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Fortbildung
Pharmazeutisches Kolleg Sachsen: Kopfschmerzen und ihre Behandlung
Wie entsteht Schmerz?
Die Physiologie des Schmerzes erläuterte PD Dr. med. Beate Raßler, Universität Leipzig. Schmerzen können durch schwache Reize, Spontanaktivierung oder Gewebeschädigung entstehen. Mechanische und thermische Reize sowie Prostaglandine und Histamin, die bei Verletzung oder Entzündung freigesetzt werden, lösen die Schmerzempfindung aus, indem sie die Nozizeptoren (Schmerzrezeptoren, freie Nervenendigungen afferenter Neuronen) in Haut, Muskeln und Organen erregen.
Die Nozizeptoren können Neuropeptide (Substanz P, Calcitonin) freisetzen, die lokale Entzündungen verursachen können. Die schnellen afferenten A-delta-Fasern lösen den 1. Schmerz oder das Schmerzempfinden (im engeren Sinne) aus, das klar lokalisierbar ist und kognitive Funktion ("Flucht") hat.
Die langsameren C-Fasern vermitteln den 2. Schmerz oder das Schmerzgefühl, das dumpf, brennend und nicht klar lokalisierbar ist. Dieses löst Unlustgefühle sowie eventuell Übelkeit und Schweißausbruch aus und besitzt eine Schutzfunktion ("Heilung").
Wesentliche Stationen der Schmerzweiterleitung sind Cortex, Thalamus, Medulla oblongata sowie der Vorderseitenstrang des Rückenmarks. Die Schmerzleitung ist durch Aktivitätsänderung nozizeptiver Neuronen beeinflussbar; erregend wirken Glutamat, Aspartat, Substanz P und Neurokinin A; hemmend wirken GABA, Glycin, Monoamine (Serotonin, Dopamin, Noradrenalin) und endogene Opioide (Endorphine, Enkephaline).
Spannungskopfschmerz
Im Gegensatz zum akuten Schmerz hat der chronische Schmerz seine Warn- und Schutzfunktion verloren. Der Schmerz wird zum Mittelpunkt des Denkens und Verhaltens, verstärkt das psychopathologischen Krankheitsbild (Depression, Hoffnungslosigkeit, Angst, gestörte Funktionen) und besitzt einen selbstständigen Krankheitswert.
Apothekerin Gundula Fischäder vom Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle beschrieb die Krankheitsbilder Spannungs- und Cluster-Kopfschmerz und ging auf die möglichen Therapien ein. Dumpf, drückend, nicht pulsierend, Hut- oder Schraubstockgefühl – so wird der Spannungskopfschmerz empfunden. Er ist meist beidseitig lokalisiert, kann 30 Minuten bis zu 7 Tagen andauern und wird bei leichter körperlicher Arbeit nicht verstärkt.
Selten treten Begleitsymptome wie Übelkeit/Erbrechen auf, Lärm- und Lichtempfindlichkeit sind möglich. Frauen sind etwas häufiger als Männer betroffen. Bei Auftreten an über 15 Tagen im Monat wird er als chronisch eingestuft. Mögliche Ursachen sind Stress, Muskelverspannungen, schlecht belüftete Räume, Depressionen, Angst, Medikamentenmissbrauch, Funktionsstörungen des Kauapparates. Genaue Ursachen sind noch nicht bekannt.
Eine sichere Diagnosehilfe ist der Kopfschmerzkalender. Dieser sollte zum Informationsmaterial jeder Apotheke gehören.
Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft empfiehlt bei akutem Spannungskopfschmerz
- als Mittel der 1. Wahl: eine fixe Kombination aus ASS (250 mg), Paracetamol (200 mg) und Coffein (50 mg),
- als Mittel der 2. Wahl: die Monotherapie mit ASS (500–1000 mg), Paracetamol (500–1000 mg), Ibuprofen (400– 600 mg) oder Naproxen (200 mg).
Der Hinweis, die Schmerzmittel nicht länger als drei Tage hintereinander und an maximal zehn Tagen im Monat einzunehmen, ist wichtiger Bestandteil einer guten Beratung.
Chronische Spannungskopfschmerzen gehören nicht in die Selbstmedikation. Aufgrund der Gefahr des medikamenteninduzierten Kopfschmerzes ist die Therapie mit Analgetika abzulehnen. Mittel der 1. Wahl sind trizyklische Antidepressiva (insbesondere Amitriptylin und Amitriptylinoxid). Bei Erfolg wird die Therapie über 6 Monate fortgesetzt. Bei Nichtansprechen bzw. Unverträglichkeit kann auf Doxepin, Nortriptylin, Clomipramin, in Einzelfällen auf tetrazyklische Antidepressiva (Mianserin, Maprotilin) umgestellt werden.
Warum wirken Antidepressiva bei Spannungskopfschmerz? Sie besitzen eine eigene schmerzhemmende Wirkung, indem sie die Schmerzverarbeitung im Gehirn beeinflussen. Der Therapieeffekt tritt frühesten 14 Tage nach Behandlungsbeginn auf, die Nebenwirkungen dagegen sofort.
Bei der Therapie von Spannungskopfschmerzen in der Schwangerschaft und Stillzeit sowie im Kindesalter stehen nichtmedikamentöse Verfahren wie Entspannungstechniken, Akupunktur, Verhaltenstherapie im Vordergrund. Im medikamentösen Bereich ist Paracetamol in der Schwangerschaft und Stillzeit das Mittel der 1. Wahl.
Bei Kindern wird bei akuten Attacken Ibuprofen, Paracetamol und Flupirtin empfohlen. Auch Phytopharmaka haben sich bei leichten bis mittelschweren Kopfschmerzen vom Spannungstyp bewährt (z.B. Pfefferminzöl auf Schläfen und Stirn auftragen).
Cluster-Kopfschmerz
Bohrend, unerträglich stark, nur auf einer Seite lokalisiert, meist in der Augenregion beginnend, schneller Anstieg der Schmerzintensität, 15- bis 180-minütige Dauer – das sind die Kennzeichen des Cluster-Kopfschmerzes. Begleitsymptome können hängendes Augenlid oder Lidödem, Miosis, Rhinorrhö, Schwitzen im Bereich von Stirn und Gesicht, Bewegungsdrang sein. Männer sind häufiger betroffen als Frauen, die Prävalenz ist gering.
Zu den Auslösefaktoren zählen Alkohol, Histamin, Glyceroltrinitrat, Nicotin, Calciumantagonisten, Blendlicht. Im Vordergrund der Therapie steht das Meiden der Auslösefaktoren. Behandlungsmethoden sind die Inhalation von reinem Sauerstoff (7 l/min für 15 min) oder die subkutane Applikation von Sumatriptan (6 mg, max. 2 x tgl.).
Eine prophylaktische Therapie ist generell angezeigt, und zwar beim episodischen Cluster-Kopfschmerz in erster Reihe mit Verapamil (3 x 80 mg/Tag) und Ergotamintartrat (2 x 2 mg/Tag, max. 4 Wochen), gefolgt von Methysergid, den Corticosteroiden Prednison und Prednisolon (2 x 50 mg über 3 Tage, dann ausschleichen) und Lithium.
Die Prophylaxe des chronischen Cluster-Kopfschmerzes erfolgt vorzugsweise mit Verapamil und Lithium, gefolgt von den genannten Corticosteroiden. Wirkungslos sind Analgetika, Antidepressiva, Entspannungsverfahren, Akupunktur und Stressbewältigungstechniken. Die Ernährung hat keinen Einfluss.
Die Akuttherapie im Kindesalter (Cluster-Kopfschmerzen können ab dem 7. Lj. auftreten) entspricht der Therapie der Erwachsenen mit geringerer Dosis.
Homöopathika, die entsprechend dem homöopathischen Arzneimittelbild zur Kopfschmerzbehandlung eingesetzt werden, sind z.B.
- Belladonna D6 bei plötzlich auftretenden, klopfenden und hämmernden Schmerzen und heißem, hochrotem Gesicht und
- Gelsemium sempervirens D4 oder D6 bei Spannungskopfschmerz (bei Stress, Prüfungsangst), Erkältungskopfschmerz und bei migräneartigem Kopfschmerz.
Migräne ...
Mit einem deutlichen Ja zur Frage, ob der Apotheker der Ansprechpartner für den Migränepatienten ist, begann Prof. Dr. Karen Nieber, Universität Leipzig, ihre Ausführungen. Unter Migräne versteht man attackenweise auftretende und in gewissen Teilabständen wiederkehrende, meist pulsierende und pochende Kopfschmerzen. Sie sind im Allgemeinen einseitig, wechseln aber häufig die Seite.
Sie sind häufig von Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Licht-, Lärm- und Geruchsempfindlichkeit begleitet und können bis zu 72 Stunden andauern (bei 67% bis zu 24 h). Die Hälfte der Patienten erleben ein bis zwei Attacken im Monat, die andere Hälfte weniger als eine. Vorboten der Migräneattacken können leichter Kopfdruck, Müdigkeit, Heißhungerattacken, Verstopfung, psychische Veränderungen, Reizbarkeit oder depressive Stimmung sein. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
- Die einfache Migräne (Migräne ohne Aura) beginnt häufig in den Morgenstunden; die Kopfschmerzen nehmen bei körperlicher Arbeit zu.
- Bei der klassischen Migräne (Migräne mit Aura) kommt es vor der Attacke zu neurologischen Ausfällen (Aura) mit einer Dauer von 3 bis 30 Minuten.
- Bei der komplizierten Migräne treten vor und während der Attacke neurologische Ausfallerscheinungen auf, die oft länger als 24 Stunden dauern. Begünstigt wird diese seltene Migräneform bei Frauen durch Rauchen, Übergewicht und hormonelle Kontrazeptiva.
Die Migräne ist eine genetisch determinierte, organische Erkrankung des ZNS. Sie ist nicht heilbar, aber behandelbar. Faktoren, die einen Anfall auslösen können, sind langer Schlaf, Wetter, Hunger, Genuss von Alkohol, Käse, Schokolade, Stress, Lichtreize, Eisprung, Medikamente. Allgemeine Verhaltensmaßnahmen bei der akuten Attacke sind Ruhe, Dunkelheit, Eisbeutel.
... und ihre Therapie
Die medikamentöse Akutbehandlung der leichten Migräne besteht aus der Kombination eines Antiemetikums wie Metoclopramid (20 mg oral oder rektal) oder Domperidon (10–20 mg oral) und eines Analgetikums, wobei sich ASS (1000 mg oral), Paracetamol (500–1000 mg rektal) und Ibuprofen (400 mg oral) bewährt haben.
In der Therapie starker Migräneschmerzen sind die Triptane unverzichtbarer Standard, die Ergotamine nur noch Mittel der 2. Wahl. Triptane wirken auch gegen Übelkeit und Erbrechen und können jederzeit während der Attacke eingenommen werden. Die einzelnen Triptane unterscheiden sich in ihrer Darreichungsform, Pharmakokinetik, Ansprechbarkeit und in der Rückfallquote.
Rizatriptan z. B. wirkt sehr schnell, Elitriptan lang anhaltend. Die Verträglichkeit ist im Allgemeinem gut, häufige Nebenwirkungen sind Schwindel, Schläfrigkeit, Schwäche und Übelkeit. Selten werden Bauch- und Brustschmerzen, Blutdruckschwankungen, Nackenschmerzen und Hitzegefühl mit Hautrötungen beschrieben.
Triptane dürfen nicht prophylaktisch angewendet werden. Bei einer Attacke soll die Tablette unzerkaut mit viel Flüssigkeit eingenommen werden. Ist die erste Anwendung nicht wirksam, hat es keinen Sinn, nochmals das Triptan zu nehmen. Bei unzureichender Wirkung der festgelegten monatlichen Höchstdosis muss der Arzt aufgesucht werden.
Ergotaminhaltige Präparate sind sowohl in der Routinebehandlung von akuten Migräneattacken als auch in der Notfallmedizin aufgrund ihrer kardialen (Vasokonstriktion, Herzinfarkt) und zentralnervösen Nebenwirkungen (Ergotamin-induzierter Kopfschmerz) umstritten. Trotzdem sind sie laut Empfehlungen der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft immer noch bei mittelschweren Attacken eine Alternative zu oralen Triptanen, wenn einfache Analgetika nicht ausreichend wirksam sind.
Zur Migräneprophylaxe sind
- Mittel der 1. Wahl: Metoprolol, Propranolol und Flunarizin,
- Mittel der 2. Wahl: Valproinsäure und ASS,
- Mittel der 3. Wahl: Pizotifen, Lisurid, Cyclandelat, Naproxen, Methysergid. Magnesium und Amitriptylin sind sehr umstritten.
Grundsätzlich kann der Behandlungserfolg der Prophylaxe frühestens nach 2 bis 3 Monaten beurteilt werden, die Dosierung sollte einschleichend erfolgen und die Behandlung ein Jahr dauern. Bei Kindern und in der Schwangerschaft sind prophylaktisch nur die Betablocker Propranolol und Metoprolol einzusetzen.
In der Akutbehandlung stehen für Kinder Paracetamol als Zäpfchen und Ibuprofen als Tablette zur Verfügung, ab dem 12. Lebensjahr sind auch Triptane möglich. Wegen schwerer Nebenwirkungen dürfen Domperidon und Metoclopramid erst ab dem 12. bzw. 14. Lebensjahr angewendet werden. Für Schwangere sind fast alle Akutmedikamente kontraindiziert, nur Paracetamol und eventuell ASS (nur im dritten bis sechsten Schwangerschaftsmonat!) sind erlaubt.
ASS – ein Jahrhundertmedikament
Einen pharmaziegeschichtlich geprägten Vortrag hielt Prof. Dr. Kurt Eger, Universität Leipzig, über ASS. Auf der Suche nach einheimischen Ersatzmitteln für die Chinarinde (damals wichtigstes Antipyretikum) isolierte Johann Andreas Buchner 1828 das Glykosid Salicin aus der Weidenrinde. Salicin wird im Darm durch Bakterien hydrolytisch in Glucose und Saligenin (Salicylalkohol) gespalten, und dieses oxidiert in Blut und Leber zu Salicylsäure.
Die breite Anwendung der Salicylsäure und ihrer Derivate wurde möglich, nachdem Hermann Kolbe 1859 eine brauchbare Synthese erarbeitet hatte, die von Rudolf Schmitt verbessert wurde (Kolbe-Schmittsche Synthese). Da die Salicylsäure nach oraler Applikation die Magenschleimhaut stark reizt, probierte man besser verträgliche Salicylsäurederivate aus. Felix Hoffmann wandte 1898 mit Erfolg die Acetylsalicylsäure an – der Grundstein eines Jahrhundertpräparates war gelegt.
Die ursprünglichen Indikationsgebiete für ASS (Schmerz/Entzündung) haben sich seither erweitert, und ein Ende der Entwicklung ist nicht abzusehen; zählt ASS heute zu den First-line-Therapeutika in der primären und sekundären Infarktprophylaxe, wird sie morgen vielleicht als NO-ASS besser magenverträglich sein (in klinischer Prüfung) oder in den zurzeit häufig postulierten Indikationen Darmkrebs, Leukämie und Alzheimer Anwendung finden. Der altbekannte Naturstoff ist ein Hoffnungsträger der Zukunft.
Kopfschmerz-Literaturtipp
Lehrbuch der Schmerztherapie. Grundlagen, Theorie und Praxis für Aus- und Weiterbildung. Von Michael Zenz (Hrsg.) und Ilmar Jurna (Hrsg.). 970 Seiten, 324 Abbildungen, 249 Tabellen. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH 2001. Euro 75,70 ISBN 3-8047-1805-1
Wissen, wie es weh tut! Handeln, wenn es weh tut! Verhindern, dass es weiter weh tut! Der "Zenz/Jurna" hält die Antworten auf die häufigsten Fragen in der Schmerztherapie bereit. Zum Beispiel: Welcher Schmerz macht welche Symptome? Wie wirken Analgetika? Und in Kombination? Wann wird Schmerz chronisch?
Klare Worte machen das Lernen schmerzfrei und lassen das Wissen "chronifizieren". Ein Leitfaden zur Vertiefung für jeden Arzt, Apotheker und Psychologen in Klinik und Praxis. Ein Lehrbuch für Studenten, die sich der Schmerztherapie in fundierter Weise nähern wollen.
Kopfschmerz-Literaturtipp
Nie mehr Migräne. Wie Frauen sich befreien können. Von Angela von Büdingen. 128 Seiten, S. Hirzel Verlag 2002. Euro 14,80 ISBN 3-7776-1124-7
Es ist statistisch nachgewiesen, dass etwa doppelt so viele Frauen wie Männer sich mit Migräne quälen. In der Altersspanne zwischen 35 und 45 Jahren leiden sogar 3- bis 4-mal mehr Frauen als Männer unter Migräne. Deswegen ist die Migräne zwar noch keine Frauenkrankheit. Doch es lohnt sich, die Erkrankung unter frauenspezifischen Aspekten zu beleuchten, zumal sich aus diesem Ansatz heraus neue Therapieoptionen eröffnen.
Der Ratgeber geht auf Krankheitsbild und Ursachen der Migräne ein, wobei die Autorin immer wieder typische Probleme der weiblichen Sozialisation und der weiblichen Rolle in der Gesellschaft im Zusammenhang mit der Erkrankung aufgreift.
1 Kommentar
Schlafgebundene Kopfschmerzen
von Brigitte Weidner am 07.10.2019 um 9:41 Uhr
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