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Risiken der Konsumgesellschaft (Außenansicht)
Wie immer bei solchen Ereignissen beruhigten die Politiker mit abwiegelnden Erklärungen, versprachen Abhilfe in Form von strengeren Kontrollen und höheren Strafen und versicherten, dass Verstöße gegen das Lebensmittelrecht mit aller Konsequenz und Härte des Gesetzes geahndet werden. Passiert ist wenig bis nichts. Nach wie vor werden Verstöße gegen das Lebensmittelrecht als eine Art Bagatelldelikt behandelt.
In der guten alten Zeit rührten Missstände bei Nahrungsmitteln vor allem aus Verarbeitungsproblemen her, aus Unsauberkeit bei Herstellung und Verpackung oder dem Gebrauch akut toxischer Substanzen als Zusatz. Heute liegt das Problem vor allem darin, dass möglichst viele möglichst alles möglichst billig haben wollen, und so werden eben immer wieder Waren mit verbotenen Zutaten versetzt oder vorsätzlich falsch benannt: Frostschutzmittel in Wein (Österreich 1985), Methylalkohol in Rotwein (Italien 1986), Hormone für die Kälbermast (Deutschland 1988), BSE (erster dokumentierter deutscher Fall 1990), Pestizide in Babynahrung (Deutschland 1994), Dioxin in Milch (Süddeutschland 1998), verunreinigte Kohlensäure (Belgien 1998), Schweinemastskandal (Deutschland 2000/2001), um nur einige Lebensmittelskandale zu nennen. Ein besonders trauriges Beispiel ist die spanische Speiseöl-Katastrophe in den 80er Jahren, bei der industrielles Rapsöl als Olivenöl verkauft wurde und Tausende zu Krüppeln gemacht und viele getötet hat.
Betrachtet man die letzten 25 Jahre, so kann festgestellt werden, dass jedes Jahr in Europa ein bis zwei größere Lebensmittelskandale passieren. In all diesen Beispielen geht es aber nicht etwa um unlösbare Probleme der Lebensmittelchemie, sondern um kriminelle Handlungen, zu denen einige fähig sind, weil ihnen die Gesellschaft den Betrug und das Verbrechen nicht schwer macht.
Es ist richtig, dass der Bürger heute von allen Seiten – von der Wirtschaft wie der Politik wie den Medien – betrogen und belogen wird, aber ebenso richtig ist es, dass er selbst maßlos geworden ist. Viele Missstände, die wir beklagen und die für uns zu Gefahren werden können, hat unsere Maßlosigkeit erst möglich gemacht. Bei jedem neuen Öl-, Wein- und Fleischskandal werden die chemischen Nahrungsmittelzusätze, die falschen Inhaltsangaben und die Massentierhaltung beklagt. Aber Massenangebot ohne massenhafte Nachfrage gibt es nicht.
Früher kam in den bürgerlichen Familien Fleisch nur am Sonntag auf den Tisch, und ein Huhn gab es vielleicht an einem Festtag. Heute gehören Hühnergerichte auf der Speisekarte zu den Billiggerichten, und Fleisch kann sich fast jeder jeden Tag leisten. Aber wer fragt sich schon, woher eigentlich das Fleisch für die Milliarden Hamburger der Fastfood-Restaurants, die Döner-Spieße und die Millionen Hühner für die Grillketten kommt? Anscheinend niemand, denn alle sind erstaunt, wenn sie von Massentierhaltung, Gammelfleisch und nicht-artgerechter Tierfütterung hören.
Früher war man darauf eingestellt, dass Kalbs- und Rindfleisch etwas Besonderes und eine Beerenauslese etwas Seltenes ist. Dann wollten alle alles essen und trinken und alle bekamen alles. Nur schien sich niemand zu fragen, wie das eigentlich alles zu Spottpreisen möglich ist. Aber alle staunten, als sie von Hormonen im Fleisch, von Glykol im Wein und vom Rinderwahn hörten.
Oder betrachten wir im Zusammenhang mit unserer zunehmenden Mobilität den Flugverkehr. Einst Privileg einer Elite, wurde das Flugzeug zum Transportmittel der Massen. Alle wollen fliegen, möglichst weit weg und für möglichst wenig Geld. Aber alle sind erstaunt, wenn Flugzeuge aus Treibstoffmangel, wegen nicht-enteister Tragflächen, unsachgemäßer Wartung oder aufgrund "menschlichen Versagens" abstürzen.
An alledem wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Vielmehr ist zu befürchten, dass in einem zu schnellen Wettlauf um das Konsum-, Freizeit- und Touristikgeschäft Menschen und Materialien zunehmend überlastet werden. Also werden auch weiter Flugzeuge und Seilbahnen wegen Materialermüdung abstürzen, Fähren wegen Überladung untergehen, Passagiere wegen fehlender Rettungsbote ertrinken, Autobusse wegen übermüdeter Fahrer verunglücken und Expresszüge wegen mangelhaft gewarteter Räder entgleisen. Die Sicherheit bleibt gegenüber dem Profit auf der Strecke.
Was wir als Gesellschaft tun sollten, aber nicht tun, sollten wir wenigstens als Individuen versuchen: Nämlich ständig abwägen und uns fragen, welche Risiken wir für welche Chancen einzugehen bereit sind. Dabei haben wir nicht immer die Wahl zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen dem Sicheren und Gefährlichen, Nützlichen und Verschwenderischen, sondern nur zwischen Möglichkeiten, die sowohl Vorzüge als auch Nachteile aufweisen.
Klaus Heilmann
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