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Arzneimittel und Therapie
Die Frühtherapie wird immer wichtiger
Das Haupthindernis für eine rechtzeitige adäquate Behandlung ist der hohe Preis der neuen Therapieformen: Eine Therapie mit Interferon beta oder Glatirameracetat kostet zwischen 30000 und 50000 DM pro Jahr und überschreitet damit das Budget der Neurologen und der Hausärzte, welche die meisten MS-Patienten betreuen, beträchtlich. Die Interessenvertretung der MS-Patienten, die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), fordert daher, die Behandlung der MS als Praxisbesonderheit anzuerkennen und aus dem Budget herauszunehmen.
Damit die neuen Erkenntnisse auch in die praktische Anwendung umgesetzt werden, wird die DMSG Empfehlungen zur MS-Therapie entwickeln und ein Konsensuspapier erstellen, das als Basis für eine rationale Therapie dienen kann. Vor allem muß geklärt werden, welche Patienten in welchem Krankheitsstadium welche Präparate allein oder in Kombination erhalten sollten. Die neuen Behandlungsrichtlinien sollen europaweit abgestimmt werden.
Möglichst frühzeitiger Therapiebeginn
Die äußerlich sichtbaren klinischen Zeichen einer Multiplen Sklerose spiegeln längst nicht das gesamte heterogene Krankheitsgeschehen wider. Neben den Myelinscheiden der Nervenzellen werden auch die Nervenfortsätze selbst, die Axone, zerstört. Dabei können im Rahmen des entzündlichen Prozesses unterschiedliche Mechanismen an der Zerstörung beteiligt sein.
Je früher eine Therapie in dieses Krankheitsgeschehen eingreift, desto effizienter kann es verlangsamt werden. Heute gilt eine klinisch und labormedizinisch gesicherte schubförmige MS im Anfangsstadium als Indikation für eine immunmodulatorische Therapie mit einem Beta-Interferon, wenn ein bis zwei Schübe pro Jahr auftreten.
Ob eine Therapie mit Beta-Interferon den Ausbruch der Erkrankung bereits bei den ersten Anzeichen einer MS, wie einer Optikusneuritis, verhindern kann, wird derzeit in zwei klinischen Studien untersucht. Die ersten Ergebnisse werden für Ende 1999 erwartet.
Wichtig ist es, bei den Patienten keine übertriebenen Hoffnungen zu wecken, denn auch die neuen Therapien können keine Wunder bewirken. Meistens ist nur eine Stabilisierung des Zustandes zu erreichen, auf eine Besserung ist kaum zu hoffen. Außerdem wirken die neuen Therapieformen vor allem im Anfangsstadium der Erkrankung, schwerbehinderten Patienten können sie nicht mehr helfen.
Aktuelle Therapieempfehlungen
Im akuten Schub werden hochdosierte Glucocorticoide eingesetzt, um die Entzündung zurückzudrängen und dadurch die Schubdauer zu verkürzen. Die längere Anwendung entzündungshemmender Mittel ist jedoch wegen der möglichen Nebenwirkungen und der fraglichen Wirksamkeit nicht angezeigt.
Verschiedene Behandlungsmethoden zielen darauf ab, Schübe zu vermindern und weitere neurologische Defizite zu verhindern. Dazu dienen vor allem Substanzen, die auf das Immunsystem wirken. Zur immunmodulatorischen Behandlung der MS wird eine Stufentherapie empfohlen:
- Beta-Interferone gelten wegen der guten Studiendaten als Mittel der ersten Wahl zur Schubprophylaxe. Über die optimale Dosierung wird noch diskutiert.
- Als Alternativen eignen sich Glatirameracetat, für das derzeit weniger Daten als für die Beta-Interferone vorliegen, oder auch Azathioprin, wenn eine orale Applikation ausdrücklich gewünscht wird.
- Im weiteren Krankheitsverlauf, wenn Beta-Interferone, Glatirameracetat oder Azathioprin nicht mehr ausreichend gut wirken, können intravenöse Immunglobuline, Mitoxantron oder Cyclophosphamid eingesetzt werden.
Wegen des heterogenen Pathomechanismus werden in Zukunft wahrscheinlich Kombinationstherapien immer wichtiger werden. Beispielsweise kann Beta-Interferon mit Azathioprin kombiniert werden.
Neuroprotektion und Remyelinisierung
Nach einem akuten Schub können sich die Schäden am Nervensystem teilweise wieder zurückbilden. Dazu tragen verschiedene Faktoren bei:
- der Rückgang der Entzündung,
- die Wiederherstellung der Leitung in dauerhaft demyelinisierten Fasern durch die Bildung neuer Natriumkanäle in der Axonmembran,
- in den späteren Phasen der Erholung wahrscheinlich auch Remyelinisierung und
- gegebenenfalls eine plastische Reorganisation zentraler Bahnen.
Derzeit werden neue Strategien entwickelt, die auf einen Schutz und möglicherweise eine Regeneration der angegriffenen Nerven und ihrer Myelinscheiden abzielen. Zur Förderung der Remyelinisierung wird beispielsweise der Insulin-like growth factor, IGF, erforscht. Die Protektion von untergehenden Neuronen ist nicht nur bei der MS wichtig, sondern spielt auch bei der Behandlung der Alzheimer-Demenz und der Parkinson-Krankheit eine Rolle. Hierfür werden beispielsweise Substanzen entwickelt, die den Calciumeinstrom in die Nervenzelle hemmen können.
Blockade von Autoantigenen
Weitere Therapieansätze der Zukunft sind die Blockade von Adhäsionsmolekülen und Autoantigenen, die maßgeblich am Krankheitsprozeß beteiligt sind, durch monoklonale Antikörper. Monoklonale Antikörper oder Peptidliganden werden gegen zahlreiche Moleküle des Immunsystems entwickelt. Beispielsweise befindet sich der sogenannte altered peptide ligand MSE 771 der Firma Novartis, der sich gegen ein Autoantigen richtet, derzeit in Phase II der klinischen Prüfung zur Behandlung der schubförmigen MS.
Beta-Interferon bei progredientem Krankheitsverlauf
Bei der chronisch progredienten Form der MS treten kaum noch voneinander abgrenzbaren Schübe auf, und die Erkrankung verschlimmert sich fortlaufend. Die meisten Patienten haben eine mehr oder weniger stark ausgeprägte meßbare Behinderung. Diese Form der MS galt bisher als kaum behandelbar. Die MS kann bereits von Beginn an, also primär, chronisch progredient verlaufen. Hiervon sind etwa 20% der Patienten betroffen. In der Mehrzahl der Fälle entwickelt sich eine progrediente Verlaufsform jedoch nach einem schubförmigen Beginn (sekundär) und gilt dann als weiter fortgeschrittenes Stadium der schubförmigen MS. Für diese Patienten wurden in den letzten Jahren verschiedene Therapieformen erprobt:
- Unter anderem werden monatlich diskontinuierlich Steroide zur Behandlung von Symptomen eingesetzt.
- Eine allgemeine Immunsuppression mit Cyclophosphamid, Methotrexat und Mitoxantron wird häufig durchgeführt, ist aber umstritten. Für Mitoxantron konnte in einer offenen klinischen Studie eine Wirkung nachgewiesen werden.
- Für Interferon beta-1b (Betaferon(r)) wurde in einer jetzt abgeschlossenen und veröffentlichten Studie eine positive Wirkung in progressiven Stadien der MS nachgewiesen. Die Studie wurde doppelblind, randomisiert und plazebokontrolliert in zwölf Ländern in Europa durchgeführt. Interferon beta-1b verzögerte bei Patienten mit sekundär progredienter MS das Fortschreiten der Behinderung und die Anzahl der Schübe. Auch die Zeit, bis die Patienten auf einen Rollstuhl angewiesen waren, verlängerte sich. Damit ist Interferon beta-1b das erste Arzneimittel, für das eine Wirkung bei der chronisch progredienten Verlaufsform in einer doppelblinden klinischen Studie eindeutig gezeigt werden konnte. Die Wirkung ist zwar nur mäßig, dafür aber hochsignifikant. Die Herstellerfirma Schering erwartet die Zulassung der Europäischen Kommission für den Einsatz von Betaferon(r) bei sekundär progredienter MS im ersten Quartal 1999.
Quellen
Prof. Dr. K. V. Toyka, Würzburg, Priv.-Doz. Dr. P. Rieckmann, Würzburg, Prof. Dr. R. Hohlfeld, München, Prof. Dr. D. Seidel, Isselburg, Dr. N. König, Kempfenhausen, Prof. Dr. C. Linington, München, Prof. Dr. H. Lassmann, Wien, Prof. Dr. W. I. McDonald, London, Prof. Dr. L. Kappos, Basel, Priv.-Doz. Dr. R. Gold, Würzburg, Prof. Dr. C. Polman, Amsterdam, Prof. Dr. M. Clanet, Toulouse, Prof. Dr. H. P. Hartung, Graz; 4. Internationales Symposium zur Multiplen Sklerose: Therapiekonzepte, München, 6. November 1998, veranstaltet von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG).
European Study Group on Interferon b-1b in Secondary Progressive MS: Placebo-controlled multicentre randomised trial of interferon b-1b in treatment of secondary progressive multiple sclerosis. Lancet 352, 1491-1497 (1998).
Dr. Bettina Hellwig, Stuttgart
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