Kommentar

Voll daneben – Apotheken „hamstern“ nicht

Süsel - 20.12.2022, 17:30 Uhr

Lagerhaltung in Apotheken und beim Pharmagroßhandel hat nichts mit „Hamstern“ zu tun. (s / Foto: barinovalena / AdobeStock)

Lagerhaltung in Apotheken und beim Pharmagroßhandel hat nichts mit „Hamstern“ zu tun. (s / Foto: barinovalena / AdobeStock)


Heike Baehrens, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, hat die Apotheker und Pharmagroßhändler aufgefordert, keine „Hamsterkäufe“ zu tätigen. Damit verkennt sie den Sinn des Versorgungsauftrags, meint DAZ-Redakteur Thomas Müller-Bohn.

Lieferengpässe sind zu einem Top-Thema für Politik und Medien geworden. Viele, die sich bisher nicht für Apotheken interessiert oder sie bestenfalls als Selbstverständlichkeit wahrgenommen haben, präsentieren jetzt ihre Ratschläge. Doch wer wenig Einblicke in ein kompliziertes System hat und sich nun plötzlich dazu äußert, kann schnell daneben liegen. Manche liegen sogar voll daneben. Besonders eindrucksvoll war das bei der Idee des Präsidenten der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, den Lieferproblemen mit „Flohmärkten für Medikamente in der Nachbarschaft“ zu begegnen. Die ABDA und auch einzelne Apothekerorganisationen haben mittlerweile reagiert.

Doch Reinhardt ist nicht allein mit seiner Verirrung. Heike Baehrens, die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, hatte die Apotheker und den Pharmagroßhandel am vergangenen Freitag im ARD-Mittagsmagazin aufgefordert, keine „Hamsterkäufe“ von Arzneimitteln zu tätigen. Sie sollten wirklich nur den Wochenbedarf vorrätig halten. Das solle helfen, regional vorhandene Vorräte anderswo schnell zu nutzen.

Versorgungsauftrag beachten

Auch ihr ist dringend anzuraten, sich mit der Aufgabenverteilung im Arzneimittelversorgungssystem und der Rechtslage auseinanderzusetzen. Zur Erinnerung: Apotheken und Pharmagroßhandel haben den gesetzlichen Auftrag zur Sicherstellung der Arzneimittelversorgung. Wie sie das genau tun, liegt in vieler Hinsicht in ihrer Verantwortung. 

Der Staat hat die Apotheker als freie Heilberufler damit betraut, weil sie dank ihrer Qualifikation den Überblick haben, diese Aufgabe in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation und unter Berücksichtigung des jeweiligen Arzneimittels zu erfüllen, soweit es möglich ist. Die Verpflichtung zur Lagerung eines Wochenbedarfs stellt ein Minimum dar, das der Verordnungsgeber vorschreibt, um eine Untergrenze abzusichern. In der Apothekenbetriebsordnung steht ausdrücklich, dass „mindestens“ der durchschnittliche Wochenbedarf zu lagern ist. Der Appell, dies als Zielgröße oder gar Obergrenze anzusehen, ist daher nicht aus der Apothekenbetriebsordnung abzuleiten und auch sonst voll daneben. 


Was nach der Wirkstoffsynthese pharmazeutisch passiert, hat jahrzehntelang viele nicht interessiert. Das gilt wohl leider auch für die Arbeit der Apotheken.“

DAZ-Redakteur Thomas Müller-Bohn


Im Gegenteil: Wenn ein Engpass absehbar ist, gebieten der Versorgungsauftrag und die heilberufliche Verantwortung rechtzeitig einen größeren Vorrat anzulegen. Wenn am Beginn eines Winters mit drohender Energiemangellage vielerorts über die Folgen eines längeren Stromausfalls nachgedacht wird, erscheinen maßvolle Erweiterungen der üblichen Lagerhaltung geboten. Denn die Apotheken und der Pharmagroßhandel sind in unserem System die Orte, an denen die Vorratshaltung zur Absicherung gegen zeitweilige Engpässe stattfinden soll. Staatliche Lager oder bundesweite Beschaffungsprogramme wären populistische Schnellschüsse oder verzweifelte letzte Maßnahmen in Katastrophenfällen. 

Doch nach dem gesetzlichen Auftrag ist die Lagerhaltung die Aufgabe von Apotheken und Pharmagroßhandel. Dazu gehört auch der überregionale Austausch der Großhändler zwischen ihren Niederlassungen. Das alles passt ins System. Auch in anderen Wirtschaftsbereichen hat der Handel faktisch eine Lagerfunktion, allerdings ohne gesetzlichen Auftrag. Außerdem wurde in den jahrelangen Diskussionen über Lieferengpässe bei Arzneimitteln schon oft eine vermehrte Lagerhaltung als Gegenmaßnahme vorgeschlagen. Die möglichen positiven Effekte wurden dabei vielfach überschätzt, aber solche Vorschläge zeigen, dass Lagerhaltung innerhalb der Lieferkette als zumindest eine praktikable Maßnahme zur Lösung des Problems gilt. 


Das System betrachtet Tabletten und Säfte als austauschbar, bei Kindern sind sie das aber nicht.“

DAZ-Redakteur Thomas Müller-Bohn


Lagerhaltung in Apotheken und beim Pharmagroßhandel hat also nichts mit „Hamstern“ zu tun. Und dies als „Hamstern“ zu bezeichnen, verkennt den Sinn des Versorgungsauftrags. Der Begriff „Hamstern“ hat hier überhaupt nichts zu suchen. Wenn irgendein Appell gegen „Hamstern“ angebracht sein sollte, mag das vielleicht manche Apothekenkunden betreffen, die einfach nur etwas kaufen, über das als knappes Gut berichtet wird. Doch das ist ein anderes Thema.

Große Lagerhaltung praktisch unmöglich

Die Vorhaltungen von Baehrens an die Apotheken sind allerdings noch aus einem anderen Grund voll daneben. Denn das Vorhaben sich beispielsweise mit Paracetamol-Saft in großem Stil zu bevorraten, scheitert derzeit an der praktischen Unmöglichkeit. Sicherlich haben sich die allermeisten Apotheken bevorratet, soweit das überhaupt möglich war. Zumeist sind diese Vorräte nun wohl aufgebraucht und das bestehende Angebot ist knapp. Sogar ein Wochenvorrat erscheint inzwischen als Wunschvorstellung.

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Fehlender Blick auf Pharmazie

Das Interview mit Baehrens im Mittagsmagazin lässt den Eindruck aufkommen, die Apotheken seien mit ihrem Verhalten mitschuldig an der Lage. Das wäre ein billiger Versuch, von der Fehlentwicklung des politisch gewollten Preisbildungssystems abzulenken. Während die Gründe vieler Arzneimittellieferengpässe vielfältig und komplex sind, ist die Ursache bei Paracetamol-Saft offensichtlich. Festbeträge, die sich allein am Wirkstoff und überhaupt nicht an zusätzlichen Kosten verschiedener Darreichungsformen orientieren, werden dem Versorgungsbedarf nicht gerecht. Das System betrachtet Tabletten und Säfte als austauschbar, bei Kindern sind sie das aber nicht. 

Die pharmazeutische Technologie kommt im deutschen Sozialversicherungsrecht praktisch nicht vor. Alles ist an Wirkstoffen ausgerichtet. Was nach der Wirkstoffsynthese pharmazeutisch passiert, hat jahrzehntelang viele nicht interessiert. Das gilt wohl leider auch für die Arbeit der Apotheken. Jetzt sind diese Themen in der Öffentlichkeit angekommen. Damit sollten alle Beteiligten konstruktiv umgehen und dies als Chance für Verbesserungen nutzen. Doch jetzt die Apotheken als Teil des Problems darzustellen und ihnen Verhaltensregeln geben zu wollen, die dem gesetzlichen Versorgungsauftrag widersprechen, ist voll daneben.


Dr. Thomas Müller-Bohn (tmb), Apotheker und Dipl.-Kaufmann
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Einseitige Schuldzuweisung?

von Michael Mischer am 21.12.2022 um 10:46 Uhr

"Um regionalen Unterversorgungen vorzubeugen wird dringend empfohlen, eine Bevorratung, die über das Maß eines wöchentlichen Bedarfs hinausgeht, sowohl in Apotheken als auch im vollversorgenden pharmazeutischen Großhandlungen zu unterlassen. Eine Bevorratung im üblichen Umfang oder darüber hinaus ist mit den aktuellen Beständen nicht realisierbar bzw. wird zu einer Unterversorgung an anderer Stelle führen. Dieser Appell richtet sich insbesondere an öffentliche Apotheken und Großhandlungen."

Dies ist die aktuelle Empfehlung des Beirats für Liefer- und Versorgungsengpässe gemäß § 52b Absatz 3b Arzneimittelgesetz, wie veröffentlicht auf der Website des BfArM und ehrlich gesagt - in einfacherer Sprache heißt das: nicht hamstern, von der Hand in den Mund leben. Ungeschickt formuliert, ja, sicher, aber objektiv in einer Linie.

Aber wer ist dieser Beirat? Auch das kann man auf der Website des BfArM nachlesen und Mitglieder sind unter anderem die ABDA, die AMK, der PHAGRO, die ADKA - neben Industrievertretern, Krankenkassen und Ärzten.

Will sagen: Diese Empfehlung stammt auch von denen, die jetzt laut schreien, sie sei unverschämt.

Und da komme ich an die Grenzen meines Verständnisses: Auch ich habe schon länger keinen Fiebersaft und kein Kindersuppositorium mehr gesehen. Wenn das aber nicht nur mein Pech ist, sondern bundesweit einheitlich zutrifft, wie können dann all diese Institutionen von anderen Gegebenheiten ausgehen. Denn ja, bei allein regionaler Ungleichverteilung aber insgesamt bedarfsgerechten Mengen, wäre von der Hand in den Mund zu leben die richtige Maßnahme

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