Stammzelltransplantation heilt nicht automatisch HIV-Infektion

Noch ein „Berliner Patient“!

01.08.2024, 09:15 Uhr

Nach Timothy Brown erhielt ein zweiter Patient an der Charité in Berlin wegen einer akuten myeloischen Leukämie eine hämatopoetische Stammzellspende. (Symbolfoto: Achim Wagner / AdobeStock)

Nach Timothy Brown erhielt ein zweiter Patient an der Charité in Berlin wegen einer akuten myeloischen Leukämie eine hämatopoetische Stammzellspende. (Symbolfoto: Achim Wagner / AdobeStock)


Auf der 25. Welt-AIDS-Konferenz, die vom 22. bis 26. Juli in München stattfand, wurde der Fall vorgestellt: Nach Timothy Brown erhielt ein zweiter Patient an der Charité in Berlin wegen einer akuten myeloischen Leukämie eine hämatopoetische Stammzellspende und wurde darüber auch von seiner HIV-Infektion geheilt – zumindest legen das die präsentierten Daten nahe.

Der erste „Berliner Patient“, Timothy Brown, wurde bereits 11 Jahre lang wegen seiner HIV-Infektion mit einer hochaktiven antiretroviralen Therapie (HAART) behandelt, als er 2006 zusätzlich an einer akuten myeloischen Leukämie (AML) erkrankte. Nach einer erfolglosen Chemotherapie konnte ihn nur noch eine hämatopoetische Stammzelltransplantation retten. Die behandelnden Ärzte suchten daraufhin nicht nur nach einem gewebeverträglichen Spender, er oder sie sollte gleichzeitig auch noch homozygoter Träger der Deletion CCR5-delta32 sein. Was war die Überlegung dahinter? 

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HIV, CCR5 und die Hoffnung auf Heilung

HI-Viren benötigen neben dem Oberflächenmolekül CD4 noch einen Co-Rezeptor, um die Wirtszelle zu infizieren. Am häufigsten werden dafür die beiden Chemokin-Rezeptoren CCR5 (C-C-Motiv-Chemokin-Rezeptor 5) und CXCR4 (CXC-Motiv-Chemokin-Rezeptor 4) verwendet. Entsprechend der jeweiligen Co-Rezeptor-Präferenz wird zwischen den sogenannten R5- und X4-HIV-Typen unterschieden, wobei R5-Viren etwas häufiger auftreten. In der europäischen Bevölkerung findet sich bei ca. 16% eine Deletion von 32 Basenpaaren innerhalb des CCR5-Gens. Durch diese Deletion wird der Chemokin-Rezeptor nicht mehr auf den T-Zellen exprimiert mit der Konsequenz, dass homozygote Träger der Mutation gegen eine Infektion mit R5-HI-Viren resistent sind. Bei Timothy Brown ging der Plan mit dem homozygoten CCR5-delta32-Spender auf: Nach der Stammzelltransplantation setzte er die HAART ab und lebte zwölf Jahre ohne jegliche HI-Viren. Er verstarb 2020 an einem Rezidiv der akuten myeloischen Leukämie.

Der zweite Berliner Patient

Mittlerweile gelten weltweit fünf weitere Menschen als von ihrer HIV-Infektion geheilt, die ebenfalls eine Stammzelltransplantation erhalten hatten. Auf der Welt-AIDS-Konferenz in München wurde nun wieder vom Ärzteteam der Charité ein weiterer Patient vorgestellt, der im Gegensatz zu Timothy Brown allerdings anonym bleiben will. Nachdem er im Alter von 45 Jahren als HIV-positiv diagnostiziert wurde, kam sechs Jahre später AML dazu, die ähnlich wie bei Timothy Brown nur noch mit einer Stammzelltransplantation zu therapieren war. Diesmal gelang es den Ärzten jedoch nicht, einen gewebeverträglichen Spender zu finden, der gleichzeitig homozygot für die CCR5-delta32-Mutation war. Stattdessen verwendeten sie Stammzellen, die zumindest ein mutiertes Allel trugen.

2015 wurde der Patient transplantiert und sollte weiterhin seine antiretrovirale Medikation beibehalten. 2018 setzte er jedoch gegen den Rat der Ärzte die Arzneimittel ab, und tatsächlich konnten bisher keine HI-Viren mehr bei ihm nachgewiesen werden. Damit gilt dieser Patient ebenfalls als geheilt.

HIV in Deutschland

Da eine HIV-Diagnose oft erst viele Jahre nach der Infektion mit dem HI-Virus gestellt wird, können die Neuinfektionen und die Zahl der Menschen in Deutschland, die mit einer HIV-Infektion leben, nur mit Modellrechnungen geschätzt werden: Nach den aktuellen Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) zum Verlauf der HIV-Epidemie wird die Zahl der HIV-Neuinfektionen für das Jahr 2022 auf 1900 und für 2023 auf 2200 geschätzt und liegt damit 2023 etwa auf dem Niveau von 2019 vor der COVID-19-Pandemie.

Auch dank hochwirksamer antiretroviraler Therapeutika führt eine HIV-Infektion in der Regel nicht mehr zum Tod. Immer mehr leben mit einer HIV-Infektion, bis Ende 2023 waren es ca. 96.700 Personen. 2023 erhielten ca. 99% eine antiretrovirale Therapie, erfolgreich sind die Therapien bei etwa 96%, so das RKI.

[HIV in Deutschland 2022 und 2023. Epidemiologisches Bulletin des Robert Koch-Instituts (RKI) 2024;28:3-20]

Natürlich ist es erstaunlich, dass es auch mit heterozygot mutierten Stammzellen gelungen ist, einen Patienten von seiner HIV-Infektion zu heilen. Es ist aber umso erstaunlicher, da der Patient selbst ebenfalls heterozygoter Träger der CCR5-delta32-Mutation ist. Die genetische Ausstattung bezüglich des CCR5-Co-Rezeptors hat sich durch die Stammzelltransplantation also überhaupt nicht verändert! Ist die Verfügbarkeit des CCR5-Co-Rezeptors womöglich gar nicht das entscheidende Kriterium bei einer Stammzelltransplantation? Auch die behandelnden Ärzte stehen vor einem Rätsel und suchen nach Erklärungsmöglichkeiten. 

Eine Erklärung wäre, dass die anderen Blutzellen im Transplantat, allen voran die natürlichen Killerzellen, besonders aktiv gegen infizierte Körperzellen und gegen HI-Viren vorgegangen sind. Bei dem Patienten hatte das Transplantat bereits nach weniger als 30 Tagen das alte Immunsystem komplett ersetzt – ein verhältnismäßig kurzer Zeitraum. Ganz sicher sind sich die Ärzte aber noch nicht, was ausschlaggebend für den Therapieerfolg war, und wollen unbedingt weiter nach den Ursachen suchen – schließlich könnte die Erkenntnis daraus auch einen neuen Therapieansatz für eine HIV-Infektion liefern.

Stammzelltransplantation homozygoter CCR5-Mutation ein Muss?

Wie wichtig der Co-Rezeptor beim Eindringen des Virus in die Wirtszelle ist, lässt sich daraus ableiten, dass mit Maraviroc (Celsentri®) ein CCR5-Ant­agonist als Entry-Inhibitor zur Therapie einer HIV-Infektion zugelassen ist. Beim ersten Berliner Patienten war der Ansatz, Stammzellen mit einer homozygoten CCR5-delta32-Mutation zu transplantieren, sehr logisch und auch erfolgreich. Anders verlief es bei den beiden sogenannten „Bostoner Patienten“. Beide waren HIV-positiv und CCR5-delta32-heterozygot. Wegen einer Leukämie erhielten die beiden Patienten 2008 bzw. 2010 Stamm­zellen, die jedoch homozygot für den Wildtyp-CCR5-Co-Rezeptor waren. Nach der Stammzelltransplantation war bei beiden Patienten unter antiretroviraler Therapie keine virale RNA mehr nachweisbar. Und auch nachdem die Medikation abgesetzt wurde, waren über ein paar Monate keine HI-Viren detektierbar, weshalb bereits vorsichtig von einer möglichen Heilung der beiden Patienten gesprochen wurde. 12 bzw. 32 Wochen nach Beendigung der antiretroviralen Therapie waren jedoch in beiden Patienten wieder Viren im Plasma nachzuweisen. Anscheinend „verstecken“ sich infizierte Zellen in tiefen Kompartimenten und schützen sich so vor der aggressiven Chemotherapie, die in Vorbereitung für die Stammzelltrans­plantation nötig ist.

Zum Weiterlesen

Nico Kraft: „Der ältere HIV-Patient in der Apotheke – Der richtige Umgang mit komplexen Interaktionen“ DAZ 2020, Nr. 34, S. 54

Jürgen K. Rockstroh und Kathrin van Bremen: „Älter werden mit HIV – Konsequente antiretrovirale Therapie verlängert die Lebenserwartung von Menschen mit HIV“ DAZ 2020, Nr. 34, S. 48

www.deutsche-apotheker-zeitung.de

Was mit den Bostoner Patienten bereits klar wurde: Eine Stammzelltransplantation heilt also nicht automatisch eine HIV-Infektion. In einer kürzlich veröffentlichten Kohorten-Analyse wurden die Daten von 30 Patienten aufgearbeitet, die in Europa und im Vereinigten Königreich zwischen 2009 und 2019 wegen verschiedener hämatopoetischer Erkrankungen eine Stammzelltransplantation erhalten hatten und im sogenannten IciStem-Programm registriert waren (www.icistem.org). IciStem ist ein Expertengremium aus Hämatologen, Virologen und Immunologen, das das Potenzial einer Stammzellspende für die Heilung einer HIV-Infektion erforscht.

Die verschiedenen Stammzellspender waren nicht bezüglich der CCR5-delta32-Mutation selektioniert, weshalb nur 9 der 30 Patienten Zellen erhielten, die homozygot für die Mutation waren; eine Stammzellspende war heterozygot. Allen anderen Patienten wurden Stammzellen mit der Wildtyp­ausstattung des CCR5-Co-Rezeptors transplantiert. Unabhängig davon, welche Stammzellen verwendet wurden, waren keine HI-Viren mehr in den Patienten nachweisbar, nachdem die neuen Zellen das alte Immunsystem ersetzt hatten. Auch die Untersuchung verschiedener Lymphgewebe, die als Reservoir infizierter Zellen dienen könnten, zeigte eine deutliche Reduktion der Viruslast durch die Stammzelltransplantation.

Drei Patienten, die Stammzellen mit Wildtyp-CCR5-Co-Rezeptoren erhalten hatten, setzten die antiretrovirale Therapie ab. Bei einem Patienten waren auch 18 Monate später keine Viren nachweisbar, bei den anderen beiden waren die Viren nach einem bzw. drei Monaten wieder detektierbar. Die meisten der transplantierten Patienten führten jedoch die antiretrovirale Therapie fort, so dass keine Aussage darüber möglich ist, ob sie auch von ihrer HIV-Infektion geheilt worden waren.

Ernüchternd war, dass 14 der 30 Patienten entweder an der hämatopoetischen Grunderkrankung oder am Prozedere der Stammzelltransplantation verstarben – zehn allein in den ersten vier Monaten. Diese Therapie ist nach wie vor kein Ansatz, um damit „einfach mal“ eine HIV-Infektion zu heilen. Spannend bleibt aber, welche Erkenntnisse aus den einzelnen Fällen – seien es erfolgreiche oder auch nicht erfolgreiche Heilungen – gewonnen werden können.

Literatur

A seventh case of HIV cure reported at AIDS 2024. World Health Organization Departmental Update 25. Juli 2024, www.who.int/news/item/25-07-2024-a-seventh-case-of-hiv-remission-reported-at-aids-2024

Gaebler C, Kor S, Allers K et al. The next Berlin patient: sustained HIV remission surpassing five years without antiretroviral therapy after heterozygous CCR5 WT/Δ32 allogeneic hematopoietic stem cell transplantation. 25th International AIDS Conference, Munich, Germany, 22. bis 26. Juli 2024, oral abstract

Lewin SR, Lau J. Reduction of HIV reservoir after stem cell transplantation. Lancet HIV 2024;11:e349-e350

Salgado M, Gálvez C, Nijhuis M et al. Dynamics of virological and immunological markers of HIV persistence after allogeneic haematopoietic stem-cell transplantation in the IciStem cohort: a prospective observational cohort study. Lancet HIV 2024;11:e389-e405


Dr. Ilse Zündorf, Institut für Pharmazeutische Biologie der Uni Frankfurt, DAZ-Autorin
redaktion@daz.online


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