Kongress

T. Müller-BohnPharmakoökonomie in Europa etabliert

Die dritte europäische Jahrestagung der International Society for Pharmacoeconomics and Outcomes Research (ISPOR) fand vom 5. bis 7. November in Antwerpen statt. Sie bot den über 500 Teilnehmern einen breiten Überblick über das vielschichtige Gebiet der Pharmakoökonomie und Lebensqualitätsforschung. Einer der Höhepunkte der Veranstaltung war der bemerkenswert kompetente Gastvortrag des belgischen Gesundheitsministers Dr. Frank Vandenbroucke. Dies war zugleich ein eindrucksdrucksvoller Beweis für die Wertschätzung, die das in Europa noch junge Fachgebiet zumindest in Teilen der Politik genießt. So ist die Pharmakoökonomie nun wohl auch in Europa in den umfangreichen Fächerkanon der wissenschaftlichen Disziplinen rund um das Arzneimittel aufgenommen.

Die dreitägige Veranstaltung umfasste acht Plenarvorträge, elf Foren zu pharmakoökonomischen Methoden, 18 Workshops, mehr als 30 mündliche Einzelpräsentationen und über 150 Posterpräsentationen. Inhaltlich reichte das Spektrum von Übersichtsvorträgen zur Bedeutung der Pharmakoökonomie für verschiedene nationale und internationale Organisationen über wissenschaftliche Diskussionen zur Anwendung pharmakoökonomischer Methoden im Detail bis zur Präsentation von Studienergebnissen aus allen Teilgebieten der Pharmakoökonomie und der health outcomes-orientierten Forschung. Aus diesem umfassenden Programm sollen einige besonders bedeutsame Vorträge vorgestellt werden. Daneben sollen einige exemplarisch heraus gegriffene Einzelthemen einen kleinen Eindruck von der inhaltlichen Breite des neuen pharmazeutischen Fachgebietes vermitteln.

Pharmakoökonomie auf dem Weg in die Praxis

Ziel dieser ISPOR-Konferenz war, den Weg der Pharmakoökonomie von den theoretischen Grundlagen hin zur praktischen Anwendung in der Realität zu unterstützen, wie Frank Peys, Co-Chairman der Konferenz und Direktor des belgischen Instituts für Gesundheitsökonomie, Brüssel, in seinen Begrüßungsworten erklärte. Dementsprechend beschäftigten sich viele Vorträge mit institutionellen Bedingungen für die Anwendung pharmakoökonomischer Studien.

ISPOR-Vizepräsident Jon Clouse, Minneapolis, möchte die Lücke zwischen Erstellung und Anwendung solcher Studien schließen. Denn gerade teure hochinnovative Arzneimittel erfordern gute Entscheidungsfindungsprozesse, die die Werkzeuge der Pharmakoökonomie und des Outcomes Research nutzen.

Die Sicht der WHO

Kees De Joncheere, Kopenhagen, in der WHO zuständig für den europäischen Arzneimittelmarkt, beklagte die große Heterogenität in Europa, zumal in der WHO alle ehemaligen Sowjetrepubliken - auch die asiatischen - zur Europaabteilung gehören. So ergeben sich enorme Unterschiede hinsichtlich der Gesundheitsausgaben und der Gesundheitsdaten. In vielen ehemaligen Sowjetrepubliken hat sich der Gesundheitszustand nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems verschlechtert.

In einigen dieser Staaten und in Albanien liegen die jährlichen Arzneimittelausgaben unter $ 10 pro Kopf, in Belgien, Deutschland, Frankreich, Island, Österreich und der Schweiz betragen sie dagegen über $ 300 pro Kopf. In den weniger entwickelten Staaten ist der Anteil der Arzneimittelausgaben an den gesamten Gesundheitsausgaben zumeist sehr hoch. Zudem müssen diese Zahlungen meist selbst getragen werden, da entsprechende Versicherungen nicht bestehen. Die in den meisten Ländern existierenden Mechanismen zur Preiskontrolle korrelieren nicht mit der Höhe der Arzneimittelausgaben.

Kürzlich hat die WHO die Effizienz von Gesundheitssystemen, d.h. das Verhältnis von Kosten und Ergebnis, in 25 Ländern untersucht, wobei Frankreich den ersten und Deutschland den letzten Platz einnahm. Diese Untersuchung habe zu zahlreichen Diskussionen geführt, doch sei sie weniger als Bewertung, sondern eher als Denkanstoß gemeint gewesen. Als Zukunftsziel strebt die WHO "Gesundheit für alle" an. Dazu gehört wesentlich der bezahlbare Zugang zu allen bedeutsamen Arzneimitteln. Gesundheitsmaßnahmen sollten sich stärker an den Outcomes, d.h. an den Ergebnissen orientieren, und sektorales Denken überwinden. Aus Sicht der WHO sei eine zu geringe Nutzung innovativer Therapien zu beklagen, während ältere schlecht wirksame Konzepte weiterhin angewendet würden. Außerdem gingen viele Neuentwicklungen an den Bedürfnissen weiter Bevölkerungskreise vorbei. So würden Lifestyle-Drugs entwickelt, während innovative Arzneimittel gegen tödliche Erkrankungen wie Malaria oder Tuberkulose fehlen.

Die EMEA braucht klare Regeln für Nutzen-Risiko-Einschätzung

Einen Überblick über die Arbeit der zentralen europäischen Zulassungsbehörde EMEA in London gab deren Bereichsleiter für Zulassung und Pharmakovigilanz, Dr. NoĎl Wathion. Er betonte den Unterschied zwischen der arzneimittelrechtlichen Zulassung und den davon unabhängigen nationalen Entscheidungen über die Preissetzung. Somit führt das zentrale Zulassungsverfahren nicht unbedingt zur zeitgleichen Markteinführung neuer Arzneimittel in den EU-Ländern. Für die Arbeit der EMEA sei das Fehlen einer einheitlichen rechtlich abgesicherten Grundlage für die Nutzen-Risiko-Bewertung hinderlich. Daher solle bereits in den nächsten Wochen ein Konzept für eine solche Bewertungsgrundlage vorgestellt werden. Diese werde auf den Ergebnissen der European Conference on Medical Products and Public Health beruhen, die am 11. und 12. April 2000 in Lissabon stattfand.

Die "vierte Hürde" für neue Arzneimittel

Bereits bei der Eröffnungsveranstaltung kam ein Begriff zur Sprache, der sich wie ein roter Faden durch viele Vorträge der Konferenz zog, the forth hurdle, die vierte Hürde. Mit dieser bildhaften Beschreibung sind Regelungen zur Erstattungsfähigkeit von Arzneimitteln gemeint. Die ersten drei Hürden sind Sicherheit, Wirksamkeit und Qualität, die im Zulassungsverfahren bei der EMEA oder den nationalen Behörden geprüft werden. Die vierte Hürde stellen klinische und ökonomische Effektivität dar. Gelegentlich werden noch affordability - etwa "Bezahlbarkeit" - als fünfte und appropriateness - Angemessenheit - als sechste Hürde genannt.

In Deutschland wird derzeit unter dem Stichwort Positivliste viel um mögliche Regelungen zur Erstattungsfähigkeit von Arzneimitteln gerungen. In vielen anderen Ländern sind solche Bestimmungen schon Realität. Doch sind die Instrumente dort zumeist weitaus differenzierter als eine Positivliste. Es geht dabei stets um eine Ergänzung des arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens durch eine Beurteilung der klinischen oder ökonomischen Effektivität. Dies berührt in keinem Fall die Verkehrsfähigkeit, wohl aber die Preisbildung und teilweise die Verordnungsfähigkeit zu Lasten des jeweiligen Krankenversicherungssystems. Doch unterscheiden sich sowohl die Wege und Kriterien zur Beurteilung als auch die formalen Konsequenzen der Verfahren in den einzelnen Ländern erheblich. Eine Übersicht vermittelt eine Studie des international tätigen pharmakoökonomischen Forschungsunternehmens Mapi Values. Die "klassischen" Länder, die schon seit längerer Zeit pharmakoökonomische Bewertungen in ihre Bestimmungen zur Erstattungsfähigkeit eingehen lassen, sind Australien und Kanada. In Europa existieren in Finnland, den Niederlanden und Großbritannien offizielle Institutionen, die pharmakoökonomische Daten nutzen. In den Niederlanden werden solche Daten nur für die Preisbildung neuer Arzneimittel herangezogen. Ähnliche Regelungen sollen demnächst in Italien und Portugal greifen. In Norwegen bestehen Regelungen für die Erstattungsfähigkeit und die Preisbildung. In Frankreich, Belgien und Spanien existieren nationale methodische Standards für pharmakoökonomische Analysen, doch fehlen klare Regelungen für formale Konsequenzen. Dies gilt auch für Deutschland, wo die "Hannover Guidelines" wissenschaftliche Anerkennung gefunden haben.

Therapieentscheidungen in Großbritannien

In Europa findet derzeit wohl die Regelung in Großbritannien die größte Aufmerksamkeit, was auf der ISPOR-Konferenz immer wieder deutlich wurde. Dort wurde 1999 mit dem National Institute of Clinical Effectiveness (NICE) eine eigenständige Behörde geschaffen, die Sicherheit und ökonomische Effektivität moderner Therapiekonzepte bewertet. Hierzu gehören neben Arzneimitteln auch nicht-medikamentöse Therapieverfahren. Das NICE arbeitet nach einem streng festgelegten Review-Verfahren, bei dem die Ergebnisse bewertet werden und auch die Arzneimittelhersteller Stellung nehmen können. Je nach Datenlage können von den Herstellern zusätzliche pharmakoökonomische Untersuchungen zur Bewertung gefordert werden.

Doch berührt die Bewertung prinzipiell nicht die Therapiefreiheit der Ärzte. In begründeten Einzelfällen sollen Abweichungen von den NICE-Empfehlungen möglich sein, allerdings dürfte dieser Spielraum gerade in einem staatlichen Gesundheitssystem begrenzt sein. Nähere Informationen über die Vorgehensweise und den Stand der laufenden Bewertungsverfahren sind auf der Internetseite www.nice.org.uk zu finden.

Neue Wege in Schweden

Neben den Konzepten für eine "vierte Hürde" in der Arzneimittelzulassung auf nationaler Ebene gibt es noch andere Möglichkeiten, pharmakoökonomische Evaluationen in Entscheidungen im Gesundheitswesen eingehen zu lassen. Dies beschrieb Ulf Persson, Lund, am Beispiel Schwedens. Dort wurde 1997 die Arzneimittelversorgung grundlegend reformiert. Das Zuzahlungsschema wurde verändert, sodass nun jährlich höchstens eine Zuzahlung von 4300 skr (etwa 500 Euro) zu leisten ist.

Bis 1997 wurde zentral festgelegt, welche Arzneimittel verordnungsfähig sind. Dann wurden regionale Kommissionen eingesetzt, die rationale Therapieempfehlungen aussprechen und Listen mit empfohlenen Arzneimitteln herausgeben. Dabei sind auch so bemerkenswerte Empfehlungen möglich, wie sie Persson als Beispiel aus der Provinz SkĆne vorstellte. Dort soll die Anwendung inhalativer Steroide bei Asthma verstärkt werden. Hier sind höhere Arzneimittelkosten ausdrücklich gewünscht, um die stationären Behandlungskosten zu senken. So wird versucht, die Perspektive des gesamten Gesundheitswesens zu berücksichtigen.

Die Ärzte sind nicht an die Empfehlungen gebunden, halten sich aber zu etwa 90% daran. Offenbar werden die Empfehlungen von vielen Ärzten durchaus als vorteilhafte Beratung bei der Therapieentscheidung angesehen. Möglicherweise liegt das in der regionalen Organisation begründet. Zudem sind die regionalen Kommissionen im Vergleich zu einer zentralen Institution schneller handlungsfähig. Sie versuchen in ihren Entscheidungen die pharmakoökonomischen Bewertungen der zentralen Institutionen zu berücksichtigen, doch liegen diese oft erst nach langer Zeit vor.

Objektivierte Individualentscheidung

Eine Möglichkeit, mit der therapierelevante Informationen und damit auch pharmakoökonomische Daten noch näher an die einzelnen Entscheidungsträger gebracht werden können, stellte der Krankenhausapotheker Dr. Robert Janknegt, Sittard, Niederlande, vor. Das System of objectified judgement analysis (SOJA) bietet eine Methode, um rationale Entscheidungen über Arzneiverordnungen zu unterstützen.

Das System erfasst EDV-gestützt die unterschiedlichsten medizinischen, pharmazeutischen und ökonomischen Daten und Expertenmeinungen über Arzneimittel. Für die Nutzung in verschiedenen Staaten und Gesundheitssystemen lassen sich die Preis- bzw. Kostendaten variieren. Jeder Nutzer kann seine eigenen Prioritäten über die Gewichtung der vielfältigen Entscheidungskriterien eingeben und gelangt so zu einer individuellen Therapieentscheidung, die die persönlichen Präferenzen optimal berücksichtigt. Das Ergebnis ist nachvollziehbar und entsteht nicht willkürlich aufgrund verborgener unbewusst angewendeter Kriterien. Es ist damit kein Expertenkonsens mit Allgemeingültigkeitsanspruch, sondern eine objektivierte, aber eben nicht unbedingt objektive Individualentscheidung.

Konzept des Ministers: Anreize statt Kostensenkung

Zweifellos ein Höhepunkt der Tagung war der Vortrag des belgischen Gesundheits- und Sozialministers Dr. Frank Vandenbroucke über Kostenreduzierung und Anreizsteuerung auf dem Arzneimittelmarkt. Eingebettet in eine wissenschaftlich fundierte Analyse ökonomischer Effekte stellte der Minister einige Konzepte der belgischen Gesundheitspolitik vor.

Er sieht Kostensenkungsmaßnahmen nicht als Ideallösung an. Selbstbeteiligungen senken die Kosten für das Versicherungs-system, haben aber nur einen geringeren Steuerungseffekt, da primär die Verordner über den Leistungsumfang entscheiden. Rationalisierungen bei Ineffizienzen des Gesundheitsmarktes sind für Vandenbroucke als alleinige Maßnahme eine zu einfache Idee. So gibt es für ihn Ineffizienzen, die das System tragen muss oder sogar tragen will. Denn viele Ineffizienzen beruhen auf dem Moral hazard-Phänomen. Dann verursacht mehr Solidarität größere Verluste. Oft ergeben sich Ineffizienzen aus Informationsasymmetrien. Sie durch umfangreiche Kostenkontrollmaßnahmen zu beseitigen, wäre teurer als die Ineffizienzen selbst. Eingriffe in dieses System seien zudem nur durch demokratisch legitimierte Institutionen zu verantworten. Dagegen erscheinen dem Minister Anreizmechanismen als erfolgversprechendere Maßnahmen, wenn auch nicht als alleinige Lösung. Er wünscht sich implizite Anreize für die Industrie, die zu einer Kontrolle der Arzneimittelausgaben führen. So wird beispielsweise das Arzneimittelbudget für 2001 gegenüber 2000 erhöht, aber die Industrie muss ihren Anteil an der Erhöhung zurück erstatten.

Umfassende Information entscheidet

Vandenbroucke begrüßte ausdrücklich pharmakoökonomische Studien, die er künftig in größerer Zahl erwartet. Doch können solche Informationen nur über gut eingeführte Arzneimittel gewonnen werden. Daher sollen in Belgien künftig innerhalb von 18 bis 36 Monaten nach Markteinführung Reevaluationen durchgeführt werden, um den ökonomischen Nutzen von Arzneimitteln zu belegen. Erst dann soll eine langfristige Entscheidung über die Erstattungsfähigkeit getroffen werden. Dies soll die Einführung "intelligenter" Innovationen mit zusätzlichem Nutzen, aber nicht pauschal alle Innovationen fördern. Außerdem sollen bei den nicht mehr patentgeschützten Arzneimitteln künftig die Preise besonders teurer Originalpräparate auf das Niveau der Generika abgesenkt werden.

Der Minister ging auch auf Wirtschaftlichkeitskontrollen ärztlicher Verordnungen ein, die zu einer Unterversorgung der Patienten führen könnten. Stattdessen möchte er Überprüfungen der Verordnungsqualität in einem peer-review-Verfahren im Sinne der evidence based medicine etablieren. Hierfür sei allerdings erst eine entsprechende Kultur aufzubauen. So bestünde auch die Chance, das komplizierte Konzept der Lebensqualität stärker zum Tragen zu bringen. Während die Kosten zumeist einfach zu ermitteln sind, fällt dies bei der multidimensionalen Lebensqualität erheblich schwerer. Die Antwort liegt für Vandenbroucke in der evidence based medicine und dem möglichst vollständigen Zugang aller Betroffenen zu den relevanten Informationen, die in Studien zu evaluieren sind.

Pharmakoökonomie im Detail

Besonders großes Interesse bei den Kongressteilnehmern fanden die Foren und Workshops, in denen einzelne pharmakoökonomische Methoden im Detail hinterfragt wurden. Hier konnten sie Erfahrungen mit der Gestaltung und Durchführung pharmakoökonomischer Studien austauschen. In einem Forum zum Thema Zahlungsbereitschaftsanalysen (willingness to pay-analyses) machte der Moderator W. Robert Simmons, Millburn, USA, deutlich, wie stark einzelne Instrumente pharmakoökonomischer Studien in einem weiteren wirtschaftswissenschaftlichen Kontext verwurzelt sind. So wurden Zahlungsbereitschaftsanalysen schon vor Jahrzehnten in der Umweltökonomie benutzt, als die Pharmakoökonomie noch keine nennenswerte Bedeutung hatte. Daher können Erfahrungen aus anderen ökonomischen Teildisziplinen heute die Pharmakoökonomie voranbringen. Dies ist zugleich als Argument für eine umfassende Auseinandersetzung mit den ökonomischen Hintergründen zu sehen.

Während des Forums zur Zahlungsbereitschaftsanalyse wurden verschiedene Probleme dieses Instruments deutlich. So werden die Ergebnisse erheblich durch die Einkommensverteilung der Probanden verzerrt. Hiergegen bietet sich an, nicht nach absoluten Zahlungsbeträgen, sondern nach Prozent des Einkommens zu fragen. Weitere Schwierigkeiten für die Auswertung ergeben sich bei besonders schwerwiegenden Erkrankungen, bei denen viele Befragte ihr gesamtes Vermögen für die Behandlung einsetzen würden.

Wenn die Auswertung dennoch gelingt, ergeben sich weitere Schwierigkeiten bei der Präsentation gegenüber den Adressaten, insbesondere Behörden. Hier werde das Instrument oft grundlegend missverstanden. So werde argumentiert, die Patienten sollten die Behandlung doch selbst zahlen, wenn die Analyse ihre Zahlungsbereitschaft gezeigt habe. Doch geht es stattdessen um die Bestimmung eines Wertes im Sinne der ökonomischen Theorie, aber nicht um einen Preis, der tatsächlich verlangt werden soll. Dies werde allerdings oft verwechselt. Insofern sind Zahlungsbereitschaftsanalysen als sehr problematisches Konzept einzuschätzen.

Umgang mit Unsicherheit

Ein weiteres typisches Beispiel für ein klassisches ökonomisches Problem, das nun auch in der Pharmakoökonomie große Bedeutung erlangt, ist der Umgang mit Unsicherheit. Hierbei gilt es, die Unsicherheit der Daten von der Unsicherheit über die Validität der eingesetzten Methoden zu unterscheiden. Daneben muss bei der statistischen Auswertung zwischen der Unsicherheit der eingehenden Daten und der Unsicherheit über das Eintreten eines bestimmten therapeutischen Ergebnisses unterschieden werden. Als Ergebnis statistischer Berechnungen entstehen häufig Aussagen über den Anteil der Patienten, der erfolgreich bzw. ökonomisch effektiv behandelt werden kann. Hier ließen sich wesentliche Vorteile erreichen, wenn die profitierenden Patienten vorab identifiziert werden könnten.

Lebensqualitätsforschung

Ein großes und wichtiges Teilgebiet der Outcomes-orientierten Forschung sind Studien zur Lebensqualität. In einem diesbezüglichen Forum begründete Bo Standaert, Brüssel, das wachsende Interesse an der Messung der Lebensqualität. Solche Studien sind Ausdruck einer stärker patientenorientierten Arbeitsweise im Gesundheitswesen, bei der patientenbezogene Ergebnisse an die Stelle klinischer Daten treten. Viele Arzneimittelinnovationen unterscheiden sich gerade hinsichtlich der Wirkungen auf die Lebensqualität von den bisherigen Therapiekonzepten, z. B. durch geringere unerwünschte Wirkungen. Daneben eignen sich die Ergebisse von Lebensqualitätsstudien als Wirksamkeitsparameter für Kosten-Effektivitäts-Analysen. Für die Pharmaindustrie bieten sie sich zudem besonders gut an, um Aussagen zum Nutzen für bestimmte Zielgruppen mit Daten abzusichern, d.h. sie können Marketingmaßnahmen unterstützen.

Doch werfen Lebensqualitätsstudien zahlreiche Fragen auf. Diese beginnen mit der Auswahl der objektiven und subjektiven Lebensqualitätsmaße und der Gestaltung der Fragebögen. Diese müssen in allen nationalen Übersetzungen validiert werden. Daneben stellt sich die Frage, inwieweit die Gesellschaft überhaupt für Verbesserungen der Lebensqualität zahlen sollte. Das Viagra®-Beispiel zeigt die Tragweite dieses Problems.

Weiterhin bleibt zu klären, wie die Ergebnisse zu präsentieren sind, insbesondere gegenüber Personengruppen und Behörden, bei denen das Konzept der Lebensqualitätsanalysen noch nicht im Detail bekannt ist. Daneben fehlen nach Einschätzung von Standaert klare Vorstellungen, welchen Wert eine bestimmte prozentuale Lebensqualitätsverbesserung haben mag. Hierfür sollten Beziehungen zu klinischen und ökonomischen Verbesserungen evaluiert werden.

Soweit in einzelnen Staaten bei der Neueinführung von Arzneimitteln pharmakoökonomische Untersuchungen gefordert werden - Stichwort "vierte Hürde" -, sollen zunehmend auch Daten zur Lebensqualität geliefert werden. Doch fehle es andererseits an präzisen Bestimmungen zur Gestaltung solcher Studien und zu den Bewertungskonzepten.

Standars für die Darstellung der Lebensqualität

Daher haben vier Organisationen auf internationaler Ebene versucht, Standards für die Gestaltung solcher Studien zu etablieren, wie Patrick Marquis, Lyon, berichtete. Inzwischen werde versucht, diese Bemühungen zusammenzuführen. Gemeinsame Gespräche mit der FDA hätten bereits stattgefunden und seien mit der EMEA geplant. Marquis warnte davor, die Lebensqualität mit Symptomen gleichzusetzen. Denn mit den Symptomen wird die zu behandelnde Krankheit beschrieben. Die Lebensqualität orientiert sich dagegen stärker an den Fähigkeiten des Patienten bei der Bewältigung des Alltags.

Als besonders problematisch für die Erfassung erweist sich die Vielschichtigkeit der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. So wurde in der Diskussion ein krasser Widerspruch zwischen Wissenschaft und Bewertungspraxis der Behörden kritisiert. Während die Wissenschaft nach immer wieder neuen Konzepten sucht, um die Lebensqualität mit ihren vielen Facetten möglichst differenziert darzustellen, würden die Behörden zumeist ein möglichst einzelnes, klar verständliches Lebensqualitätsmaß fordern. Die Referenten rieten angesichts dieses Problems zu einer frühzeitigen Kontaktaufnahme zu den Behörden. Schon bei der Gestaltung einer Studie sollte der Dialog gesucht und geklärt werden, welche Daten zu erheben seien.

Beispiel EQ-5D

Als Beispiel für ein in der Praxis genutztes Lebensqualitätsmaß stellten Dr. Wolfgang Greiner, Hannover, und Dr. Jan Busschbach, Rotterdam, den Lebensqualitätsfragebogen EQ-5D, früher als EuroQol bezeichnet, vor. Dieser besteht aus einer visuellen Analogskala für die subjektive Einschätzung der Lebensqualität und aus einfachen fünf Fragen zu verschiedenen Aspekten alltäglicher Handlungen. Busschbach betonte, dass die abgefragten Zustände aus einer gesellschaftlichen Perspektive bewertet werden. Im Gegensatz zu anderen Lebensqualitätsmaßen wird so nicht die subjektive Einschätzung des jeweils Betroffenen erfragt, der sich möglicherweise an eine beeinträchtigte Lebenqualität gewöhnt hat. Stattdessen wird der Zustand des Patienten mit den Maßstäben der Gesunden bewertet.

Pharmakoökonomie in der Anwendung

Aus der großen Zahl von Einzelpräsentationen soll exemplarisch eine Arbeit herausgegriffen werden, die einen Einblick in eine Facette des deutschen Gesundheitswesens erlaubt.

Klaus Hieke, Basel, erfasste die Kosteneinsparungen durch die Behandlung von Patienten mit kolorektalem Karzinom mit oral applizierbarem Capecitabin im Vergleich zur Behandlung mit parenteral verabreichten Zytostatika. In der internationalen Studie wurden die jeweiligen nationalen Usancen der Anwendung berücksichtigt. Dabei ergaben sich in Deutschland Kosten einer einzelnen Applikation in Höhe von 250 bis 500 Euro, in allen anderen Ländern aber nur von 25 bis 120 Euro. Denn in Deutschland wird das Zytostatikum nur im Rahmen einer stationären Aufnahme verabreicht, während die Patienten in allen anderen Ländern nur bei besonderen Komplikationen hospitalisiert werden. Aufgrund dessen ergibt sich für das orale Therapieregime in Deutschland eine weitaus größere Kostenersparnis als in den anderen Studienländern.

Dass Kostenbetrachtungen in pharmakoökonomischen Analysen sorgfältig hinterfragt werden müssen, zeigte auch eine Präsentation von Kurt Banz, Basel, über ökonomische Effekte der Varizella-Impfung in Deutschland. Eine allgemeine Impfempfehlung für die Gesamtbevölkerung würde demnach über 30 Jahre jährlich Kosten in Höhe von 30 Mio. DM verursachen. Dem stünden eingesparte direkte Behandlungskosten in Höhe von jährlich 21 Mio. DM gegenüber, sodass die Investition nur noch 9 Mio. DM jährlich betrüge. Werden auch die indirekten Kosten berücksichtigt, die die Kosten für die Abwesenheit am Arbeitsplatz - auch bei Eltern erkrankter Kinder - einschließen, ergibt sich dagegen eine Einsparung in der Größenordnung von etwa 100 Mio. DM.

Ausbildung in Pharmakoökonomie

Insgesamt hat die Konferenz deutlich gezeigt, welch ein großes Arbeitsgebiet die Pharmakoökonomie in Zukunft - auch für Pharmazeuten - bieten dürfte. Daher lag es nahe, sich auch mit Ausbildungsmöglichkeiten für künftige Pharmakoökonomen zu beschäftigen. In einem Workshop über die Gestaltung eines internationalen interdisziplinären Curriculums für die Ausbildung in Pharmakoökonomie berichtete Dr. Wallace Marsh, Fort Lauderdale, USA, über die diesbezüglichen Bemühungen einer amerikanischen ISPOR-Arbeitsgruppe. Dort wurden bereits die Eckdaten für einen Ausbildungskurs erarbeitet.

Für Europa plant Dr. Peter Davey, Dundee, Schottland, eine ähnliche Arbeitsgruppe einzurichten. Diese sollte möglichst aus Vertretern internationaler Organisationen bestehen, da nicht jedes einzelne europäische Land vertreten sein könne. Die Vielzahl der Gesundheitssysteme, die unterschiedliche Entwicklung der Pharmakoökonomie und die Sprachenvielfalt machten die Aufgabe in Europa erheblich schwieriger als in Amerika. So existieren bereits einzelne Angebote in verschiedenen Ländern, doch besteht hierfür offenbar kein gemeinsames Forum, das einen Überblick vermitteln könnte.

Zunächst sollten die Lehr- bzw. Lernmittel wie Bücher und andere Medien erfasst werden. Für die Ausbildung bietet sich auch ein Internet-gestützter Fernkurs an. Anstelle detaillierter Inhalte sollten beabsichtigte Ergebnisse zusammen gestellt werden. Daneben sei zu beachten, für welches Arbeitsgebiet ausgebildet werden soll, da beispielsweise Industrie, Hochschule und Krankenkassen unterschiedliche Anforderungen stellen.

Kastentext: Was ist die ISPOR?

Die International Society for Pharmacoeconomics and Outcomes Research (ISPOR) wurde 1995 gegründet und ist eine internationale Non-Profit-Organisation zur Förderung der Pharmakoökonomie und health outcomes-Forschung in Praxis und Wissenschaft. Ihre Mitglieder sind Ärzte, Apotheker, Ökonomen, Pflegekräfte und Forscher in Wissenschaft, Pharmaindustrie, staatlichen Institutionen, privatwirtschaftlichen Forschungsinstituten und bei Kostenträgern. Ziel der Gesellschaft ist es, die pharmakoökonomische und ergebnisorientierte Forschung in die Praxis zu übertragen und sicherzustellen, dass die knappen Ressourcen im Gesundheitswesen vernünftig, fair und effizient eingesetzt werden. Die ISPOR veranstaltet alljährlich eine Weltkonferenz. Die 4. Weltkonferenz im Dezember 1998 in Köln war zugleich die 1. Europakonferenz. Seitdem fand jedes Jahr eine eigenständige Europakonferenz statt, 1999 in Edinburgh, 2000 in Antwerpen. Die nächste Europakonferenz wird vom 11. bis 13. November 2001 in Cannes abgehalten.

Kommentar

Wer traut sich an die Pharmakoökonomie? Die Pharmakoökonomie wird in der künftigen Approbationsordnung im neuen Fach Klinische Pharmazie ausdrücklich erwähnt. Apotheker/-innen sollen sich also in Zukunft mit diesem Fach auseinandersetzen, das eine ernsthafte Wissenschaft ist und keine plumpe Kostenzählerei. Doch wer traut sich in Deutschland und Europa an die Pharmakoökonomie? - Einen guten Überblick bot die jüngste ISPOR-Europakonferenz. Im Vergleich zur Konferenz vor zwei Jahren in Köln fanden erstaunlich viele deutsche Teilnehmer den Weg nach Antwerpen. Die meisten Besucher kamen aus der Industrie. Offenbar ist die Botschaft zumindest bei den großen Weltkonzernen angekommen: Pharmakoökonomische Studien machen Arbeit und kosten Geld, bieten aber auch gute Profilierungsmöglichkeiten, um eigene Produkte ins rechte Licht zu rücken. Ebenso stark vertreten waren Angehörige der international tätigen privatwirtschaftlichen Forschungsinstitute für Pharmakoökonomie. Und die Universitäten? Etliche Ökonomen - auch aus Deutschland - stecken ihr Terrain in dem viel versprechenden neuen Fachgebiet ab. Dagegen gab es kaum Teilnehmer von pharmazeutischen Instituten aus Europa, erst recht nicht aus Deutschland. Insgesamt boten sich für die Produzenten pharmakoökonomischer Studien reichlich Gelegenheiten zum Erfahrungsaustausch über Gestaltung, Methoden und Präsentation solcher Arbeiten. Doch ein Dialog mit den Adressaten der Studien war leider nur selten möglich. Denn Vertreter von Krankenkassen und Behörden waren nicht gerade zahlreich erschienen, allenfalls aus den pharmakoökonomisch aktiven Ländern wie Benelux, Großbritannien und Skandinavien oder von internationalen Organisationen. - Vertreter von Berufsorganisationen der Offizin- oder Krankenhausapotheker? Weitgehend Fehlanzeige. - Und die "große" Politik? Ein Vortrag des belgischen Gesundheits- und Sozialministers ließ aufhorchen. Der Kern der Botschaft war nicht viel anders als in Deutschland. Auch Belgien will im Gesundheitswesen sparen. Doch der Ton macht die Musik. Und der hört sich ganz anders an, wenn die Botschaft in einen kompetenten Fachvortrag verpackt wird. Für deutsche Ohren ungewohnt: Ein Minister kennt die einschlägige Fachliteratur zu Pharmakoökonomie und evidence based medicine, ist sich der speziellen Probleme der Lebensqualitätsforschung bewusst und hält eine universitätstaugliche Vorlesung über das rechte Gleichgewicht zwischen Rationalisierung und ökonomischen Anreizen. Offenbar traut die Politik der Pharmakoökonomie als Wissenschaft schon etwas zu - zumindest in Belgien. Trauen Sie sich auch an die Pharmakoökonomie! Thomas Müller-Bohn

Die International Society for Pharmaeconomics and Outcomes Research (ISPOR) veranstaltete in Antwerpen ihre dritte europäische Jahrestagung. Dabei zeigte sich, dass sich die Pharmakoökonomie nicht nur in der Industrie und an Universitäten, sondern in einigen Staaten auch auf höchster politischer Ebene etabliert hat. Auch Apotheker sollten mitreden (können), wenn es um die Kosten-Nutzen-Berechnungen von Therapien geht. 

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