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Gastkommentar zu den Landtagswahlen
Demokratie wählen
Am 1. September wird in Sachsen und Thüringen ein neuer Landtag gewählt. Der Geschäftsführer des Sächsischen Apothekerverbands, Enno Bernzen, weist in seinem Gastkommentar auf die besondere Situation in den beiden Bundesländern hin und ruft dazu auf, demokratisch zu wählen.
„Gehen Sie bitte wählen – jede Stimme zählt!“ So oder so ähnlich fordern Landtagspräsidentinnen ebenso zur Wahlteilnahme auf wie Bischöfe, Wirtschaftsvertreterinnen wie Künstler. Dieser höfliche Imperativ ist so richtig wie wichtig.
Das gilt bei den anstehenden Wahlen in Sachsen und Thüringen natürlich genau so, dennoch liegen die Dinge hier noch ein bisschen anders: Erstmalig besteht die akute Gefahr, dass einer „gesichert rechtsradikalen“ Partei, so stufen die zuständigen Verfassungsschutzämter die AfD ein, der Griff zur Macht gelingen könnte. Dieses Schreckensbild ist objektiv dramatisch. Und dennoch muss man feststellen, dass diese Erkenntnis leider noch nicht alle erreicht hat, insbesondere – wenn man den Sonntagsfragen Glauben schenken darf – größere Teile der Wahlberechtigten in den beiden Bundesländern. Anders lässt sich nicht erklären, dass die AfD zurzeit auf jeweils gut 30 Prozent taxiert wird.
In Sachsen wie Thüringen nehmen Teile der Bevölkerung in Kauf, mit ihrer Stimme Rechtsradikalen großen Einfluss auf die Zukunft ihres Bundeslandes zu geben. Die Stimmabgabe für eine antidemokratische Partei ist kein kurzfristiger „Denkzettel“ für die demokratischen Parteien, sondern die Entscheidung über die konkrete Politik in meiner Heimat für die nächsten fünf Jahre. Ich übertrage damit meine Verantwortung als Staatsbürgerin und Staatsbürger in einer demokratischen, freien, gleichen und geheimen Wahl auf Personen, die unveräußerliche Menschenrechte für verhandel- und abstufbar, die Vielfalt für Bedrohung und Meinungsaustausch für verzichtbar halten und für die Menschen mit Behinderungen an den Rand unserer Gesellschaft gehören. Autoritäre Strukturen sollen gestärkt und extremistische Strömungen gefördert werden.
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Ich bin seit 43 Jahren aktives Mitglied einer demokratischen Partei und davon überzeugt, dass deren politische Ideen überwiegend sinnvoll und gut sind. Niemals habe ich aber geglaubt, dass diese Partei in Besitz der Wahrheit ist oder in jedem einzelnen Fall Recht hat. Vielmehr ist es so, dass eine facettenreiche Diskussion mit den Sympathisanten und Mitgliedern der anderen demokratischen Parteien über eine Problemlage, die gemeinsame Suche nach dem besseren Weg zum Ziel, die Verständigung über die einzusetzenden Mittel, also der Kompromiss in der Sache, oft ein gutes und mehrheitsfähiges Ergebnis bringen kann. Nicht immer gefallen mir alle Details des Kompromisses, aber so funktioniert vernünftige und zukunftsfähige demokratische Politik.
Bundesländer mit außergewöhnlichem Charme
Zurück nach Sachsen und Thüringen: ich bin Hamburger, arbeite seit gut sieben Jahren in Sachsen und habe drei Jahre in Erfurt gelebt. Beide Bundesländer haben jeweils einen außergewöhnlichen Charme. Sie sind gesegnet mit einer besonderen Geschichte, die auch auf Gesamtdeutschland guten Einfluss genommen hat. Die „Heldenstadt Leipzig“, um nur ein Beispiel zu nennen, steht für den Beginn der Friedlichen Revolution 1989 wie keine andere Stadt in Deutschland. Und in beiden Freistaaten gibt es eine Vielzahl lebenswerter Orte und liebenswerter Menschen. Nicht nur aus diesem Grund ist es mir vollkommen unverständlich, dass gerade hier Radikalen der Weg geebnet werden könnte.
Es gibt eine große Anzahl von Veröffentlichungen und noch mehr Meinungen dazu, weshalb so viele Ostdeutsche dermaßen antidemokratisch wählen könnten oder auch schon gewählt haben. Grundsätzliche Demokratiedefizite werden ausgemacht und ein Mangel an gelebten Jahren in einer funktionierenden Demokratie. Soziologen erklären, dass die Erfolge populistischer Parteien in Ostdeutschland einerseits auf den kulturellen Prägungen durch die DDR basierten und andererseits auf den Enttäuschungen nach der Wende. Die sich nach 1989 entwickelnden Transformationen schafften Unsicherheit, weil etablierte Regeln weggebrochen seien und stabile, mehrheitsfähige Orientierungen nicht mehr vorhanden waren oder abgelehnt würden. Solidarisierungen gegen andere funktionierten dann häufig einfacher als Identifikation mit Neuem. An all diesen Diagnosen mag etwas Wahres sein, und sie sind dennoch keine Begründung (geschweige denn Entschuldigung) für das befürchtete Wahlverhalten, welches aber, und das muss ausdrücklich gesagt sein, glücklicherweise nicht die Mehrheitsmeinung in Sachsen und Thüringen widerspiegelt. Die vorgenannten soziologischen Erklärungsversuche decken sich auch nicht mit meinen persönlichen Erfahrungen.
Eigene demokratische Verantwortung
Die Wahlberechtigten in Sachsen und Thüringen haben eine eigene demokratische Verantwortung. Insbesondere diejenigen, die in einer Diktatur leben mussten, haben eine besondere Aufgabe: gerade sie können und müssen deutlich machen, dass Demokratie und deren Schutz und auch das Mitwirken hieran ein Wert an sich sind. Niemand ist überzeugender als der- oder diejenige, die Diktatur und dann glücklicherweise Demokratie am eigenen Leib, im eigenen Leben erlebt haben.
„Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“ ist der wahrscheinlich meistzitierte Satz von Rosa Luxemburg. Sie schrieb ihn 1918 (erstaunlicherweise) als Beschreibung von bzw. mahnenden Hinweis zu Sowjetrussland. Luxemburgs berühmter Satz kann als idealtypische Definition einer toleranten politischen Grundeinstellung gelten. Dieses Zitat ist auch in heutigen Zeiten bestens geeignet, den großen Rahmen der Politik festzulegen, egal ob für internationale, Landes- oder Kommunalpolitik. Im täglichen Leben sollte dies bedeuten, zur Kenntnis zu nehmen, dass andere Meinungen als meine möglich sind, sie gelten zu lassen (nicht zwingend sie zu teilen oder gar zu mögen) und diese abweichende Sicht auf die Dinge nicht nur zu ermöglichen, sondern auch zu schützen. Oder anders ausgedrückt: die Kernaussage des Zitats ist eine der wesentlichen Grundlagen jeder Demokratie – weltweit und genauso bei den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen.
Keine Ausreden!
„Wir Sachsen haben uns in der Friedlichen Revolution 1989 freie Wahlen erkämpft. Nutzen wir alle dieses Recht.“ Mit diesen klaren Worten beendet der Präsident des Sächsischen Landtags, Dr. Matthias Rößler, seinen aktuellen Wahlaufruf. Leider muss man ergänzen: „Wählen Sie eine demokratische Partei, die die Würde eines jeden Menschen verteidigt, die Pluralismus als Gewinn versteht, die im politischen Wettstreit nicht ausgrenzt, die Menschen integriert und die Umwelt schützen will. Wählen Sie eine Partei, die sich für eine demokratische, offene und vielfältige Gesellschaft einsetzt, die die soziale Marktwirtschaft fördert und dabei gleichzeitig die berechtigten Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer berücksichtigt. Wählen Sie eine Partei, die Europa als eine große, einmalige Chance und nicht als Bedrohung empfindet.“
Wählen Sie (meinetwegen) wild und bunt, aber wählen Sie demokratisch! Das sind Sie sich, Ihrem Gewissen, Ihren Familien und der Zukunft Sachsens und Thüringens schuldig! Keine Ausreden!
4 Kommentare
SAV Wahlempfehlung
von Apothekerin am 22.08.2024 um 14:11 Uhr
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SAV Wahlempfehlung
von Roland Mückschel am 22.08.2024 um 12:23 Uhr
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