Plädoyer für zurückhaltendes Verordnungsverhalten

Melatonin in NEM ist nichts für Kinder – Leitlinie für 2025 geplant

Stuttgart - 07.12.2023, 09:15 Uhr

Melatonin – das Bett­hup­ferl der anderen Art? (Symbolfoto: elenarui / AdobeStock)

Melatonin – das Bett­hup­ferl der anderen Art? (Symbolfoto: elenarui / AdobeStock)


In aller Regel findet man auf Melatonin-haltigen Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) einen Hinweis, dass diese nicht für Kinder geeignet sind. Doch wie erklärt man das den Kindern, wenn die NEM so lecker wie Gummibärchen aussehen? Und wie erklärt man das vor allem den Eltern, die in den sozialen Medien falsche oder gefährliche Informationen über Melatonin und Schlafstörungen bei Kindern erreichen? Eine evidenzbasierte Leitlinie soll künftig helfen und vor allem auch über eine kindgerechte Dosierung aufklären. 

Melatonin wird in Nahrungsergänzungsmitteln mittlerweile in Massen angeboten und beworben. Bereits 2022 wurde in der DAZ gewarnt, dass deren Einsatz gerade bei Kindern und Jugendlichen kritisch abgewogen werden muss.

Da „Melatonin in der Praxis sehr oft eingesetzt wird, auch von Laien, soll KinderärztInnen, Kinder- und JugendpsychiaterInnen und SchlafmedizinerInnen“ künftig eine kritische evidenzbasierte Leitlinie zur Verfügung stehen. Das kann man auf der Internetseite der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zur Anmeldung der „S2e-Leitlinie Indikationen für Melatonin als schlafförderndes Mittel bei Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter“ nachlesen. Die Fertigstellung ist für Ende März 2025 geplant. Grundsätzlich soll mit der Leitlinie „für zurückhaltendes und differenziertes gut begründbares Verordnungsverhalten“ motiviert werden. So sollen potenzielle langfristige Nebenwirkungen „wie z. B. Beeinflussung des Pubertätseintritts“ vermieden werden [1].

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Die Koordination der Leitlinie hat Prof. Dr. med. Ekkehart Paditz übernommen. Dieser hat aktuell mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa) gesprochen und darauf aufmerksam gemacht, dass auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Schlafmedizin und Schlafforschung (DGSM) zwischen dem 7. und 9. Dezember in Berlin die Leitlinie vorgestellt werden soll. Ganz allgemein rät er gegenüber der dpa davon ab, den eigenen Kindern ohne Absprache mit einem Arzt ein melatoninhaltiges Nahrungsergänzungsmittel zu geben.

Dosierungen und Applikationszeiten von Melatonin für Kinder

Bislang wisse man noch zu wenig über die Abbauwege von Melatonin bei Säuglingen und kleinen Kindern, sagt Paditz. Sicher sei, dass der Melatonin-Stoffwechsel bei ihnen langsamer laufe. Außerdem gebe es bei den in Studien geprüften Nahrungsergänzungsmitteln erhebliche Konzentrationsschwankungen. „Es wäre fatal, wenn Eltern Geld für irgendwelche Tütchen ausgeben, die nicht über den Rezeptblock des Arztes oder über die Apotheke kommen“ [2].

Wie es auf dem Internetauftritt der AWMF heißt, soll die neue Leitlinie künftig darstellen, „bei welchen Indikationen und Voraussetzungen Evidenzen für die Gabe von Melatonin nachweisbar sind sowie welche Dosierungen und Applikationszeiten auf der Grundlage“ placebokontrollierter randomisierter Studien und pharmakokinetischer Daten empfohlen werden können [1].

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In Deutschland gibt es neben NEM mit Slenyto® auch ein Arzneimittel auf Basis von Melatonin, das aber nur in bestimmten Fällen indiziert ist: Bei der „Behandlung von Schlafstörungen (Insomnie) bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 2-18 Jahren mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) und/oder Smith-Magenis-Syndrom, wenn Schlafhygienemaßnahmen unzureichend waren.“ Laut Fachinformation beträgt die empfohlene Anfangsdosis dann 2 mg [3]. Doch Paditz zufolge sollte die Melatonin-Dosis generell so gering wie möglich sein. Je nach Alter empfiehlt er, vor dem Zubettgehen zwischen 0,25 und 0,5 Milligramm Melatonin einzunehmen. Bei Slenyto® handelt es sich um retardierte Minitabletten, die nicht dosisgleich teilbar sind [2,3].

Zulassungsinhaber Infectopharm wies in einer Mail vom 12. Dezember 2023 die DAZ darauf hin, dass Slenyto® als retardierte Minitablette keinesfalls geteilt werden sollte: „Dies würde einen Off-Label-Use darstellen und die Retardierung aufheben.“ Außerdem betont Infectopharm, dass sich die genannten niedrigen Dosierungsempfehlungen (Initialdosis 0,2 bis 0,5 mg sowie weiter unten im Text die gewichtsabhängigen Maximaldosen von 3 mg bei Kindern < 40 kg und 5 mg bei Jugendlichen > 40 kg) auf den Einsatz von Melatonin als Chronobiotikum beziehen – also z.B. zur Vorverlagerung des Zeitpunkts des abendlichen Melatoninanstiegs: „Im Gegensatz dazu gibt es Hinweise darauf, dass bei einigen Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung die endogene Melatoninproduktion reduziert ist, sodass in dieser Patientengruppe die Behandlung mit retardiertem Melatonin nicht primär die Funktion eines Chronobiotikums hat, sondern vielmehr einen vorherrschenden Melatoninmangel ausgleicht.“ Somit betont Infectopharm, dass die in der Fachinformation von Slenyto® angegebene Dosierung sicher ist: Startdosis 2 mg, bei unzureichendem Ansprechen Erhöhung auf 5 mg, maximale Dosis 10 mg

Die Dosierung sei dabei nicht alters- und gewichtsabhängig. 

(dm, 13.12.2023)

Laut Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzt:innen kommt das Melatonin als Arzneimittel in der Praxis nur selten zum Einsatz. Behandlungsbedürftige Schlafstörungen würden vor allem bei schwer chronisch kranken Kindern mit geistiger Behinderung vorkommen, die in einem jungen jugendlichen Alter Einschlafschwierigkeiten haben. Wenn Kinder unter ernstzunehmenden Schlafstörungen litten, sollten Eltern sich nicht auf frei käufliche Mittelchen verlassen, meint Paditz. „Eltern gehen damit ein ziemliches Risiko ein, dass möglicherweise schwerwiegende Krankheiten übersehen werden.“ 

Währenddessen bewerben Eltern in den sozialen Medien mit Titeln wie „Wie du dein Kind in unter 5 Minuten zum Schlafen bringst“ allerdings Nahrungsergänzungsmittel mit Melatonin als absolutes Wundermittel für Kinder, die einfach nicht einschlafen wollen. In der Apotheke sollten die Eltern also über diesen Widerspruch aufgeklärt werden [2].

Kann man Melatonin überdosieren?

In der Fachinformation von Slenyto® (Stand 06/2023) heißt es zum Thema Überdosierung: „Für den Fall einer Überdosierung ist Schläfrigkeit zu erwarten. Die Clearance des Wirkstoffs wird innerhalb von 12 Stunden nach der Einnahme erwartet. Es ist keine besondere Behandlung erforderlich“ [4].

In einer Stellungnahme der DGSM von 2018 wird darauf hingewiesen, dass die Dosierung beziehungsweise Darreichungsform von Melatonin auch davon abhängt, ob es zur Einschlafförderung oder bei nächtlichem Aufwachen eingesetzt werden soll. Auch der Einnahmezeitpunkt unterscheidet sich je nach erwünschtem Effekt. Wörtlich heißt es beispielsweise [5]: 


„Beim Einsatz als Chronobiotikum bringen höhere Dosen keinen Vorteil gegenüber niedrigeren Dosen, nur eine verstärkte Schläfrigkeit. Daher sollte mit einer niedrigen Dosis von 0,2–0,5 mg gestartet werden. Falls kein Effekt erkennbar ist, kann eine wöchentliche Dosissteigerung um 0,2–0,5 mg erfolgen, bis ein Effekt auftritt. Bei effektiver Dosis kann ein erneuter Versuch einer Dosisreduktion erfolgen. Eine Maximaldosis von 3 mg bei Kindern unter 40 kg bzw. 5 mg bei Jugendlichen über 40 kg sollte nicht überschritten werden. Als Schlafinduktor wird eine Dosis von 1–3 mg angegeben.“

Stellungnahme der Arbeitsgruppe Pädiatrie der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin e.V. (DGSM) von 2018


Zudem wird darauf hingewiesen, dass Arzneimittel den Melatoninabbau hemmen können – beispielsweise trizyklische Antidepressiva und Cimetidin.

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Ganz grundsätzlich gilt die Empfehlung: „Schlafhygienische und schlafedukative Maßnahmen sollten bei Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter immer an erster Stelle stehen. Dies gilt auch für Kinder mit psychischen Störungen und komorbider Schlafproblematik.“

Die Stellungnahme von 2018 soll nun mit der für das Jahr 2025 angekündigten Leitlinie aktualisiert und erweitert werden [1,5].

Literatur 

[1] Internetauftritt der AWMF zur Neuanmeldung der S2e-Leitlinie Indikationen für Melatonin als schlafförderndes Mittel bei Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter. Anmeldedatum 03.09.2022. Geplante Fertigstellung 31.03.2025. register.awmf.org/de/leitlinien/detail/063-005 

[2] Bucher M. Gefährlicher Trend: Kinderärzte warnen vor Einschlafhilfe Melatonin. dpa, 06.12.2023, 8:02 Uhr.

[3] Fachinformation in der Lauer-Taxe zu Slenyto®, Abruf 06.12.2023 

[4] Fachinformation von Slenyto® (Stand 06/2023), www.infectopharm.com/praeparate/slenyto/

[5] Einsatz von Melatonin bei Kindern mit Schlafstörungen – Stellungnahme der Arbeitsgruppe Pädiatrie der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin e.V. (DGSM), Stand 2018, www.dgsm.de/fileadmin/dgsm/Arbeitsgruppen/paediatrie/Melatonin_Kindesalter_2018.pdf


Deutsche Apotheker Zeitung / dm
redaktion@daz.online


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