesagt rotes Weinlaub (Vitis viniferae folium). Hierbei handelt es sich um die fünf- bis siebenlappigen, bis zu 15 cm langen Laubblätter jener Kulturvarietäten, die rote Beeren mit rotem Fruchtfleisch besitzen (Vitis vinifera var. tinctoria). Die tiefroten Blätter enthalten im Vergleich zu den Früchten noch wesentlich höhere Konzentrationen an Polyphenolen, insbesondere an den Flavonoiden Quercetin und Kaempferol. Diese Substanzen gelten, im Verbund mit anderen Phenolen wie OPC, Gerbstoffen und Anthocyanen, als wirksamkeitsrelevant bei Venenleiden.

Für Extraktzubereitungen aus Rotem Weinlaub konnten ödemprotektive, antioxidative und antientzündliche sowie kapillarabdichtende Wirkungen nachgewiesen werden. Vitis viniferae folium hat aufgrund der Datenlage (ebenso wie die Aescin-haltigen Rosskastaniensamen) einen besonderen Status: Als eine von wenigen Drogen wurde Rotes Weinlaub vom Phytotherapiekomitee der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) – dem HMPC (Committee on Herbal Medicinal Products) – als rationales Phytotherapeutikum („well-established use“) anerkannt. Der Einsatz erfolgt gemäß HMPC in Form von wässrigem Trockenextrakt (DEV 4–6:1, 360–720 mg/d) (z. B. Antistax® extra Venentabletten, Antiveno Heumann® Venentabletten). Für die Extraktgewinnung werden die Blätter nach der Traubenlese geerntet. Dann ist ihr Flavonoid-Gehalt am höchsten.

Roter Weinlaubextrakt greift schon in die frühen Krankheitsmechanismen der chronischen Veneninsuffizienz ein. Deshalb ist es sinnvoll, mit der Gabe möglichst bei den ersten Symptomen wie müden, schweren Beinen, Spannungsgefühlen und Juckreiz zu beginnen. Um die orale Anwendung zu unterstützen, kann man Roten Weinlaubextrakt auch äußerlich anwenden (z. B. Antistax® Venencreme).

Rebwasser in der Kosmetik

Noch ein weiteres Produkt der Weinrebe ist im heilkundlichen Kontext erwähnenswert: das Rebwasser, auch Rebenblut oder Rebtränen genannt. Hierbei handelt es sich um den im Frühjahr an den Schnittstellen der Pflanze austretenden Saft. Die mittelalterliche Äbtissin Hildegard von Bingen empfahl die Anwendung der Flüssigkeit bei Augenleiden und Hautkrankheiten. Heute erfährt Rebwasser eine gewisse Renaissance, und zwar als Beauty-Zutat in einigen Naturkosmetik-Pflegeprodukten.

Wissenswertes über die Pflanze

Weinstöcke können weit über 100 Jahre alt werden. Ihre Wurzeln dringen in bis zu 15 m Bodentiefe vor und sind reich verzweigt. So kommt die Pflanze auch mit längeren Trockenzeiten zurecht und die kleinen unscheinbaren Blüten können zu saftigen Beeren reifen. Deren gemeinsame Anordnung wird im Volksmund als Traube bezeichnet. Botanisch korrekt handelt es sich bei diesem Fruchtstand allerdings um eine Rispe.

Charakteristisch für alle Kulturreben ist, dass ihr Wuchs durch Schnitt und Stütze vorgegeben ist. Die Sprossranken, die natürlicherweise bis zu 35 m Länge erreichen können, werden in Kultur auf circa 1 bis 3 m kurzgehalten. Ein typisches Merkmal älterer Weinreben zeigt sich am holzigen Stamm: Die bräunliche Rinde löst sich in Längsstreifen ab.


Ulrike Weber-Fina, Diplom-Biologin, Autorin PTAheute.de
redaktion@daz.online


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