Gleichstellung und Gendermedizin

„Es fehlen weibliche Rollenmodelle“

Stuttgart - 08.03.2024, 07:00 Uhr

Prof. Vera Regitz-Zagrosek findet deutliche Worte: „Frauen haben es bei ihrer Karriere immer noch deutlich schwerer als Männer. Ich sehe in Deutschland eine gläserne Decke." (Foto: UZH Zürich) 

Prof. Vera Regitz-Zagrosek findet deutliche Worte: „Frauen haben es bei ihrer Karriere immer noch deutlich schwerer als Männer. Ich sehe in Deutschland eine gläserne Decke." (Foto: UZH Zürich) 


Sie gilt als Pionierin der Gendermedizin: Vera Regitz-Zagrosek forscht zu Geschlechterunterschieden bei Herzerkrankungen, engagiert sich für Genderaspekte in der Lehre und für Gleichstellung in der Medizin. Das von ihr gegründete Institut für Geschlechterforschung an der Charité ist das bisher einzige Institut für geschlechtsspezifische Medizin in Deutschland. Zum Internationalen Frauentag am 8. März spricht die 70-Jährige im DAZ-Interview über ihre ungewöhnliche Karriere, über verkrustete Hierarchien in Deutschland – und hat für junge Medizinerinnen und Frauen in der Gesundheitsbranche einen erfolgversprechenden Tipp. 

DAZ: Professor Regitz-Zagrosek, Sie gelten als Pionierin der Gendermedizin in Deutschland – gab es ein prägendes Ereignis, das Sie veranlasst hat, in diesem Bereich zu forschen?

Regitz-Zagrosek: Es gab keinen bestimmten Auslöser, aber ich habe mir 2003 als leitende Oberärztin am Deutschen Herzzentrum in Berlin die Frage gestellt, warum wir weibliche Patientinnen nach der OP so oft nicht wiedergesehen haben. Wir haben sehr viele Coronar-Dilatationen gemacht, und die Männer kamen alle regelmäßig zur Nachsorge wieder. Die Frauen haben wir aber verloren bzw. sie kamen nicht mehr. Das war offenbar vorher niemandem aufgefallen. Aus meiner Ausbildungsphase in den 80er-Jahren erinnere ich mich an den lapidaren Satz, nachdem eine Patientin gestorben war: Ach, das ist eine Frau – das verstehen wir nicht. Damals habe ich aber noch nicht in Gender-Kategorien gedacht.


Frauen haben es bei ihrer Karriere immer noch deutlich schwerer als Männer. Sie erhalten weniger Unterstützung, verdienen weniger, werden langsamer befördert und oft sexuell belästigt. Zudem fehlen weibliche Rollenmodelle. Ich sehe in Deutschland eine gläserne Decke, die nur schwer aufzubrechen ist.

Prof. Vera Regitz-Zagrosek


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DAZ: Was hat sich ab 2003 geändert?

Regitz-Zagrosek: Ich habe als Oberärztin im Herzzentrum sicher 3000 Patienten und Patientinnen im Jahr persönlich gesehen – darunter unver­hältnismäßig wenig Frauen. Auch an unseren Studien nahmen fast nur Männer teil. Daraufhin habe ich erste Gender-Statistiken über unsere OP-Ergebnisse geführt und festgestellt, dass vor allem jüngere Frauen bei Bypass-Operationen eine sehr viel höhere Sterblichkeit hatten als altersgleiche Männer. Ich prüfte andere Operationen, etwa Herztransplantationen oder Herzklappenoperationen des Deutschen Herzzentrums – auch dort gab es vergleichbare Zahlen. Von meinen Kardiologen-Kollegen bekam ich dabei nur wenig Unterstützung, da hieß es oft: So ein Blödsinn. Der leitende Herzchirurg meinte aber: Klar, Frauen haben andere Herzen und Gefäße.

DAZ: Gegen welche Hindernisse und Vorbehalte mussten Sie ankämpfen?

Regitz-Zagrosek: Häufig hörte ich den Satz: Vera, du hast doch immer seriöse und gute Forschungsarbeit betrieben, warum machst du jetzt so einen Quatsch? Zu Beginn war meine Forschung schwierig, aber ich konnte mir schnell eine Position erarbeiten, und wir hatten viele Ergebnisse, die auf großes Interesse stießen. Im Kreis der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie hieß es: Warum Forschung für Frauen? Wo gibt es da Unterschiede zu Männern? Damals gab es dort nur Männer. Viele Jahre war ich die einzige Frau in diesem Bereich. Bis heute sind die Lehrbücher männerbasiert und die Leitfiguren in der Medizin noch immer meist Männer.
 

Pionierin der Gendermedizin

Prof. Vera Regitz-Zagrosek (70) wurde 1991 an der FU Berlin im Fachbereich Innere Medizin habilitiert, ab 1996 war sie Professorin für Innere Medizin an der Humboldt-Universität Berlin. Von 2003 bis 2019 war sie Professorin für Frauenspezifische Gesundheitsforschung an der Charité. 2007 wurde sie Gründungsdirektorin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité. Sie ist Gründungspräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e. V. und der International Society of Gender Medicine. Seit 2019 ist sie Seniorprofessorin an der Charité, und seit 2020 ist sie Beraterin für die Direktion der Universitären Medizin in Zürich und arbeitet an verschiedenen Pro­jekten, um die Gendermedizin in Forschung, Klinik und Lehre zu integrieren. Sie hat mehr als 200 wissenschaftliche Artikel sowie zwei europäische Standardwerke zur Gendermedizin und zur geschlechtsspezifischen Arzneimitteltherapie publiziert. Ihr ist das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik für ihre Leistungen in der Gendermedizin verliehen worden.

DAZ: Wir schreiben das Jahr 2024 – wo steht Deutschland bei der Gendermedizin im internationalen Vergleich?

Regitz-Zagrosek: Die Sterblichkeit bei Frauen nach einem Herzinfarkt ist in Deutschland höher als bei Männern. In der Schweiz werden Frauen rund 30 Minuten später in eine Klinik eingewiesen als Männer, in Deutschland ist es wohl ähnlich. Insgesamt steht Deutschland im Bereich Gendermedizin international im Mittelfeld. Kanada ist führend. Die Kanadier:innen bemühen sich, Richtlinien für Männer und Frauen zu etablieren, und schauen verstärkt darauf, ob Arzneimittel und Interventionen unterschiedlich wirken. Es werden dort auch Daten zur unterschiedlichen Pharmakokinetik und zu geschlechtsspezifischen Arzneimittelwirkungen publiziert.

DAZ: Zur unterschiedlichen Wirkung von Arzneimitteln gibt es bisher nur wenig Datenmaterial. Wie beurteilen Sie den Forschungsstand in Europa?

Regitz-Zagrosek: In Schweden ist eine große Datenbank ans Netz gebracht worden: Die Janusmed Database von Karin Schenck-Gustafsson, in der 400 Arzneimittel darauf analysiert wurden, ob es unterschiedliche Daten zur Pharmakokinetik und Wirksamkeit sowie Nebenwirkungen bei Männern und Frauen gibt. Holland hat ebenfalls ein umfangreiches Forschungsprogramm zu Geschlechterunterschieden bei häufigen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zur Medikation, zum Gebrauch von Arzneimitteln, zur Verschreibung von Arzneimitteln. In der Schweiz startete 2023 ein natio­nales Forschungsprogramm zu Geschlechterunterschieden, das ich mitgeschrieben habe und das über fünf Jahre mit 11 Millionen Franken finanziert wird. Es gibt ab 2024 einen Lehrstuhl in Zürich zu Gendermedizin und seit 2021 eine Initiative, die an allen Fakultäten einheitlich Gendermedizin ins Curriculum einführen will. In Italien gibt es viele Professoren für Gendermedizin, auch Österreich ist in diesem Bereich gut aufgestellt.

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DAZ: Und Deutschland?

Regitz-Zagrosek: Deutschland dümpelt so vor sich hin: Hier haben wir nur in Berlin und Bielefeld jeweils einen Lehrstuhl in Gendermedizin, zum Teil mit Fokus auf Prävention und Psychologie. An der Charité in Berlin sind Geschlechterunterschiede ein Element in der Curriculum-Pflichtlehre, an wenigen anderen Fakultäten findet sich die Thematik zum Teil in Wahlfächern, an anderen gar nicht. Deutschlandweit will das Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungen Fragen zu Geschlechterunterschieden in den Fragenkatalog der ärztlichen Prüfung aufnehmen.

DAZ: Und wie sieht es mit staatlich geförderten Studien aus?

Regitz-Zagrosek: Das BMBF und das BMG haben nur sehr wenige Studien mit Fokus auf geschlechtsspezifische Aspekte initiiert, einige davon an der Charité. Das ist einige Jahre her und die Ergebnisse erreichten wenig internationale Sichtbarkeit – es gab kein Nachfolgeprogramm. Wir bereiten gerade eine Publikation vor, in der wir an der Charité Echostudien bei Herz-Kreislauf-Patienten gemacht haben, die zeigen, dass die Herzen bei Männern und Frauen auch dann unterschiedlich groß sind, wenn man auf die Körperoberfläche normalisiert. Das heißt: Unterschiede in der Herzgröße und -funktion sind nicht nur mit Gewichtsunterschieden zu erklären. Solche Erkenntnisse müssten mehr Beachtung finden.

DAZ: Womit erklären Sie sich die deutsche Zurückhaltung?

Regitz-Zagrosek: In Deutschland gibt es eine sehr konservative Haltung dazu. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie behauptet jetzt, den weiblichen Nachwuchs zu fördern, aber sie haben 100 Jahre fast nichts dazu getan. Dann kann man den weiblichen Nachwuchs nur schwer aus dem Boden stampfen. Frauen haben es bei ihrer Karriere immer noch deutlich schwerer als Männer. Sie erhalten weniger Unterstützung, verdienen weniger, werden langsamer befördert und oft sexuell belästigt.

Es fehlen weibliche Rollenmodelle. Bei Bewerbungen um Kardiologie-Lehrstühle haben immer noch Männer die Nase vorne, obwohl es sehr gute Frauen gibt, die aus irgendeinem Grund nicht genommen werden. Das ist sehr bedauernswert. Ich sehe in Deutschland eine gläserne Decke, die nur schwer aufzubrechen ist. Wir haben 40 medizinische Fakultäten und nur zwei Dekaninnen. Das ist schlecht. Es gibt mehr geeignete Frauen.


Wenn Frauen Netzwerke bilden und darüber sprechen, dann haben sie auch politisches Gewicht.

Prof. Vera Regitz-Zagrosek


DAZ: Gendermedizin ist keine Frauenmedizin, auch Männer profitieren von den Ergebnissen. Warum setzt sich diese Erkenntnis nicht durch?

Regitz-Zagrosek: Sagen wir mal so: Als es COVID gab und die Männer plötzlich mehr Komplikationen und Gesundheitsprobleme als Frauen hatten, stieg das Interesse an der Gendermedizin. Das hat sich mittlerweile aber wieder gelegt. Ein weiteres Argument, das ich häufig als Antwort auf schlechtere Behandlungsergebnisse und krankheitsbezogene höhere Mortalität bei Frauen höre: Frauen leben sowieso länger. Das ist ein implizierter Vorwurf, von wegen: dann müssen sie ja nicht noch länger leben. Aber Männer haben ein höheres Risikoverhalten im mittleren Lebensalter, mehr erfolgreiche Suizide, mehr Unfälle. Männer haben auch eine höhere Krebssterblichkeit. Es gibt wahrscheinlich keine biologische Ursache dafür, dass Männer früher sterben, es ist eine Gender-gemachte Ursache. Männer suchen sich im Alltag oft die stressreicheren Lebensbedingungen aus. Da muss man sie aktiv unterstützen und beraten. Das ist eine Aufgabe der Gendermedizin. Es ist aber auch Aufgabe der Gendermedizin, Diagnoseverfahren und Arzneimittel besser für Frauen zu adaptierten. Da haben wir größeren Nachholbedarf.


Solange es keine großen Studien gibt, die uns Daten dazu verschaffen, was die optimale Dosis eines Arzneimittels für Männer und Frauen ist, können die Pharmazeuten gar nicht richtig beraten. Wir alle haben das Problem der schlechten Datenlage. Und richtiges Verhalten auf schlechter Datenbasis ist schwierig. 

Prof. Vera Regitz-Zagrosek


DAZ: In welcher Rolle sehen Sie die Apotheken bei Gender-spezifischer Dosierung von Arzneimitteln?

Regitz-Zagrosek: Solange es keine großen Studien gibt, die uns Daten dazu verschaffen, was die optimale Dosis eines Arzneimittels für Männer und Frauen ist, können die Pharmazeuten gar nicht richtig beraten. Auf welcher Datenbasis sollen sie dies tun? Wir müssen von der pharmazeutischen Industrie einfordern, dass Daten zu geschlechtsspezifischen Arzneimittelwirkungen, -nebenwirkungen und -dosierungen systematisch erhoben werden. Erst dann kann man Frauen und Männer seriös beraten. Wir alle haben das Problem der schlechten Datenlage. Und richtiges Verhalten auf schlechter Datenbasis ist schwierig.

DAZ: Wenn Sie heute jungen Medizinerinnen einen Tipp geben sollten, welcher wäre das?

Regitz-Zagrosek: Gut aufpassen, immer selbst nachdenken, was man tut. Und ganz praktisch: Sich vernetzen und den Mund aufmachen. Wenn Frauen Netzwerke bilden und darüber sprechen, dann haben sie auch ein politisches Gewicht. 


Stefanie Keppler, DAZ-Ressortleiterin
skeppler@daz.online


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1 Kommentar

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